Fünfte Lektion

Das dritte, was die Anfänger verlernen müssen, ist die Fügsamkeit gegenüber siegreichen Traditionen

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Zunächst ein Merksatz, welchen ich dem Buch Not in God's Image von Julia O'Faolain und Lauro Martinez entnehme. Das Buch enthält eine Sammlung von Texten über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, von der altgriechischen Epoche bis zum Viktorianischen Zeitalter in England. Ich darf den Merksatz zunächst im Original anführen, wegen seiner kühlen Knappheit im Englischen:
Most opinions coming down to us from the past are those of victors. Meine Übersetzung:
Die allermeisten Überzeugungen, die aus der Vergangenheit auf uns gelangen, sind die von Siegern.
Ein lehrreiches und für die Mystik wichtiges Beispiel für eine siegreiche Tradition ist die Herrschaft der Männer über die Frauen. Seit es die sogenannten Hochkulturen gibt, also seit mehr als 5000 Jahren, ist diese Art Herrschaft eine Grundbedingung für die Kulturentwicklung geworden, bis heute.
Daß es auch andersherum geht, zumindest bei den Wilden, steht fest; die Völkerkundler haben an die 100 Gesellschaften gefunden und untersucht, deren Handel und Wandel sich an den Frauen orientiert. Außerdem gibt es begründete Vermutungen, daß bestimmte schriftlose Völker der Vergangenheit mutterrechtlich organisiert waren, beispielsweise die Kelten im vorchristlichen Irland, oder die neusteinzeitlichen Anatolier.
Der Ausdruck «mutterrechtlich» geht auf ein Buch zurück, das 1861 von J. J. Bachofen veröffentlicht wurde: Das Mutterrecht. Die These dieses Buches ist bis heute umstritten; ihr zufolge durchlaufen alle menschlichen Gesellschaften drei Stadien der Familienorganisation: die der Promiskuität, die des Mutterrechts und die des Patriarchats. (Bachofen zog die «milde Humanität» der Frauenordnung dem Männerregiment vor.) Tatsache ist jedenfalls, daß alle sogenannten Hochkulturen von den Männern gemanagt worden sind. Die Erfindung des despotischen Königtums und der stehenden Heere, der Sklaverei und der Todesstrafe fällt mit der Erfindung der Schrift zusammen, welch letztere die Priesterkönige für ihre umfangreiche Buchhaltung benötigten. Mit der Buchhaltung betritt der Mensch nach einer bekannten Redensart, das Licht der Geschichte.
Gegenüber dieser Art Licht ist von seiten der Anfänger der innere Vorbehalt angebracht.
Oder, mit den Worten der Jungfrau von Orleans, gerichtet an die hochmögenden Herren der Inquisition:
Das ganze Licht ist nicht für euch allein da!
In der Redewendung vom «Licht der Geschichte» bekundet sich der beiläufige Hochmut der siegreichen Kathederwissenschaft: was vor der Erfindung der Schrift sich unter den Menschen abgespielt hat, liegt in fragwürdiger Dunkelheit und verhält sich zu den Schriftkulturen wie die Wilden zu den Zivilisierten.
So lautete der selbstverständliche Glaube der Gelehrsamkeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der imperialistischen Ära. In dieser Sicht der Dinge hatte sich die Menschheit aus niedrigen Anfängen bis zu ihrem (damals) höchsten Stand an Zivilisiertheit entwickelt, wie ersichtlich aus den glanzvollen Weltausstellungen jener Epoche. Homer und Sokrates, so geschätzt sie auch waren, mußten in den Augen unserer gebildeten Großväter hinter dem Eiffelturm zurücktreten, und noch das europäische Mittelalter galt den Lesern der «Gartenlaube» als dunkel. Außenseiter wie Bachofen und Marx, die dem geradlinigen und rüstigen Fortschreiten der Menschheit von der Höhle der Neandertaler bis zum eleganten Club in der City von London nicht so recht trauen mochten, fanden unter den gebildeten Kreisen der Belle Epoque keinen Beifall.
Die siegreiche Geschichtsauffassung des bürgerlichen Jahrhunderts hat sich, trotz einiger unangenehmer weltpolitischer Zwischenfälle nach 1914, recht gut gehalten, in den Schulen und Universitäten.
