Zwölfte Lektion

Das sechste, was die Anfänger lernen müssen, ist die Unbescheidenheit


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An dieser Stelle meiner Ausführungen habe ich meinen Vorgesetzten (Siehe Nr. 5) einen verspäteten Dank abzustatten. Sie haben mich zur Unbescheidenheit erzogen. Dieses Erziehungsziel lag keineswegs in ihrer Absicht, denn sie sollten aus mir einen demütigen Priester machen. Jedoch: Die Adelsbriefe, die sie zu verteilen hatten, enthielten eine Menge Kleingedrucktes, voll der allerhöchsten Ansprüche. Die unablässige Demutspredigt der Vorgesetzten sollte die Inanspruchnahme der kühnsten Adelsgarantien verhindern oder wenigstens. abschwächen.
Daß aus dem Christentum mittlerweile eine eher traurige Angelegenheit geworden ist, darf u. a. der jahrhundertelangen Demutspredigt der Vorgesetzten zugeschrieben werden; im Verein mit Opfertheologen, Glaubenswächtern und Polizeiministern ist es ihnen gelungen, aus dem höchst unbescheidenen Jesusglauben eine lammfromme Untertanenreligion zu machen.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist den Christenmenschen ein Hang zur Unbescheidenheit geblieben. Mystiker und Ketzer haben ihn kultiviert - ebenfalls jahrhundertelang. Beispielsweise ein gewisser James Nayler, ein Wanderprediger aus den Reihen der ersten Quäker in England.
Im Oktober 1656 ritt Nayler eines Nachmittags in die Stadt Bristol. Er saß auf einem Esel wie Jesus am Palmsonntag, und in seiner Begleitung befanden sich einige Männer und Frauen. Letztere riefen:
Heilig, heilig, heilig.
Die Demonstranten wurden sofort festgenommen und durchsucht. Bei Nayler fand man einige Briefe, in denen wurde er mit «Jesus Gottessohn» tituliert. Als man daraufhin Nayler fragte, ob er tatsächlich behaupte, der Gottessohn zu sein, gab er die Antwort:
Ich bin es, so wie jeder andere Mensch auch.
Nayler wurde öffentlich ausgepeitscht, in Bristol und in London. Man brannte ihm ein B in die Stirn (für «blasphemer» Gotteslästerer) und durchbohrte seine Zunge mit einem glühenden Eisen. Bald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis (1659) starb Nayler an den Folgen eines Raubüberfalles.
Das Verbrechen Naylers: Er hatte zu hoch von den Menschen gedacht. Seine Auffassung von Menschenwürde wurde von den Behörden als subversiv empfunden, mit vollem Recht. Gottessöhne und Gottestöchter geben ziemlich eigensinnige Untertanen ab.
Die frühen Quäker gelten als mystische Bewegung. Von ihnen und von anderen fast gleichzeitig auftretenden Ketzergruppen (ein Zeitgenosse hat 199 solcher Vereinigungen gezählt, allein in England um 1650) gingen starke Impulse politischer Art aus, in Richtung einer Demokratisierung der öffentlichen Angelegenheiten. Die englischen Separatisten haben, beeinflußt von wiedertäuferischem Gedankengut aus Deutschland und Holland, die Idee der demokratischen Selbstverwaltung zunächst in ihren eigenen Gemeinden ausprobiert, in scharfer Opposition zum damaligen Staatskirchentum, besonders in den Jahren zwischen 1640 und 1660. Das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat war ihnen ebenso wichtig wie das allgemeine Wahlrecht. Ihre kollektive Kraft zogen diese Mystiker aus der Aneignung der höchsten Instanz. Gott stand ihnen unmittelbar zur Verfügung, ohne Dazwischenkunft priesterlicher Zwischeninstanzen, in gleichberechtigter freier Rede der Gläubigen bei den Versammlungen, «im Geist», das heißt undogmatisch. Als Laien aus den unteren Bevölkerungsschichten haben diese Menschen öffentlich sprechen gelernt, zum Schrecken von Adel und Klerus.
In Cromwells Heer standen die Soldaten auf einem beachtlichen intellektuellen und politischen Niveau, im Stil der Bibel haben sie die zukünftige Verfassung ihres Landes erörtert, auf großen Zusammenkünften. Im Oktober 1647 debattierten radikaldemokratische Soldatenvertreter mit gemäßigten Offizieren mehrere Tage lang auf diese Weise, in Putney, und Cromwell hatte einige Mühe, die vorgetragenen Forderungen etwas abzuschwächen.
Rund 40 Jahre später, jenseits des Atlantiks, legte der Quäker William Penn die Regierungsgewalt «vollständig in die Hände des Volkes», in Pennsylvania.
Daß die Verfassung der USA dem Gedankengut englischer Mystiker verpflichtet ist, kann der einschlägigen gelehrten Forschung entnommen werden.
Weniger klar ist der mystische Feingehalt dieser geschichtlichen Kraft, deren Ursprünge sich bis ins ketzerische 14. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Im christlichen Untergrund des europäischen Mittelalters hat sich ein hohes Selbstwertgefühl langsam nach oben gearbeitet, das hatte ein feines Gespür für das Kleingedruckte im Christentum. Beispielsweise für den sechsten Vers im 82. Psalm, absichtsvoll zitiert vom Jesus des Johannesevangeliums:
Götter seid ihr, Söhne des Höchsten ihr alle.