Für die Anfänger ist diese Geschichtsauffassung leider unbrauchbar.
Die Anfänger sind vielmehr eingeladen, das heimliche Licht der Besiegten zu suchen.
Beispielsweise im attischen Eleusis, einem der Geburtsorte der europäischen Mystik.
Als die eleusinischen Mysterien vom siegreichen Christentum verdrängt wurden, waren sie bereits 1500 Jahre alt. Trotz ihres hohen Alters ist ihre Grundanschauung keineswegs mysteriös, sondern verständlich, und deshalb ist ihre Betrachtung lehrreich.
Eleusis (heute Elefsis), an der gleichnamigen Meeresbucht, liegt 20 km von Athen und hat 11000 Einwohner. Vom quadratischen Weihetempel, der in die sogenannte mykenische Periode (1600-1150v. Chr.) zurückreicht, sind nur noch einige Trümmer vorhanden.
Der Tempel stand bis 395 n.Chr. in Betrieb und war durch Jahrhunderte ein weltberühmter Wallfahrtsort, als Sitz der eleusinischen Mysterien. Zwischen Athen und Eleusis gab es einen «heiligen Weg». Auf diesem zogen die Athener in fröhlicher Prozession zur Kornmutter Demeter, und der Saatkorb der Göttin wurde mitgeführt.
Diese herbstlichen Feiern hatten landwirtschaftlichen Charakter:
Sie fanden zur Zeit der Aussaat statt. Das Saatgut, in Körben und Krügen, wurde aus den Speicherräumen geholt. Die Speicher waren unter der Erde, wegen der nötigen Kühle. (Ärmere Bauern vergruben die Körbe mit dem Saatgut einfach in der Erde.)
Ein landwirtschaftlicher Zyklus also: Im Mai und Juni, zur Erntezeit, wurde das Saatgut vergraben. In der Sprache der Bauern hieß dieser Arbeitsvorgang «der Weg nach unten». Im Herbst, zur Aussaat, grub man die Behälter wiederum aus - «der Weg nach oben».
Oben: Das ist der Acker, auf dem arbeitet der Bauer, auf dem steht das Korn. Dann wird es abgeschnitten, und die besten Körner werden nach «unten» gebracht. Das Saatgut ist dem Bauern ein Unterpfand für die Nahrung des kommenden Jahres, es stellt seinen Reichtum dar - das also, was er nicht alsbald verbraucht.
Soweit die Tatsachen. Das, was der Fall ist. Die Rede über das, was der Fall ist, heißt im Altgriechischen: Logos.
(Im Jiddischen: Tacheles)
Dann kommen die Gefühle, die Reaktionen auf die Tatsachen, die Dichtung, die Fiktion. Im Altgriechischen: Mythos.
(Im Jiddischen: Schmonzes.)
Auf dem säuberlich gefegten Dreschplatz hocken die Bauersfrauen. Sie sind schwarz gekleidet, und jede hat eine Sichel vor sich liegen. Im Zentrum des Kreises stehen die Körbe mit dem Saatgut. Wir befinden uns im alten Griechenland, irgendwann zwischen 5000 und 2000 vor Christi Geburt, in der Gegend des heutigen Elefsis. Die Bauersfrauen sind mit der Ernte zufrieden, und sie haben ein schlechtes Gewissen, wegen des gewaltsam abgeschnittenen Korns. Vorsichtshalber beklagen und beweinen sie das getötete Korn, das befindet sich in den Saatkörben.
Ein zärtlicher, besänftigender Singsang, in welchem das Saatgut zum Kornmädchen wird, das muß jetzt hinunter in die Erde, bis zum Herbst: Daß du uns ja nicht da drunten bleibst, für immer!
Die Bangigkeit vor der Dürre des Sommers. Wenn die Dürre länger währt als der Sommer, dann muß man hungern.
Die unverheirateten Bauernmädchen tanzen einen langsamen Reigen, wie bei einem Begräbnis. Dann werden die Körbe mit dem Saatgut in die Erde versenkt.