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Während meiner fünf Jahre im Priesterseminar (1948-53) gab es täglich eine halbe Stunde «Betrachtung», frühmorgens vor dem Gottesdienst um 7 Uhr, in der Seminarkapelle. Wir saßen, 80 oder 90 junge Männer, schweigend in den Kirchenbänken und dachten nach. (Manche nickten dabei ein wenig ein.) Der «Stoff» für diese Betrachtungen wurde uns von einem älteren Priester gegeben, dem « Spiritual», jeweils am vorhergehenden Abend. In einem kurzen Vortrag schlug er uns einige «Punkte» vor, über die wir nachdenken (meditieren) sollten. Erstens, zweitens, drittens, viertens. Häufig handelte es sich um einen Text aus der Bibel; auch das Leben eines Heiligen konnte zum Betrachtungsstoff werden oder einige Überlegungen zur Bedeutung eines kirchlichen Festes.
An Sonntagen und hohen Feiertagen entfiel die Betrachtung. An ihrer Stelle gab es eine Predigt, die wurde meist vom Direktor («Regens») des Priesterseminars gehalten. Der Regens war ein vorzüglicher Redner, und der Inhalt seiner Ansprachen war intellektuell anspruchsvoll und faszinierend. Der Regens war ein Kenner der französischen Spiritualität des 17. Jahrhunderts, aus ihr schöpfte er viele seiner Gedanken. Wenn wir über ihn witzelten, dann ahmten wir seinen Tonfall nach, indem wir ständig wiederkehrende Redewendungen des Regens zitierten. Etwa:
Ein unbekannter französischer Mystiker hat gesagt .
Die wenigsten Seminaristen interessierten sich für die französische mystische Spiritualität des 17. Jahrhunderts. (Sie ist in Fachkreisen berühmt.) Die Seminaristen strebten den Beruf eines praktischen Seelsorgers an, die Mystik blieb ihnen ein spanisches Dorf, inklusive Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz. Einige von uns schwärmten eine Zeitlang für Bruno von Köln († 1101), den Gründer des Kartäuserordens.
Zum Zeichen unserer Weltverachtung verschafften wir uns Totenschädel aus einem niederösterreichischen Gebeinhaus als Zimmerschmuck und studierten die Lebensgeschichte des heiligen Bruno. (Der Kartäuserorden ist der strengste katholische Männerorden.)
Regens und Spiritual hatten gegen die Totenschädel nichts einzuwenden.
In meinen Totenschädel legte ich einen Zettel, auf welchen ich den folgenden Satz geschrieben hatte:
Das Eigentliche kommt doch erst.
Den Totenschädel besitze ich immer noch. Er befindet sich in einem Bücherregal in der obersten Reihe. Den Zettel habe ich irgendwann weggeworfen.
An den Feiertagen gab es eine zusätzliche Andachtsübung. Sie war freiwillig, wurde aber von den meisten Seminaristen absolviert. Im ersten Stock des Priesterseminars, in einem langen Gang, hingen 14 große Bilder. Sie stammten aus der Barockzeit und stellten die «Stationen» des Leidens Christi dar. Diese Stationen gingen wir entlang, jeder für sich, irgendwann am Nachmittag oder nach dem Abendgebet. Bei jeder Station blieb man stehen, kürzer oder länger, dachte über die Bedeutung der Bilder nach und betete still zum leidenden Jesus. Manche Seminaristen benutzten ein Gebetbuch, andere verzichteten darauf und verließen sich auf ihre Eingebungen. Zwischen 8 und 9 Uhr abends war dieser «Kreuzweg» am stärksten besucht. Vor jeder Station standen einige schweigende Gestalten. Die Beleuchtung war schwach, und durch das verschiedene Andachtstempo der einzelnen Betrachter gab es eine fortwährende stille Bewegung. Gegenüber der letzten Station befand sich die Eingangstür zur Wohnung des Regens. Wir nannten sie daher «die fünfzehnte Station».
Hier sind die 14 Kreuzwegstationen:
1. Jesus wird zum Tode verurteilt.
2. Jesus nimmt das schwere Kreuz auf seine Schultern.
3. Jesus fällt das erste Mal unter dem Kreuze.
4. Jesus begegnet seiner heiligsten Mutter.
5. Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen.
6. Veronika reicht Jesus das Schweißtuch.
7. Jesus fällt zum zweitenmal unter dem Kreuze.
8. Jesus begegnet den weinenden Frauen.
9. Jesus fällt zum drittenmal unter dem Kreuze.
10. Jesus wird seiner Kleider beraubt.
11. Jesus wird ans Kreuz genagelt.
12. Jesus stirbt am Kreuze.
13. Jesus wird vom Kreuze herabgenommen.
14. Jesus wird ins Grab gelegt.
Die Kreuzwegandacht ist die populärste und einfachste katholische Betrachtungsübung. Sie wurde von den Franziskanern verbreitet, im Gefolge der Kreuzzüge.
Heute befinden sich in jedem katholischen Gotteshaus die 14 Kreuzwegbilder, und in den volkstümlichen Gebetbüchern findet man fast immer eine Anleitung zur Betrachtung der Stationen.
Zum Beispiel:
Betrachte, wie Pilatus den unschuldigen Jesus, nach blutiger Geißelung und Krönung mit Dornen, verurteilt, und wie gelassen der Heiland dieses Todesurteil annimmt, damit du von dem Urteil des ewigen Todes befreit würdest.
Betrachte, wie Jesus das Kreuz, das deine vielen Sünden so schwer gemacht haben, auf seine Schultern nimmt.
Und so weiter.
Es ist bemerkenswert, wie in diesen beiden Betrachtungsanleitungen sich die Verstärkung des Schuldgefühls («deine vielen Sünden») mit einer Unbescheidenheitspredigt verschränkt. Die höchste Instanz, nämlich der unschuldig leid ende Gott, hat das Wohl des einzelnen Beters im Auge («damit du von dem Urteil des ewigen Todes befreit würdest»). Das Individuum, obzwar als schuldbeladenes, wird gleichzeitig unendlich aufgewertet, als Gegenstand der allerhöchsten Aufmerksamkeit und Fürsorge. Das Individuum darf von sich selbst denken:
Es gibt mich kein zweites Mal.
Diese Ahnung von der Unverwechselbarkeit des Subjekts mag in den frommen mittelalterlichen Massen zunächst nur dunkel vorhanden gewesen sein. Ohne sie wäre jedenfalls die Forderung nach dem aktiven Wahlrecht für jeden Landesbewohner nie in die Köpfe der Menschen gesprungen. Liebhaber des Zen-Buddhismus und anderer fernöstlicher Weisheitslehren werden gebeten, diesen Sachverhalt im Auge zu behalten, wenn sie die Mystik in exotischen Ländern suchen. Weder in Afrika noch in Asien ist, in vergleichbarer Breite, ein Ansatz zu dem zu finden, was schließlich Menschenwürde genannt wurde.
Auch während der Ferien bestand für die Seminaristen die Verpflichtung zur täglichen Betrachtungsübung. Ich absolvierte sie, wenn ich in Wien war, in der Wohnung meiner Mutter, nach dem Aufstehen am Morgen, vor dem Gang zur Messe. Die Geräumigkeit der Wohnung (zwei Zimmer, Kabinett, Küche) ermöglichte die mir erwünschte Ungestörtheit; ich meditierte im Kabinett, vor einem Schreibtisch, abwechselnd sitzend und kniend. Wenn meine Mutter, im Zuge ihrer morgendlichen und eiligen Verrichtungen, das eine oder andere Mal durch das Kabinett gehen mußte, zeigte ich mich irritiert. Es handelte sich hierbei um den in der mystischen Literatur immer wieder behandelten Gegensatz zwischen tätigem und beschaulichem Leben. Meine Mutter kam schließlich zu mir, um sich zu verabschieden. Sie mußte ins Büro. Etwas später machte ich mich zum Kirchgang fertig.
Von meinen damaligen Betrachtungsgegenständen sind mir die sogenannten «letzten Reden Jesu» im Johannesevangelium in der Erinnerung geblieben. Es handelt sich dabei um die Kapitel 13-17, eine Art letzter Unterweisung der Jünger am Abend vor der Hinrichtung Jesu. Die Vertraulichkeit und Wärme des Tons, die Zuversichtlichkeit des Inhalts, die Poesie der verwendeten Bilder und Vergleiche luden mich gewissermaßen als Gast zu diesem Liebesmahl. Ich versetzte mich in die Atmosphäre des Gemachs, in dem Jesus seinen Jüngern die Füße wusch und ihnen das Brot brach. Was der Heiland zu den Aposteln sagte, durfte ich auf mich beziehen:
Ihr seid meine Freunde.
Hierbei handelte es sich um eine Form der Heilandsmystik. Entstanden ist sie im europäischen Spätmittelalter, als Jesusminne und Gottesfreundschaft gebildeter Laien, Mönche und Nonnen. Das Neue an ihr, für die Eingeweihten geradezu überwältigend: Die Art und Weise des Brückenschlags zwischen Schöpfer und Geschöpf.
In der Heilandsfreundschaft ist nämlich die sublime Aura des göttlichen Partners vorausgesetzt. Als Gott, mit sämtlichen Attributen höchster Heiligkeit, neigt er sich der frommen Seele zu, menschlich vertraut und in egalitärer Weise. Die absolute Distanz des biblischen Gottes wandelt sich zur Nähe und Heimlichkeit, ohne Verlust des Gottesglanzes, zum Staunen des Betrachtenden, der sich vom Blick des Erlösers getroffen fühlt, höchstpersönlich. Mehr noch: Weil der Gott ein leidender, ein todgeweihter ist, ein spätgotischer Schmerzensmann und Ölbergjesus, geht von ihm eine Hilfsbedürftigkeit aus, eine Bitte um Mitleid und Beistand:
So konntet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?
Das selbstverständliche Echo, vernehmlich noch in der Matthäuspassion des Johann Sebastian Bach: Ich will bei meinem Jesus wachen.
Das macht: Der Gott bedarf des Menschen, und der ist als einzelner vorgestellt, fühlt sich persönlich angesprochen, seine liebevolle Antwort erleichtert dem Heiland die Todesangst.
In dieser Gefühlswelt habe ich mich mit Selbstverständlichkeit bewegt. Ihr pädagogischer Wert, bei allem Überschwang, lag in einer Stärkung der Ichkräfte. Sie enthielt, mir damals nicht bewußt, den Keim zur Revolte - wie die Lehren des Franz von Assisi den Sturm auf die Bastille.
Sobald nämlich der Seele eine Gottunmittelbarkeit zugestanden ist, noch dazu eine freundschaftliche und angstreduzierte, verliert die Gnadenvermittlung und Sakramentenverteilung der Priesterschaften ihre grundlegende Legitimation. Das Subjekt bedarf ihrer nicht mehr, jedenfalls nicht unbedingt und immer. Diese Einsicht, zunächst vereinzelt unter Mystikern und Ketzern auftretend, kam im Reformationszeitalter erstmals breit zum Vorschein, erlitt im Gegenzug der Behörden ihre Rückschläge und ist heute, freilich verdünnt, zur selbstverständlichen Haltung der Minderheit in den Industriebevölkerungen geworden. Der Preis, der für diese jahrhundertelange Befreiungsbewegung bezahlt wurde, ist der Verlust der schönen Aura des menschenfreundlichen Gottes in den Köpfen der Industriemenschen.
Un bon dieu citoyen - so hat ihn Heinrich Heine noch genannt, ironisch und zärtlich, mit der Hinzufügung: «Wahrlich, wenn Christus noch kein Gott wäre, so würde ich ihn dazu wählen, und viel lieber als einem aufgezwungenen absoluten Gotte würde ich ihm gehorchen, ihm, dem Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl.»
Für diese Wahl (nicht: Wiederwahl), als endlicher Demokratisierung des Himmelreichs, werden derzeit noch nicht einmal die Vorbereitungen getroffen, wie es scheint. Es herrscht die fröhliche Gottlosigkeit (siehe Nr. 49).
Sie hat, das habe ich hier zu gestehen, nach und nach auch mich erfaßt, in widersprüchlicher Weise. Als positiv empfinde ich die Befreiung von der Opfertheologie, der Geschlechtsangst und der Autoritätsgläubigkeit. Als negativ empfinde ich den Wärmeverlust, als spürbarer gewordene kapitalistische Kälte, unerwärmt durch die Gnadensonne des göttlichen Herzens.
Aber das göttliche (oder «ewige» Herz, wie Hölderlin es genannt hat) schlägt in der Menschenbrust immer fort, und es ist wichtig, auf diese Herztöne achten zu lernen. In den langen Sommerferien habe ich am Nachmittag gern einen weiteren Kirchenbesuch gemacht. Ich setzte mich dann in eine der leeren Bänke, überdachte noch einmal die Betrachtungsgegenstände der Morgenübung und überließ mich der stillen Gottesgegenwart. Auf diese Weise wuchsen meine antiken Geheimgefühle (siehe Nr. 6, 7, 13) mit der mittelalterlichen Heilandsmystik zusammen, während meiner Ausbildung zum Priester, zu einem für mich zentralen Jesusgefühl. Es hat im Laufe der Jahre gegen Kirchenenttäuschung und fröhliche Gottlosigkeit hartnäckig Widerstand geleistet, und deshalb komme ich immer wieder auf es zurück. Ihm meine ich die Tugend der Unbescheidenheit zu verdanken, diesen Hunger nach mehr als Brot allein, und ich frage mich beim Schreiben, wie ich ihn den Anfängern vermitteln kann.
Nach dem nachmittäglichen Kirchenbesuch führte ich unseren Hund spazieren. Es handelte sich um einen Dackel-Bastard, mit Namen Hexi.
Die Farbe des ewigen Lichtes, das in der Kirche vor dem Tabernakel brannte, war rot. Die Farbe des göttlichen Herzens ist ebenfalls rot. Rot ist für mich die Farbe des Lebens und der Unbescheidenheit.

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Das Folgende ist für jene ehrgeizigen Anfänger bestimmt, die von mir möglichst detaillierte Anweisungen für bestimmte Andachtsübungen erwarten, zum Zwecke des Erlernens der höheren Mystik.
Erstens müssen sich diese Anfänger entschließen, täglich mindestens eine halbe Stunde zu meditieren, und das jahrelang.
Zweitens müssen diese Anfänger eine bestimmte Andachtsschule wählen und konsequent in ihr bleiben, ebenfalls jahrelang, ohne Hin-und Herspringen zwischen verschiedenen Andachtsgebieten.
Drittens müssen diese Anfänger das Erlernen der Mystik zu ihrem einzigen Lebensziel erheben und diesem alle anderen Wünsche und Bedürfnisse unterordnen.
Viertens müssen diese Anfänger wissen, daß auch die sorgfältigste Beachtung der ersten drei Punkte keinerlei Erfolgsgarantie enthält.
Jenen Anfängern, die sich von diesen Bedingungen nicht abgeschreckt fühlen, empfehle ich als Betrachtungsstoff das vierte Evangelium, das des Johannes. Als Methode empfehle ich die einfachste,
nämlich die betrachtende Lektüre. Man liest einen Satz, überdenkt ihn ohne Hast und geht dann zum nächsten. Mehr als zehn Sätze sollte man in einer halben Stunde nicht bewältigen wollen. Wenn man einen oder mehrere Sätze nicht versteht, lese man ruhig weiter. Nach der Beendigung des Johannesevangeliums wende man sich dem ersten Johannesbrief zu, und danach der Apokalypse.
Ehrgeizige Anfänger, die zwar meditieren lernen wollen, sich aber von christlichen Andachtsschulen nicht angesprochen fühlen, werden sich vielleicht den fernöstlichen Praktiken zuwenden. Wer es in einer dieser Schulen, und es gibt viele, zur Meisterschaft bringen will, hat einen langen und mühevollen Weg vor sich. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß der im Westen erzogene Anfänger keinerlei kulturelle Voraussetzungen für die Aneignung dieser höchst komplexen und anspruchsvollen Weisheitswege mitbringt. Was in den westlichen Industrieländern an fernöstlichen Geistestraditionen gelehrt wird, beschränkt sich zumeist auf einfache Entspannungsübungen. Sie gehören zu den Seelenarzneien (siehe die achte Lektion) und verhalten sich zur Virtuosenmystik wie das Einmaleins zur Integralrechnung. Anfänger, die sich zum Fernöstlichen ernsthaft entschlossen haben, werden allenfalls nach Indien reisen und sich für eine gute Weile in einem «Aschram» einquartieren. Sie werden, neben dem Meditieren, auch die Gleichgültigkeit für das in Indien vorhandene Elend lernen müssen. (Japan, als Wallfahrtsziel für Zen-Jünger, ist kaum zu empfehlen; wie ich aus zuverlässiger Quelle höre, findet man dort kaum noch kompetente Zen-Meister; die heftige japanische Wirtschaftsentwicklung hat sich auf die Zen-Kultur nachteilig ausgewirkt. In China hat es nie eine originelle Mystik gegeben.)
Die jüdischen und muselmanischen Mystik-Schulen, Kabbala und klassischer Sufismus, sind heute fast verschwunden. Sollte ein ehrgeiziger Anfänger dennoch in eine der wenigen noch praktizierenden Kleingruppen dieser Andachtstraditionen Eingang finden, dann hat er mit der nämlichen Hürde wie der Fernost-Pilger zu rechnen: dem Kulturensprung.
Nachdrücklich gewarnt müssen die besonders gründlichen Anfänger vor allen Mischformen unter den Andachtsschulen werden. Die Wahl zwischen den vier klassischen Mystikkomplexen (dem jüdischen, dem muselmanischen, dem christlichen und dem fernöstlichen) ist für die strebsamen Anfänger unerläßlich. Denn: Alle klassischen Mystiken setzen zunächst eine bestimmte Kultur voraus und sublimieren sie dann. Mischt man hingegen die Basiskulturen (etwa in der Weise Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophischen Gesellschaft), dann entzieht man der sublimierenden Arbeit die Grundlage.
Für alle ehrgeizigen Anfänger:
Der Kulturensprung gehört in das Gebiet der Touristik, der Unterhaltung und Bildung, der weltanschaulichen Feinschmeckerei und -ausnahmsweise - der Abenteuerlust. Für die in meinem Buch anwesende Mystik bringt er nichts. Meine Mystik, wie schon öfter gesagt, befindet sich um die nächste Ecke.