Den neugierigen Kindern, denen der Sinn der Veranstaltung nicht klar ist, erzählen die Mütter eine kleine Geschichte:
Das Kornmädchen, schöner als alle anderen Mädchen, gefiel dem Herrn der Unterwelt, und er raubte es ihrer Mutter. Auf einer blühenden Wiese spielte das Kornmädchen mit ihren Freundinnen, da kam der Totenkönig und nahm es mit sich. Alsbald verwelkten die Blumen, von den Bäumen fielen die Blätter, und ein Jahr lang gedieh kein Halm auf der Erde. Und dann?
Dann kam Hermes, stieg in die Erde hinunter und verhandelte mit dem Herrscher der Toten. Er sagte: Wenn die Dürre nicht aufhört, dann sterben alle Menschen, und die Unterwelt hat nicht Platz für die vielen Toten.
Der Herr der Unterwelt sah das ein und ließ das Kornmädchen frei, unter einer Bedingung. Ein Drittel des Jahres müsse das Kornmädchen bei ihm verbringen, vom Juni bis zum September. So geschah es, und soeben hat das Kornmädchen wieder hinunter müssen. In dieser Zeit ist alles dürr auf der Erde. Im Herbst, wenn das Mädchen wieder nach oben darf, kommt die Erleichterung. Dann säen wir Gerste und Korn, und die Kinder haben zu essen.
Im Herbst gibt es das fröhliche Fest, mit allerlei Fruchtbarkeitssegen und Lustgeschrei. In einem großen Korb sitzt das schönste Mädchen des Dorfes, das steigt dann aus seinem Versteck und wälzt sich auf dem Acker. Auch die anderen Frauen wälzen sich auf dem Saatfeld, und die Männer des Dorfes erleben eine großartige Stunde.
Prof. Murray bemerkt hierzu, daß die griechischen Mysterien in ihrer Urphase nichts anderes waren als die Religion einer bäuerlichen Bevölkerung. Zur Geheimhaltung bestand keine Veranlassung, die alten Geschichten wurden getreulich weitererzählt. In deren Mittelpunkt stand die junge Frau als Inbegriff der Fruchtbarkeit. Die Namen, die man ihr später gab (Kore, Persephone), sind ungewissen Ursprungs. Demeter, ihre Mutter, verdankt ihren Namen wahrscheinlich den indoeuropäischen Einwanderern.
Die Einwanderer. Sie sprachen andere Dialekte (indoeuropäische) als die Einheimischen, verehrten andere Götter und kamen erstmalig um das Jahr 2000 v. Chr. nach Griechenland. Ein paar hundert Jahre dauerte diese Okkupation, und nicht immer verlief sie mit sanfter Gewalt.
Um 1600 v.Chr. gibt es in Griechenland die ersten Despoten, die bauen gewaltige Burgen - in Mykene und Tiryns, Athen, Theben und Gla, auch im nördlichen Iolkos. Die Fürsten lassen sich mächtige Gräber errichten, Steinblöcke von 100 Tonnen Gewicht werden dabei bewegt. Ferner ist zu berichten, daß es eine herrschende Schicht gibt, die ist kriegerisch und verfügt über Streitwagen und lange Schwerter, verschanzt sich in Palastfestungen und kontrolliert von ihnen aus das bäuerliche Hinterland.
Auch in Eleusis entsteht eine Burg und ein Tempel.
So sind die hochkulturellen aggressiven Errungenschaften mit einiger Verspätung auch nach Griechenland gekommen, die Bauern mußten fronen und Kriegsdienst leisten, und mit der guten alten Zeit war es zu Ende.
Die neuen Herren haben in Eleusis einen Tempel erbaut, der gehört in die erwähnte mykenische Kultur, eine bronzezeitliche, mit der soeben skizzierten Herrschaftsgestalt, inklusive Schrift, zum Zweck der Palastverwaltung. Was in diesem Tempel gefeiert wurde zur damaligen Zeit, ist unbekannt. (Die ersten schriftlichen Hinweise auf die eleusinische Frömmigkeit stammen aus dem 8. Jahrhundert.)
Es gibt jedoch drei sichere Anhaltspunkte für das Verständnis der Mysterien von Eleusis.
Erstens: Der altagrarische Ursprung der eleusinischen Urmythe. (Ich habe sie vorhin sozusagen rekonstruiert.)
Zweitens: Die Errichtung eines Tempels in Eleusis, zur Zeit der Fürstenherrschaft der mykenischen Ära.
Drittens: Die Trennung zwischen «Eingeweihte» und Laien - der für die Entstehung der Mystik von Eleusis springende Punkt. Diese Trennung ist der homerischen Dichtung des 8. Jahrhunderts bereits bekannt, muß also vor Homer stattgefunden haben.
Die entscheidenden Fragen lauten somit:
Warum ist in Eleusis die fromme Geheimhaltung entstanden?
Was hatte man zu verbergen und vor wem?
Wer hatte ein Interesse an Geheimhaltung?
Die Antwort auf diese Fragen ist für die Anfänger der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Mystik.

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Eine Volksweisheit aus Dahome (Afrika) unterscheidet zwischen drei Arten von Freunden:
Der erste sagt alles, was er weiß.
Der zweite erzählt die Hälfte von dem, was er weiß.
Der dritte steht an der Türschwelle und horcht, soviel er kann.
Wie man sieht, verstehen die Neger in Dahome eine Menge von praktischer Soziologie. Sie wissen: Information ist eine Waffe im sozialen Kampf. Das Vorhandensein von Geheimnissen ist ein sicheres Indiz für das Vorhandensein von Konflikten.
Nicht nur die Neger in Dahome verfügen über diese soziologische Einsicht. Auch Industriespione, Geheimdienst-Organisationen und Journalisten profitieren von ihr. (Die letztgenannte Gruppe gehört zu den Freunden der dritten Kategorie.)
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Diese schlichte Lebensregel ist auch den Anfängern bekannt, sie bedarf keiner besonderen Lektion. Sie bleibt so lange in Kraft, als es Konflikte gibt.

Die Mystik hat sich an diese Regel gehalten, in exemplarischer Weise. Da die Mystik nie an der Regierung war, ist ihre Verschwiegenheit als oppositionelle anzusprechen.
Die Mystik erzählt die Hälfte von dem, was sie weiß.
Die andere, gefährliche Hälfte bleibt ein Geheimnis. Sie wird nur unter den Freunden der ersten Kategorie weitergesagt. Die Freunde der ersten Kategorie sind die Eingeweihten (griechisch: Mysten). Sie werden sorgfältig geprüft, bevor ihnen die Geheimnisse mitgeteilt werden. Die wichtigste Tugend, die von den Kandidaten erlernt werden muß, ist die Verschwiegenheit. Die sprachliche Wurzel für Mystik, im altgriechischen Original, bedeutet soviel wie:
Den Mund halten.
Jemanden einweihen hieß ursprünglich:
Ihn zum Mundhalten bringen.
Bevor ich darangehe, die Anfänger in die Mysterien von Eleusis einzuweihen, muß ich eine Warnung aussprechen. Ich muß davor warnen, die Kontrolleure in einen Topf mit den Kontrollierten zu werfen.
Die Kontrolleure verfügen nämlich ebenfalls über die Technik der Einweihung, wie ersichtlich aus der Geschichte der hochkulturellen Priesterkasten.
Diese Priesterkasten, erstmals in Mesopotamien und in Ägypten auftretend, zur Zeit der Erfindung der sogenannten Hochkulturen, haben die Bevölkerungen dieser Länder kontrolliert, gemeinsam mit den Königen und dem Adel. Bei den Priestern wurde das Lesen und das Schreiben gehütet, die Kalenderbestimmung und die Astronomie und viele sonstige nützliche Kenntnisse zur Leitung und Lenkung der Völker.
Daß Wissen auch Macht bedeutet, ist für jeden Priester eine selbstverständliche Wahrheit. Die Priester haben sich, bis herauf in die Neuzeit, hartnäckig dagegen gewehrt, das Analphabetentum der Bevölkerungen zu beseitigen. Sie haben sich stets an die Regel des weisen Lao-tse gehalten, wie sie im 3. Kapitel des «Tao te King» niedergelegt ist; sie empfiehlt eine Politik, welche sich auf die Unwissenheit des Volkes stützt.