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Die letzte europäische Meditationsschule, die methodische Genauigkeit mit weitreichender, politisch wirksamer Ausstrahlung verband, wurde von Ignatius von Loyola (1491-1556) erfunden. Ihr Vorteil, gegenüber den vergleichbaren katholischen und auch evangelischen Frömmigkeitsrichtungen der Neuzeit, lag erstens in der ihr zugrundeliegenden Zweckrationalität und zweitens darin, daß sie von einer entschlossenen und straff disziplinierten, intellektuell hoch gebildeten Genossenschaft verbreitet wurde: dem Jesuitenorden.
Ignatius, der Gründer dieses Ordens, begann mit der Niederschrift seiner «Exerzitien » im Jahr 1522 und beendete sie 1535. Nach weiteren Korrekturen und Verbesserungen lag 1547 der endgültige Text vor - kaum 100 Seiten dichtester Prosa in nüchternem Spanisch. Bestimmt war dieser Text zum Gebrauch dessen, der die Exerzitien zu erteilen hatte, den «Exerzitienmeister». Der (oder die) Schüler, die sich den Exerzitien unterziehen wollten, empfingen ihre Anweisungen aus dem Mund des Meisters, 4 Wochen hindurch, während deren sie täglich vier oder fünf Meditationsstunden zu absolvieren hatten, bei vollständigem Stillschweigen, das nur während der Unterredungen mit dem Meister unterbrochen werden durfte. Der erste Exerzitienmeister war Ignatius selbst; mit Hilfe der von ihm erdachten «geistlichen Übungen» (so die geläufige Übersetzung) rekrutierte er persönlich die ersten Mitglieder seines neuen Ordens, der «Jesus-Kompanie». Die psychologische Architektur der Exerzitien, noch heute erstaunlich, diente einem einzigen Zweck: der Herbeiführung eines festen, die bisherige Lebensweise verändernden Entschlusses möglichst hochherziger Art.
Was heute auf dem Mystikmarkt angeboten wird, ist im Vergleich zu den «Exerzitien» lauwarmer aufgewärmter Kaffee. Die Schärfe des Anspruchs, der in den Exerzitien steckt, ist heute nur noch mit dem zu vergleichen, was in den (rund 2000) «Schulen des 7. Mai» vor sich geht, in Maos China.
Hier ist der Text eines mittelalterlichen Gebetes, das sich im Jesuitenorden von Anfang an einer großen Beliebtheit erfreute; es drückt die Christusmystik der Exerzitien am prägnantesten aus:
Seele Christi, heilige mich.
Leib Christi, rette mich.
Blut Christi, berausche mich.
Wasser der Seite Christi, wasche mich.
Leiden Christi, stärke mich.
O guter Jesus, erhöre mich.
In deinen Wunden verberge mich.
Von dir laß nimmer scheiden mich.
Vom bösen Feind beschütze mich.
Zur Stunde meines Todes rufe mich.
Und zu dir kommen heiße mich,
daß ich mit deinen Heiligen lobe dich,
von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen.
Es folgt ein Text aus einem Exerzitienbuch des Ignatius:
Wir müssen sehr achtgeben auf den Verlauf der Gedanken. Sind Anfang, Mitte und Ende gut und hingerichtet auf etwas ganz Gutes, dann ist dies ein Zeichen des guten Engels. Wenn aber einer im Ablauf seiner Gedanken bei einer schlechten oder ablenkenden Sache endet oder bei etwas weniger Gutem als dem, was die Seele sich vorher vorgenommen hatte zu tun, oder wenn es die Seele schwächt oder verwirrt, indem es ihr den Frieden, die Stille und Ruhe, die sie vorher hatte, wegnimmt, so ist dies ein klares Zeichen, daß es vom bösen Geiste herstammt, dem Feind unseres Fortschritts und ewigen Heils.
In diesen beiden Texten zeigt sich, wie das vom Heiland höchstpersönlich und unverwechselbar erwählte Subjekt auf ein hohes Ziel hin in Marsch gesetzt wird, fortschrittsgläubig und diszipliniert bis in die intimsten Gedanken. In den Originalexerzitien des Ignatius lernt das exerzierende Subjekt, in vierwöchigem Kurs, etwas Wichtiges und bis dato nicht sonderlich Verbreitetes: Eigene Gedanken zu haben. Diese Aufwertung der Persönlichkeit wird von Ignatius, als zur Rebellion disponierend, durch Gedankendisziplin gebändigt. Die Exerzitien fördern das Subjekt und waschen ihm gleichzeitig das Gehirn. Die ignatianische Mystik ist kirchentreu. Sie trat, ab dem 16. Jahrhundert, in die politischen Dienste der vom Haus Habsburg geleiteten Gegenreformation.
Meine ersten Exerzitien, während der Ferien nach der Reifeprüfung, entsprachen insofern den Ideen des Ignatius, als ich sie allein machte und eine Entscheidung anstrebte - die Wahl des Priesterberufs. Sie dauerten drei Tage lang, vom Vorabend des ersten Tages bis zum Morgen nach dem dritten Tag. (Dies entspricht der gegenwärtig üblichen katholischen Exerzitienpraxis.) Ein alter Jesuitenpater nahm sich meiner an. Er wies mir ein Zimmer in dem weitläufigen Komplex des Ordenshauses in Wien-Lainz an, zeigte mir die Kapelle, den Speisesaal und die Bibliothek, gab mir die «Nachfolge Christi» zur Lektüre (eine Bibel hatte ich selber) und bestellte mich für den nächsten Morgen. Dann ließ er mich allein. Sofort begann die Zeit äußerst langsam zu vergehen. Ich ging im Park des Exerzitienhauses spazieren und wartete aufs Abendessen.
Am nächsten Morgen, nach der Messe und dem Frühstück, ging ich zur vereinbarten Zeit zu meinem Exerzitienmeister. Er hielt mir einen kurzen Vortrag, bei dem ich mir Notizen machte, und empfahl mir die genaue Einhaltung der Betrachtungsstunden. Ferner gab er mir ein Blatt Papier, auf das er geschrieben hatte: Gründe für und gegen den Priesterberuf. Ein Strich teilte das Papier in zwei Hälften. Er wies mich an, alle mir einfallenden Argumente (pro und contra) in die entsprechende Kolumne zu schreiben. Dann entließ er mich. Ich hatte noch nie eine «Betrachtung» gehalten. Ich ging auf mein Zimmer, und in einigen Minuten hatte ich meine Notizen durchgelesen. Danach begann die Zeit sozusagen stillzustehen. Immer wieder blickte ich auf die Uhr. Vor dem Fenster zwitscherten die Vögel, und mir fiel überhaupt nichts ein. Als die Stunde endlich um war, blieben mir noch zwei weitere bis zum Mittagessen. Zum Glück hatte das Zimmer kein Fließwasser, und ich trug den Kübel mit dem Waschwasser zum Abort - womit einige Minuten vergingen. Ich überlegte, ob ich den Krug für das Frischwasser sofort oder erst am Nachmittag anfüllen sollte. Auf dem Tisch lag der Zettel für die Argumente für und gegen meine Berufswahl. Er war leer.
In seinem China-Buch berichtet Alain Peyrefitte eine alte Legende, die ihm vom Leiter des Revolutionskomitees der Provinz Kiangsu erzählt wurde: Die Einwohner einer von Dürre heimgesuchten Gegend kamen zu einem Einsiedler und flehten ihn an, Regen zu machen. Er zog sich drei Tage in einen Tempel zurück, «um in sich selbst Ordnung zu schaffen». Nach drei Tagen regnete es.
Im Priesterseminar fanden jedes Jahr Exerzitien statt. Sie dauerten fünf Tage lang und endigten am Morgen des 24. Dezember, dem Beginn der Weihnachtsferien. Ein Jesuitenpater hielt täglich vier längere Vorträge. Wir machten uns Notizen und meditierten danach über das Gehörte. Während der Exerzitien bestand Redeverbot. Mein Zimmernachbar erzählte mir, nach den ersten Exerzitien im Seminar, daß ich im Schlaf herzlich gelacht hätte. Lachen war während der Exerzitien unstatthaft.
Während der ersten Exerzitien im Priesterseminar fiel meine endgültige Entscheidung. Ich erinnere mich noch genau, daß ich am Fenster meines Zimmers stand, als ich meine Wahl traf. Ich war allein im Zimmer, und danach wußte ich, was ich wollte: Priester werden.
Ich war damals 18 Jahre alt, und meine Freunde aus dem Gymnasium hofften zuversichtlich, mich noch umstimmen zu können. Während der Ferien diskutierten wir über Gott und die Welt, auf langen Spaziergängen mit Hexi dem Hund.
Hexi war mit meiner Berufswahl insofern nicht einverstanden, als sie tagelang winselnd auf meine Rückkehr wartete, wenn ich nach den Ferien wieder ins Priesterseminar gezogen war.
Die Argumente der Freunde gegen meine Berufswahl hätte der heilige Ignatius als vom bösen Geiste herrührend bezeichnet. Bezüglich dem Winseln des Hundes hätte er auf folgenden Satz der «Exerzitien» verwiesen:
Darum ist es notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig zu machen.
In den Jahren 1948 bis 1964 habe ich insgesamt 16mal Exerzitien gemacht. Die mir wichtig erscheinenden Reflexionen und Gefühle trug ich in meinem Tagebuch ein.
Hier ist eine Stelle aus meinem Tagebuch, vom Juli 1964, geschrieben während der Exerzitien:
«Abgesehen von der kurzen Erleichterung gestern nachmittag waren diese Exerzitien eine einzige Qual. Von Anregung kann keine Rede sein, ich war allein. Allein mit dem Ärgernis des Zölibats, allein mit meinem Leben, allein mit meinen Rissen - zwischen der Neigung zur beschaulichen Arbeit und dem Ekel an ihr; der Neigung zur weiblichen Zärtlichkeit und der Unfähigkeit zur Ehe; der Gemütlichkeit und der Sehnsucht nach einem sich in Leidenschaft verzehrenden Leben.
Die «Konferenz» soeben - um 15 Uhr darf nicht zuviel zugemutet werden, die Jause wartet schon - machte mich rasend. Gehört es denn konstitutiv zum Priester, daß er gern ein wenig Karten spielt, ein wenig Wein trinkt, am freien Tag spazierengeht, immer ein wenig von allem sich vergönnt? Feuerbrand Christi, man zündet sich mit dir nur mehr die Zigarren an.
Das stillschweigende Übereinkommen dieser Exerzitien: Nicht wahr, am ersten Tag eher positiv, dann kommt halt der zweite Tag, ein «Tunnel», da muß man durch, ein Schuß Hölle und Tod in den bekömmlichen Trank (Exerzitien sind ja schließlich eine seelische Erholung) mit dem verschmitzten Wissen, daß das eben dazu gehört; der dritte Tag eine wohlgefällig schmunzelnde, hie und da mit ernst-nachdenklichen Worten durchwürzte Reflexion über das «Reich Gottes» -von den ehernen Texten bis zum Witz über die Pfarrhaushälterinnen (das Gelächter über einen solchen hat mich heute vormittag aufgeweckt). Der Rest ist Schweigen. Ich kann verstehen, warum Franz von Assisi bei den Mohammedanern sterben wollte.»
Danach habe ich keine Exerzitien mehr gemacht.