Auch die Priester haben also ihre Zulassungsprüfungen und Einweihungen, wie ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann. Auch die Priester werden zum Mundhalten gebracht. Sie lernen, mit vielen Worten wenig zu sagen, weniger als die Hälfte von dem, was sie wissen. (Diese Kunst ist inzwischen auch unter den Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzutreffen.)
Die Anfänger sind eingeladen, zwischen den Regierungsgeheimnissen und den Geheimnissen der Regierten zu unterscheiden. Zu den letzteren gehören die Mysterien von Eleusis.
Wie sie dazu geworden sind, läßt sich rekonstruieren.
400 Jahre lang, wie berichtet, wurden die Bauern in Eleusis von den bronzezeitlichen Herrschaften regiert.
Dann, um 1200, kamen wiederum Einwanderer, aus dem Norden, und zerstörten die mykenischen Burgen. Auf schriftliche Aufzeichnungen legten die neuen Herren keinen Wert, weshalb die Periode zwischen 1200 und 800 v.Chr. in Griechenland von den Historikern das «dunkle Zeitalter» genannt wird.
Gar so dunkel kann es aber nicht gewesen sein, denn an seinem Ende gibt es in Eleusis bereits die verschwiegenen Eingeweihten, als Hüter eines heimlichen Lichts.
Die neuen Herren verfügten über eiserne Waffen, was in den Augen unserer Geschichtsphilosophen einen Fortschritt gegenüber dem Bronzezeitalter darstellt. Von diesem Fortschritt haben die Bauern in Eleusis wenig gemerkt; nach wie vor mußten sie den Rittern und Recken dienen, die liebten den Kampf, die Jagd und die Frauen. In den homerischen Epen sind diese Raufbolde hinlänglich glorifiziert worden, sie gehören zum Bildungsgut.
Nicht Agamemnon und Achill haben jedoch die Anfänger zu interessieren, auch nicht Zeus, der oberste Herr und Blitzeschleuderer und männliche indoeuropäische Tagvater.
Sondern das vom Fortschritt besiegte Kornmädchen.
Zäh haben die vom Fortschritt überrumpelten Bauern am Hinunterschicken und Heraufholen des Kornmädchens festgehalten, am jahreszeitlichen Zyklus ihrer bescheidenen Ackerfeste, trotz neuer Götter und eiserner Errungenschaften.
Irgendwann ist einem unbekannten Genie in Eleusis ein Licht aufgegangen, während der Zeit des listenreichen Odysseus.
Der neue Gedanke hat zweifachen Sinn, entsprechend dem Hinunterschicken und dem Wiederauftauchen des Saatguts. Er lautet:
Man hat uns hinuntergeschickt ins Nicht-Adligsein, hat uns Fronburgen vor die Nase gesetzt. Aber wie Kore tauchen wir auf, unbesiegbar und trotzend dem Tod.

Ein gefährlicher und keineswegs selbstverständlicher Gedanke.
Wer immer ihn zuerst gedacht hat, konnte nicht wissen, daß er einen durchaus keimkräftigen Samen gefunden hatte. Der hat schließlich, nach langen Auseinandersetzungen in Athen und Umgebung, die Demokratie gebracht, nach Monarchie und Aristokratie und Tyrannis, real genug, im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt, inklusive Beteiligung der Bauern am politischen Leben.
An dieser Stelle darf ein Merksatz eingeschoben werden. Er stammt von Ernst Bloch und lautet:
Mysterien sind das Anti-Triviale schlechthin.
Meine Mutter hat nie behauptet, sie sei gern ins Büro gegangen, 45 Jahr lang jeden Tag außer Samstag und Sonntag und drei Wochen Urlaub im Jahr. In der Früh wurde ihr die Zeit immer knapp, denn sie hatte einen gesegneten Schlaf. So lief sie mehr als sie ging zur Straßenbahn-Haltestelle, um doch noch pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Daß meine Mutter ins Büro gehen mußte, ist eine triviale Tatsache. Meine Mutter hat das auch recht genau gewußt. Sie drückte ihr Wissen mit einfachen Worten aus. Sie sagte:
Eigentlich bin ich nie besonders gern ins Büro gegangen.
Gelegentlich zündete sie dem heiligen Antonius eine Kerze an.
Das Anzünden der Kerze darf als nicht-trivial bezeichnet werden.