Nunmehr folgt die
DRITTE PRAKTISCHE ÜBUNG.
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Um sie durchzuführen, mögen die Anfänger zunächst das Erinnerungsmaterial konsultieren, das ihnen bei Absolvierung der zweiten praktischen Übung (Nr. 27) eingefallen ist. Es empfiehlt sich, diese Erinnerungen an Augenblicke starker Gefühlsintensität auch schriftlich (in beliebiger Form) zu fixieren, zum Zweck eines bequemeren Überblicks. Dies ist der erste Schritt der Übung. Er kann, als Nebeneffekt, unter Umständen die schriftstellerischen Begabungen der Anfänger wecken oder weiterentwickeln).
Der zweite Schritt besteht darin, die Qualität des Erinnerungsmaterials genauer zu prüfen. Zur Erleichterung dieser Prüfung habe ich eine Art Checkliste aufgestellt. (Auch die Flugzeugpiloten müssen Checklisten durchgehen, bevor sie die Starterlaubnis erhalten.) Man prüfe jede einzelne Erinnerung an intensive Gefühlsmomente, indem man die einzelnen Punkte der Checkliste durchgeht.
Die Anfänger mögen bedenken, daß ihre persönlichen Erinnerungen, so bescheiden sie dreinschauen mögen, für sie wichtiger und kostbarer sind als die Erleuchtungen des Buddha, die musikalischen Einfälle Richard Wagners und die Gefühle Rilkes; sie sind für sie bedeutsamer als die gesamte Weltliteratur.
Hier ist die Checkliste:

Besondere Merkmale persönlicher Intensivgefühle.
Zutreffendes bitte ankreuzen!


Ja
Nein
Weiß nicht
1.
Glücksgefühl?



2.
Objektbezogen? (Ein anderer Mensch, ein Tier, ein Gott, ein Gebrauchs-gegenstand usw.)



3.
Objektverschmelzung? (Liebeserfüllung, Einswerden mit der Natur usw.)



4.
Heimatgefühl? (Geborgenheit, Friede usw.)



5.
Erfüllungsgefühl? («Endlich erreicht» usw.)



6.
Anfangsgefühl? (Antritt eines erstrebten Postens, Aufwachen am ersten Urlaubstag, erste Berührung des/der Geliebten usw.)



7.
Verlust oder Einschränkung des normalen Zeitgefühls?



8.
Totalitätsgefühl? («Alles ist gut» usw.)



9.
Gefühl der Dankbarkeit?




Merke: Jede Gefühlserinnerung, die in obiger Checkliste mindestens zweimal mit «Ja» beantwortet werden konnte, ist ein Beleg für seelische Gesundheit bzw. für mystische Begabung. (Die Analogie zwischen den beiden Befunden wird neuerdings von den Forschungen einiger Psychologen nahegelegt, die eine «humanistische» Richtung vertreten.)
Der Zweck der Übung besteht darin, die Wunschkräfte der Anfänger (= deren Unbescheidenheit) zu stärken. Denn: Ein Hochzeitsfoto, nach 20 Jahren betrachtet (»wie glücklich wir damals waren») signalisiert nicht nur die Erinnerung ans vergangene Glück, es ist auch voll von dem, was man (dunkel) ersehnt, aber nicht bekommen hat. Es gilt der Merksatz:
Vergangenes Glück ist ein Kapital, das Zinsen tragen soll.
Wunschlos glückliche Anfänger sind von der Durchführung der dritten praktischen Übung befreit.

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Das folgende Kapitel ist den weiblichen Anfängern gewidmet, insbesondere den hauptberuflichen Hausfrauen unter ihnen. Ich darf die Anfängerinnen zunächst bitten, nochmals die Nr. 8 durchzulesen, ferner die Nummern 34, 44 und 46. Auch die Nummern 15 und 16 gehören in diesen Zusammenhang sowie die Nr. 38. Alle diese Kapitel enthalten Stärkungsmittel für die Anfängerinnen.
Allgemein gesprochen scheinen die Frauen ein größeres Bedürfnis nach Trost und Stärkung zu haben als die Männer. Vielleicht gehen die Frauen deshalb zahlreicher und regelmäßiger in die Kirche. Daß die Frauen in den Industrieländern durchschnittlich ein wenig länger leben als die Männer, dürfte allgemein bekannt sein. Aus dieser Tatsache muß nicht unbedingt folgen, daß die Frauen im Durchschnitt glücklicher leben als die Männer.
Mit Sicherheit steht hingegen fest, daß der Anteil der Frauen an Kultur und Bildung geringer ist als jener der Männer - in der ersten, zweiten, dritten und vierten Welt. In bezug auf Aristoteles und Plato, höhere Mathematik und Computerwissenschaft, Mozart und Beethoven, Einstein, Picasso usw. werden die Frauen grundsätzlich zur Bescheidenheit erzogen.
In diesem Zusammenhang mag es für die Anfängerinnen nützlich sein zu erfahren, daß die Geschichte der europäischen Mystik auch eine Geschichte des unterdrückten weiblichen Bildungshungers ist. Und weil dieser Hunger bis dato nicht gestillt ist, im Vergleich zur Männerwelt nämlich, deshalb hat die Geschichte der weiblichen Mystik ungemein lehrreiche Aspekte. Sie enthält Strebungen, die unerfüllt geblieben sind, Begabungen, die nicht zum Zug gelangten, überschüssige und ungenützte Kräfte in Menge, Lebensentwürfe als Alternativen zum Bestehenden. Manche dieser Tendenzen haben sich inzwischen durchgesetzt, andere nicht (zum Beispiel Klara, oben Nr. 39-44). So daß ein langwieriger Prozeß sichtbar wird, ein nicht durchwegs friedlicher, mit langen Dämpfungsperioden dazwischen. Solche Dämpfungen - beispielsweise durch die Hexenverfolgungen oder die frühindustrielle Frauenarbeit - machen es erforderlich, das ungedämpft Frische der weiblichen Aspirationen gelegentlich im Rückwärtsgang zu erreichen; will sagen durch eine kritische Analyse längst vergangener Zeiten und der in ihnen begrabenen Hoffnungen. Dazu kommt, daß die Bilder (Vorstellungen, Ahnungen, Wunschträume, Konstruktionen) vom befriedeten und befreiten Leben, so wie wir sie heute noch im Kopf haben, aus vorindustriellen Zeiten stammen, so wie auch die Mystik vorkapitalistisch ist. Es ist gestattet, manche Mystiken (etwa die eleusinischen, die frühchristlichen, die franziskanischen) als außenseiterische Versuche zu verstehen, ein beglückteres Leben zu probieren. Aus diesem Grund habe ich von ihnen berichtet.
Weil zum Glück auch das Liebesglück gehört, und nicht unbedingt nur das familiär kanalisierte, deshalb darf bei der Untersuchung vergangener Unbescheidenheiten die sogenannte Sittengeschichte nicht vergessen werden; in ihren Annalen begegnet dem aufmerksamen Betrachter gelegentlich eine sehr irdische, praktische und sinnliche Mystik, mit geradlinigen und klaren Einswerdungswünschen auf jenem Gebiet, das in den Augen der Opfertheoretiker am gefährlichsten ist: dem der Liebe.
Die nun folgende Kurz-Chronik unterdrückter weiblicher Aspirationen im vorneuzeitlichen Europa erstreckt sich auf den Zeitraum von 1100-1500. (Man erinnert sich, daß die Mitte des 11. Jahrhunderts für Europa eine wirtschaftliche Wende signalisiert, einen beginnenden Aufstieg des «Okzidents» gegenüber den islamischen Großreichen und Byzanz. Wir beobachten eine starke Zunahme der Bevölkerung, eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Geräte und Anbaumethoden, eine Zunahme der Anbauflächen durch Rodungen, vermehrte Bautätigkeit, stärkeren Geldverkehr, Aufschwung der Städte, Intensivierung des Fernhandels. Nach einer langen Periode des Wachstums dieser feudalen Rentenwirtschaft kommt es im 14. Jahrhundert zur Krise, aus der die moderne frühkapitalistische Welt Europas hervorgeht.)

1071-1126 Wilhelm von Poitou, Herzog von Aquitanien, erster Troubador, exkommuniziert wegen freizügiger Lebensführung.
1115 Todesjahr des Tanchelm, der als erster europäischer Vertreter der Bewegung des Freien Geistes gilt.
1140 In Lyon wird erstmals das Fest von der Unbefleckten Empfängnis Mariens gefeiert. - Anfänge der Bewegung der Katharer (daher die Bezeichnung «Ketzer»). Schwerpunkt in Südfrankreich (Provence, Languedoc), mit Verbindungen zu dortigen Kabbalisten. Hoher Status der Frauen unter den Katharern.
1152 Eleonore von Aquitanien, Förderin der Troubadours, heiratet Heinrich II. von England.
1157 Eine Kirchenversammlung der Provinz Reims befaßt sich mit den «pifres», armen Webern, die ein unstetes Leben führten und im Verdacht der Verbreitung von Irrlehren standen; ihre weibliche Anhängerschaft war von ihnen - laut Anklage - zur Unzucht verführt worden.
1162 Die Katharer in England.
1163 Eine aus acht Männern und drei Frauen bestehende Gruppe aus Flandern wird in Köln der Ketzerei bezichtigt. Der Mönch Eckbert von Schönau versucht vergeblich, sie in einer mehrtägigen öffentlichen Disputation im Kölner Dom zu bekehren. Hinrichtung durch Verbrennen.
1165 Die Katharer in Norditalien.
1170 Erste Wohngemeinschaften der «Beginen» in der Gegend von Lüttich. Es handelte sich um unverheiratete oder verwitwete Frauen aus dem hohen und mittleren Adel, die sich zu einem gemeinsamen Leben zusammenfanden.
1179 Todesjahr der Hildegard von Bingen, Nonne und Schriftstellerin. Verfaßte religiöse und medizinische Bücher. Über 300 Briefe teilweise politischen Inhalts.
1206 Todesjahr des Amalrich von Bena, Professor für Theologie und Logik an der Universität Paris, Lehrmeister der «Amalrikaner», einer Gruppe von 14 Geistlichen.
1209 Verurteilung der Amalrikaner auf einer Kirchenversammlung in Paris u. a. wegen Leugnung des Unterschiedes zwischen Gut und Böse und Befürwortung der freien Liebe. Drei Mitglieder der Gruppe schwören ab, die restlichen werden hingerichtet.
1209-1249 Albigenserkriege zum Zweck der Ausrottung der Katharer. Bei der Einnahme von Béziers durch das französische Ritterheer werden 7000 Frauen, Kinder und Greise in der Kirche zur heiligen Magdalena verbrannt, 20000 weitere Bürger in der Stadt erschlagen (22. Juli 1209).
1220 Festnahme, Verhör und Hinrichtung eines Ritters in Lyon wegen häretischer Ansichten (Lehren der Amalrikaner).
1225 Amalrikanische Missionare in der Champagne. Freigeistige Mystik, Selbstvergottungslehren, Voraussage politischer Umwälzungen. Zahlreiche Anhängerinnen der Amalrikaner werden zur Befragung nach Paris gebracht.
1230 Willem Cornelis (Freigeist) verkündet in Antwerpen, daß den Armen die freie Liebe erlaubt sei.
1231 Kodifizierung des Inquisitionsverfahrens durch Papst Gregor IX.
1234 Gründung des Klosters Adelhausen bei Freiburg im Breisgau, zunächst als Beginenhaus, dann als Konvent der Dominikanerinnen geführt. Weitere Frauenklöster des Dominikanerordens wurden vornehmlich im südwestdeutschen, elsässischen und alemannischen Raum gegründet (bis 1277 insgesamt 58 Klöster).
1253 Todesjahr der Klara von Assisi.
1258 Ca. 100 Nonnen beziehen das Kloster in Helfta (heute Stadtteil von Eisleben, DDR), das zum Zentrum der deutschen Frauenmystik wurde. Am bekanntesten wurde Gertrud die Große († 1302).
1259 Verurteilung der Beginen durch eine Kirchenversammlung in Mainz.
1260 Todesjahr (?) der Suster Hadewich, Verfasserin von «Visioenen».
1274 Kirchenversammlung in Lyon. In den Berichterstattungen werden Klagen über die Beginen geführt. Ein Franziskaner aus Tournai berichtet, daß sich die Beginen mit neuen Ideen befaßten, die Bibel ins Französische übersetzt hätten, sie interpretierten und auf offener Straße und bei Zusammenkünften über sie diskutierten. In Paris würden französische Bibeln frei verkauft. Ein ostdeutscher Bischof führt Klage darüber, daß die Beginen den kirchlichen Anordnungen Widerstand leisten.
1282 Todesjahr (?) der Mechtild von Magdeburg. Lebte zuerst als Begine, dann als Nonne in Helfta. Ihre mystischen Schriften («Das fließende Licht der Gottheit») sind die ersten in deutscher Sprache.
1296 1. August: Bulle «Saepe sanctam Ecclesiam» des Papstes Bonifaz VIII. Dieses Dokument ist allgemein gegen Laienvereinigungen gerichtet, die sich «gegen die Kirche auflehnen, Sünden vergeben, öffentlich predigen und den Heiligen Geist durch Handauflegung übertragen». Bei Zusammenkünften - «auch nächtlichen» - würden sie über «ihre Verkehrtheiten» diskutieren. «Sogar Frauen» seien unter ihnen, und sie stünden auf dem Standpunkt, daß jene Gebete wirksamer seien, die man nackt verrichte.
1310 Todesjahr der Margarete von Porette, einer aus dem Hennegau stammenden Begine. Sie führte ein mittelloses Wanderleben, in Begleitung eines «Begarden» (so der Name des männlichen Zweiges der Bewegung). Predigttätigkeit in den Bistümern Cambrai, Chalons und Paris. Ein von ihr verfaßtes mystisches Buch wurde kirchlicherseits beschlagnahmt und öffentlich verbrannt. Sie fertigte ein neues Exemplar an und agitierte damit weiter, unter «schlichten Leuten». Verhaftung in Paris, Inquisitionsprozeß, Hinrichtung am Scheiterhaufen.
1311/12 Kirchenversammlung in Vienne. Verdammung der «Irrtümer der Begarden und Beginen». Dem Text ist zu entnehmen, daß von seiten dieser Laienbewegung mit einem Spruch aus den Paulusbriefen argumentiert wurde. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2. Korintherbrief 3, 17). Hinkünftig sollen die Beginen in Wohngemeinschaften mit kirchlicher Genehmigung leben.
1314 Meister Eckhart in Straßburg. Beginn der Bewegung der «Gottesfreunde». Predigten vor bildungshungrigen Nonnen des Dominikanerordens in Straßburg und den Klöstern des oberen Rheintals. (Vorträge und Predigten vor Nichtakademikern waren damals noch kaum in Übung.)
1317 Der Bischof von Straßburg vollzieht die Bestimmungen des Konzils von Vienne gegen die Beginen. Verbot an die Bevölkerung, ihnen Almosen zu geben. Erste reguläre bischöfliche Inquisition auf deutschem Boden. - Gesetzliche Unterdrückung des radikalen Zweiges der Franziskaner (»Spiritualen») durch Papst Johannes XXII.
1322 Kirchenversammlung in Köln gegen die Freigeister.
1335 Todesjahr (?) der Bloemardienne (Brüssel), freigeistige Schriftstellerin.
1351 Todesjahr der Margarete Ebner, Dominikanernonne. Verfaßte Schriften in der Mentalität der deutschen Gottesfreunde. Ausführliche Korrespondenz mit Heinrich von Nördlingen, ihrem Beichtvater und Seelenfreund. (Der Schweizer Tiefenpsychologe O. Pfister hat in ihren Schriften zahlreiche Anzeichen für Hysterie konstatiert.)
1356 Todesjahr der Christina Ebner, Priorin im Kloster Engelthal bei Nürnberg. Memoiren und biographische Schriften. Beeinflußt von Eckhart und Tauler.
1363-1429 Jean Charlier de Gerson, Kanzler der Sorbonne. Wandte sich in zahlreichen Schriften gegen die «Brüder und Schwestern des freien Geistes» sowie gegen Begarden und Beginen.
1368 Walter Kerlinger, Hofkaplan und Freund Karls IV., päpstlicher Inquisitor, leitet eine Strafkampagne gegen Begarden und Beginen in Erfurt, Magdeburg und Nordhausen.
1372 Verhaftung und Exekution einer Gruppe von Männern und Frauen in Paris, die sich «Gesellschaft der Armen» nannten und im Volksmund «turlupins» (= «Spaßmacher», auch «Hurentreiber») genannt wurden. An der Spitze der Gruppe stand eine Frau, Jeanne Dabenton.
1375 Todesjahr der Adelheid Langmann, Nonne in Engelthal, Verfasserin von «Offenbarungen».
1380 Todesjahr der Katharina von Siena, Dominikanerin, papsttreue Mystikerin, Schriftstellerin. 381 Briefe teilweise politischen Inhalts.
1411 Inquisitionsverfahren gegen den Mönch Wilhelm von Hindernissen durch den Bischof von Cambrai. Aufdeckung der Existenz einer Geheimgesellschaft unter dem Namen «homines intelligentiae» (= etwa « Menschen der höchsten Einsichten»), in der sich auch Frauen befanden. Wilhelm muß seine Lehren in einem von Beginen bewohnten Stadtteil Brüssels widerrufen und wird zu mehrjähriger Buße verurteilt (Klosterhaft).
1413 Todesjahr (?) der Juliana von Norwich, adelige Einsiedlerin, Verfasserin der «Sixteen Revelations of Divine Love».
1418 Etwa 40 freigeistige Männer und Frauen aus Lille und Tournai wandern nach Prag. Unter ihrem Einfluß entsteht ein radikaler Flügel der Taboriten, die sogenannten «picarti» (von «Picardie», dem Herkunftsland der Freigeister). Diese wurden 1421 aus Tabor vertrieben und flüchteten auf eine Insel in der Nezarka. Propagierung der Nacktkultur. Verkürztes Vaterunser: «Vater unser, der du in uns bist, erleuchte uns. Dein Wille geschehe... » Leugnung der Realität von Himmel und Hölle, es sei denn im Inneren des Gerechten bzw. Ungerechten. Nächtliche Raub- und Mordzüge in die Umgebung. Polizeiaktion von seiten der Taboriten. Ende der «picarti».
1431 Todesjahr der Johanna von Orleans.
1483 Geburtsjahr Martin Luthers.
1484 Hexenbulle des Papstes Innozenz VIII. - Die Hexenverfolgungen dauerten bis ins 18. Jahrhundert; die wissenschaftlichen Schätzungen schwanken zwischen 100 000 und 1 Million Opfern. Der letzte Hexenbrand Deutschlands geschah 1775 in Kempten.

Es folgt nunmehr eine Interpretation der mittelalterlichen mystischen Frauenbewegung in Europa, in Thesenform.
1. Die Bewegung ist städtischen Ursprungs und wird von Frauen oberschichtiger Herkunft vorangetrieben.
2. Die Zentren der Bewegung (Flandern und Nordfrankreich, Südwestdeutschland, Südfrankreich, Mittelitalien) sind durch wirtschaftliche Blüte und soziale Spannungen gekennzeichnet.
3. Die Kreuzzüge sind der wichtigste Faktor beim Zustandekommen des Frauenüberschusses in den Schichten des hohen und niederen Ritteradels. (Dieser Frauenüberschuß war so hoch, daß beispielsweise im Frankfurt des 14. Jahrhunderts etwa sechs Prozent der erwachsenen weiblichen Bevölkerung in Frauenhäusern wohnten.)
4. Der Mangel an geeigneten Partnern wird zum Sublimationsdruck. Das mystische Schrifttum ist durch ein erotisierendes Vokabular gekennzeichnet. Vorhandene Tendenzen zur außerehelichen Liebe werden von den Behörden unterdrückt.
5. Der um die Wende zum 14. Jahrhundert verschärft einsetzende kirchliche Druck trennt die Frauenbewegung in einen radikalen und einen verinnerlichten Flügel (freigeistige Beginen versus Gottes-freundinnen).
6. Das Fehlen des Buchdrucks war ein schweres Handikap für die Frauenbewegung. Die Mehrzahl ihrer literarischen Produktionen wurde von den Behörden vernichtet und konnte nicht in die Breite wirken. Hinzu kommt das Analphabetentum der Bevölkerungen als hinderlicher Faktor für die schnelle Verbreitung der einschlägigen Ideen.
7. Die Angst vor der Inquisition führt zu Sprachverschleierungen in der literarischen Produktion und zu Geheimhaltungspraktiken in der mündlichen Kommunikation.
8. In den Leitmotiven der Ideenbildung läßt sich eine Tendenz zur Erhöhung der Selbstwertgefühle (Ichstärkung) erkennen. Am deutlichsten ist dies in (a) den Selbstvergottungsbehauptungen der Fall; im Traktat «Schwester Katrei» heißt es beispielsweise «Freuet euch mit mir, ich bin Gott worden». Eine Frauengruppe aus Schweidnitz gab an, auf der Heiligen Dreifaltigkeit wie in einem Sattel zu reiten. Mitunter taucht in diesem Zusammenhang sogar die Feststellung auf, «Gott nicht mehr zu benötigen».
Eine abgeschwächte Form der Selbstvergottung findet sich (b) in den Lehren von der göttlichen Gegenwart in der Einzelseele, dem inneren Licht, dem «Seelenfünklein» usw., häufig kombiniert mit der Reklamierung des Heiligen Geistes als «innerem Lehrer» - was tendenziell eine Emanzipation von Theologieprofessoren und Beichtvätern ist.
Die weitverbreitete mystische Doktrin von (meist sieben oder neun) Stufen zur Vollkommenheit (c) enthält eine Aufstiegsdynamik emanzipativer Art.
Desgleichen vermochte (d) die geläufige Unterscheidung zwischen «Groben und Feinen im Geiste» als Kultivierungsappell zu wirken, als Aufruf zur «Entgröberung» (so bei Thomas Müntzer, † 1525) durch Bildungserwerb.
9. In der Aneignung der neuplatonischen Mystiktradition, deren höchstes Ziel die «unio mystica» (Subjekt-Objektverschmelzung) war, vermochte die Frauenbewegung zum herrschenden männlichen Kulturideal eine Alternative zu entwickeln. In der Terminologie des Psychoanalytikers Erik H. Erikson wäre in diesem Zusammenhang von der weiblichen Modalität «offen - geschlossen» zu sprechen, versus der (männlichen) Modalität «hoch - tief». Es ist bemerkenswert, daß auch im männlichen mystischen Schrifttum gewisse Geborgenheitsbilder auftauchen, etwa in der «Inburgtheit» Eckharts.
Das Fazit: Durch 400 Jahre sind die schöpferischen Kräfte vieler europäischer Frauen terrorisiert worden, bis sie schließlich in der Hexenkampagne aus der Öffentlichkeit verschwanden. Nicht weil sie empfindlich sind, blühen die mystischen Rosen so selten, sondern weil sie ausgerottet wurden.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. James Nayler: Zur Demonstration in Bristol vgl. Hugh Barbour (Hrsg.) Early Quaker Writings, Grand Rapids: William B. Eerdmans, 1973, Seite 481-485.

  2. Die englischen Separatisten: Vgl. Rufus M. Jones, Mysticism and Democracy in the English Commonwealth, New York: Octagon Books, 1965. In Cromwells Heer: Jones, Mysticism and Democracy 153-161.

  3. Der mystische Feingehalt: Das staatsrechtliche Postulat von der Souveränität des Volkes läßt sich bis zu den Schriften des Wilhelm von Ockham (1285-1347) zurückverfolgen. Ockham, zum Franziskanerorden gehörig, war im Streit um das Prinzip der Besitzlosigkeit (siehe Nr. 42) auf der Seite der Radikalen, flüchtete aus dem päpstlichen Gewahrsam in Avignon zu Ludwig IV. von Bayern und wurde exkommuniziert.

  4. Götter seid ihr: Johannes 10,34.

  5. Un bon dieu citoyen: Hedwig Walwei-Wiegelmann (Hrsg.), Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Heines, Paderborn: Schöningh, 1974, Seite 119: «Es ist der Gott, den ich am meisten liebe - nicht weil er so ein legitimer Gott ist, dessen Vater schon Gott war und seit undenklicher Zeit die Welt beherrschte: sondern weil er, obgleich ein geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demokratisch gesinnt, keinen höfischen Zeremonialprunk liebt, weil er kein Gott einer Aristokratie von geschorenen Schriftgelehrten und galonierten Lanzenknechten, und weil er ein bescheidener Gott des Volks ist, ein Bürger-Gott, un bon dieu citoyen.»

  6. Aschrams sind Dörfer, die eigens zum Zweck des Erlernens von Versenkungsübungen errichtet werden und für zahlende Gäste bereitstehen.

  7. Japan: Einen amüsanten Erlebnisbericht über seinen Aufenthalt in einem Zen-Kloster in Kyoto schrieb Janwillem van de Wetering, The Empty Mirror, Boston: Houghton Mifflin, 1974. - Der Jesuitenpater Hugo M. Lassalle leitet in Japan eine ost-westliche Zen-Schule; vgl. H. M. Enomiya-Lassalle, Zen - Weg zur Erleuchtung, Freiburg: Herder 1969.

  8. Kabbala: Vgl. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main: Alfred Metzner, 1957.

  9. Der Kulturensprung: Der bekannteste christliche Mystiker unseres Jahrhunderts, Thomas Merton, ein Trappistenmönch aus den USA, veröffentlichte in den 50er Jahren eine Reihe einschlägiger Schrrften (darunter: Aufstieg zur Wahrheit, Einsiedeln: Benziger, 1952). 1968 reiste Merton nach Bangkok zu einer Konferenz fernöstlicher Klostervorsteher. Für Merton war diese Reise eine lang erwartete Gelegenheit zu einer persönlichen Inspektion der buddhistischen Mystik. Merton unterhielt sich mit einer Reihe prominenter geistlicher Persönlichkeiten, unter anderem auch mit dem exilierten Dalai-Lama. Als besonders irritierend empfand Merton das Elend der Bevölkerung in Indien. In seinem - unvollendeten - Tagebuch (The Asian Journal of Thomas Merton. New Directions, 1973) wertet Merton die fernöstlichen Praktiken als Analogien zu seinen eigenen und zeigt sich skeptisch gegenüber einer möglichen Synthese beider. Aus seiner Reise zieht Merton die Lehre, daß sie im Grunde übeiflüssig gewesen sei. Merton starb am 10. Dezember 1968 in Bangkok, als er, noch naß von einer Dusche, eine schadhafte elektrische Leitung berührte.

  10. Weltanschauliche Feinschmeckerei: Repräsentativ für diese Haltung ist Aldous Huxley, The Perennial Philosophy, London: Chatto & Windus, 1972.

  11. Der endgültige Text: Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, Einsiedeln:Johannes Verlag, 1962.

  12. Seele Christi, heilige mich: Übersetzung Hans Urs von Balthasar, in: Die Exerzitien a.a.O. 5. Das Gebet taucht erstmals in einer Handschrift um 1314/20 auf, in England. Es gehört zur spätmittelalterlichen Heilandsmystik (siehe Nr. 52).

  13. Wir müssen sehr achtgeben: Die Exerzitien a.a.O. 86.

  14. Die Nachfolge Christi: Die Schrift unter diesem Titel ist ein Erbauungsbuch, das unter Katholiken und Protestanten eine sehr starke Verbreitung fand und bis heute gern gelesen wird. Die Frage nach dem - anonymen - Verfasser ist wissenschaftlich kontrovers. Die ältesten Handschriften stammen aus den Jahren 1424 und 1427. Die «Nachfolge Christi» ist höchstwahrscheinlich in Holland entstanden, in den Kreisen der sog. «Devotio moderna», einer klerikalen Reformbewegung mit Querverbindungen zur - teilweise ketzerischen - mittelalterlichen Mystik (siehe Nr. 56). Einflüsse der Devotio moderna auf die ignatianische Spiritualität sind nachgewiesen.

  15. In seinem China-Buch: Allain Peyrefitte, Wenn sich China erhebt, Wien: Zsolnay, 1973, Seite 25f.

  16. Darum ist es notwendig: Die Exerzitien a.a.O. 15.

  17. Die sog. «humanistischen» Psychologen (ihr bekanntester Vertreter in den USA ist Rollo May) stehen sowohl dem Behaviorismus wie der orthodoxen Psychoanalyse kritisch gegenüber und werden gelegentlich die «dritte Kraft» innerhalb der gegenwärtigen Psychologie genannt (vgl. Time, 2. April 1973,S.45). Unter ihnen finden sich neben Adlerianern und Jungianern auch Neo- und Postfreudianer (insbesondere die psychoanalytischen Ich-Psychologen), Gestaltpsychologen und Persönlichkeitsforscher. Die neue Richtung zeigt sich u. a. an Phänomenen wie Liebe, Kreativität, Imagination, Freude, Sinnfindung, Selbstverwirklichung und dergl. interessiert. Eine gute Einführung bietet Abraham H. Maslow, Psychologie des Seins, München: Kindler, 1973. (Maslow starb im Jahr 1970.) In den Kapiteln 6 und 7 dieses Buches findet man eine Beschreibung der Merkmale sog. «Grenzerfahrungen».

  18. Die nun folgende Kurz-Chronik: Aus der benützten Literatur nenne ich Rufus M. Jones, The flowenng of Mysticism, New York: Hafner, 1971; - Evelyn Underhill, Mystik, Bietigheim (Württemberg): Turm Verlag, O. J.; - Norman Cohn, Das Ringen um das tausendjährige Reich, Bern: Francke, 1961. - Herbert Grundmann, Ketzergeschichte des Mittelalters,Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1967

  19. Ich bin Gott worden: Norman Cohn, Tausendjähriges Reich 165. - Ansätze zu einer psychologischen Interpretation der Selbstvergottung bietet Maslow a. a. O.12, 28, 73.

  20. Gott in der Seele: Belege für eine Gottunmittelbarkeit des Subjekts finden sich (als platonisierende «Illuminationslehre») bereits bei A. Augustinus († 430). Vgl. ferner Jones, Flowering of Mysticism 179, 184, 191. Zum «Seelenfünklein» vgl. Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. München: Hanser, 1969, Seite 21f.

  21. Stufen zur Vollkommenheit: In den Schriften der Teresa von Avila (1515-1582) und des Johannes vom Kreuz (1542-1591) fand die bereits in der christlichen Antike nachweisbare Aufstiegslehre ihre klassische Darstellung. Vgl. Sämtliche Schrifien der hl. Theresia von Jesu Band 5, Die Seelenburg, übersetzt und bearbeitet von P. Aloysius Alkofer. München: Kösel, 1970. (Die «Seelenburg» der Teresa hat sieber Wohnungen.)

  22. Entgröberung: Vgl. Gerhard Wehr, Thomas Müntzer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972, Seite 48f., 61. - Die Unterscheidung zwischen Grobe (oder Rohe) und Feine im Geiste ist bereits bei den mittelalterlichen Freigeistern anzutreffen und geht auf neuplatonisches Gedankengut zurück: Vgl. Cohn, Tausendjähriges Reich, 162f.

  23. Weibliche Modalität: Vgl. Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart Klett, 1968, Seite 91-103. In Kalifornien hatte Erikson Gelegenheit, im Rahmen eines kinderpsychologischen Forschungsvorhabens das Verhalten von 150 Knaben und Mädchen bei der Lösung einer Aufgabe zu studieren, die er selbst erdacht hatte: «Ich beschaffte einen Spieltisch und eine zufällige Auswahl von Spielsachen und lud die Knaben und Mädchen der Untersuchung, jeweils einzeln, ein, hereinzukommen und sich vorzustellen, der Tisch wäre ein Filmatelier und die Spielsachen Schauspieler und Kulissen. Ich forderte die Kinder dann auf, <auf den Tisch eine aufregende Szene aus einem ausgedachten Film aufzubauen>; (a. a. O., S. 92). Mit den Filmszenen hatte Erikson Pech. Unter den rund 450 Arrangements, die im Lauf von zwei Jahren auf diese Weise zustande kamen, gab es nicht mehr als ein halbes Dutzend echte Filmszenen Erikson fährt fort: «Statt dessen arrangierten die Kinder, nach einen Moment des Nachdenkens, wie von einem inneren Vorhaben geleitet ihre Szenen, erzählten mir eine Geschichte mehr oder weniger aufregenden Inhalts und überließen mir die Aufgabe, herauszufinden, was (wenn überhaupt etwas) diese Gestaltungen bedeuteten» (S. 92f.). Im Lauf seiner Beobachtungen gewann Erikson die Einsicht, daß die Arrangements der Knaben sich von denen der Mädchen in charakteristischer Weise unterscheiden: «Der signifikanteste Geschlechtsunterschied lag in der Tendenz der Knaben, Strukturen, Gebäude, Türme oder Straßen zu bauen; die Mädchen neigten dazu, den Spieltisch als Inneres eine Hauses zu. verwerten, wobei sie Bauklötze nur in einfacher Weise, in geringer Zahl oder gar nicht benutzten. Hohe Strukturen also überwogen bei den Gestaltungen der Knaben. Aber das Gegenteil der Erhebung, der Absturz, war für sie ebenso typisch: Ruinen oder eingestürzte Strukturen fanden sich ausschließlich bei den Jungen . . . Alle diese Variationen machen deutlich, daß die Variable hoch/tief eine männliche Variable ist» (S.97). «Die Aufbauten der Knaben enthielten weniger Menschen und Tiere innerhalb eines Hauses. Eher kanalisierten sie den Verkehr von Autos, Tieren und Indianern. Und sie blockierten den Verkehr: der einzelne Polizist war die von den Jungens am häufigsten verwendete Puppenfigur» (S.98). Anders bei den Mädchen: «Wenn <hoch> und <tief> männliche Variablen sind, dann sind <offen> und <geschlossen> weibliche Modalitäten. Von einer überwiegenden Anzahl von Mädchen wurde das Innere von Häusern ohne Wände aufgebaut... In vielen Fällen drückten diese Interieurs ausgesprochenen Frieden aus» (S.99). Erikson verglich seine Beobachtungen mit der Morphologie der Sexualorgane: «Auf der männlichen Seite äußere Organe, aufrichtbaren und eindringenden Charakters, die höchst bewegliche Spermazellen leiten; auf der weiblichen Seite innere Organe mit einem vorraumartigen Zugang, der zum statisch erwartenden Ovum führt» (S.100).
    Wegen dieser Theorie - Erikson führte sie in dem Essay «Inner and Outer Space: Reflections on Womanhood», in: Daedalus, 1964 weiter fort - wurde der Gelehrte scharf kritisiert, wegen des in seiner Theorie enthaltenen Biologismus. In seinem neuen Buch Life History and the Historical Moment (Norton) nimmt Erikson jedoch nichts von seinen diesbezüglichen Auffassungen zurück.

  24. Geborgenheitsbilder: Vgl. Bloch, Prinzip Hoffnung S.1536 (»Inburgtheit») und S.1537: «Auf diese Art schmelzen in der mystischen Burg Dualismen zusammen, die in der üblichen Welt aus Ich und Nicht-Ich ihren Anhalt haben. Und eben dieser Anhalt verschwindet in der Mystischen Union, weil sie den schärfsten Dualismus selbst verschwinden läßt:
    die Burg hat keine Scheidewand mehr zwischen Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Subjekt und Substanz; sie selber ist ohne Anderheit gebaut.»

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