Das Anzünden der Kerze ist eine Verrichtung, und keineswegs eine rein gedankliche Tätigkeit. Eine rein gedankliche Tätigkeit lag meiner Mutter eher fern; sie hatte keine Zeit dazu. Gleichwohl wäre es unangebracht, das Anzünden der Kerze als gedankenlose Tätigkeit zu bezeichnen. Die Gedanken, die meiner Mutter beim Anzünden der Kerze durch den Kopf gingen, wurden von ihr nicht ausgesprochen.
Sie hielt diesbezüglich den Mund.
Es läßt sich sagen, daß das Kerzenanzünden meiner Mutter in einem Zusammenhang mit erfüllten und mit unerfüllten Wünschen stand. Die erfüllten Wünsche waren trivial.
Die unerfüllten Wünsche waren nicht-trivial. Sie liefen sozusagen ins Unendliche, und deshalb waren sie auch unaussprechlich. Ausgesprochen wurde von meiner Mutter lediglich der Wunsch nach einem Haupttreffer. Der Haupttreffer war für meine Mutter der Inbegriff des höchsten irdischen Glücks.
Martin P. Nilsson, dessen zweibändige Geschichte der griechischen Religion als wissenschaftliches Standardwerk gilt, hat die eleusinischen Mysterien in den Rang der «erhabensten Religionsform Griechenlands» erhoben. «Ihre Eigenart», so Nilsson, «war beschlossen in einem tiefinnerlichen, zarten religiösen Gefühl.»
Eine nicht besonders aufschlußreiche Feststellung.
Ein tiefinnerliches und zartes Gefühl als solches braucht man nicht geheimzuhalten; man kann es getrost veröffentlichen, wie Rilke seine Gedichte. So harmlos wie Rilkes Gedichte ist die eleusinische Mystik nicht gewesen. Ihre Gefährlichkeit lag im Auferstehungsglauben. Der mag durchaus zart gewesen sein - denn er war ja damals noch so jung. Auch die (tiefe) Innerlichkeit wollen wir ihm keineswegs absprechen
- im Zeitalter des muskelstarken Achill.
Was hätte er draußen anfangen sollen, der neue Auferstehungsglaube, unter den Agamemnons?
So hielt er sich lieber verborgen, der nunmehr humanisierte Glaube an den «Weg nach oben».
Sein Credo auf eine knappe Formel gebracht, könnte wie folgt ausgedrückt werden:
Ich glaube an ein Leben vor dem Tod.
Ihre jahrhundertelange Beharrlichkeit ist bemerkenswert. So weit, so gut, bezüglich zarter Innerlichkeit.
Freilich, einen Vorwurf können wir Nusson nicht ersparen.
Wie konnte er nur übersehen, daß das sanfte Flüstern der Hoffnung den Schrei nach Freiheit in sich enthält? Hat Nilsson niemals dem Chor der Gefangenen gelauscht, in Beethovens «Fidelio»?
Da singt einer, scheinbar ganz kirchenfromm:
Wir wollen mit Vertrauen auf Gottes Hilfe bauen.
Die Hoffnung flüstert sanft mir zu: Wir werden frei, wir finden Ruh.
Sofort, auf dieses diskrete Signal hin, beginnt ein Pochen in der Musik, ein Drängen, zunächst piano, aber keine Sorge, das schwillt sehr schnell an und wächst und treibt den Chor der Gefangenen an und ist alsbald ein Forte:
Rettung!
Freiheit!
Dann die Dämpfung, aufgrund einer Beachtung der Außenwelt:
Sprecht leise! Haltet euch zurück!
Wir sind belauscht mit Ohr und Blick!
HaI tet euch zurück, ihr Mysten von Eleusis.
Sprecht leise.
Ein paar hundert Jahre werdet ihr schon noch warten müssen bis zur Auferstehung, wir sind nicht in der Oper. Der Weg nach oben ist lang und mühsam, und es wird fürchterliche Rückschläge geben. Nach der kurzen Epoche der Demokratie kommen dann neue Könige und Kaiser, weit mächtigere als jemals zuvor, und vorbei wird es sein mit der Volksversammlung, bis auf weiteres.
Christliche Kaiser wird es geben, später wird es den Sultan geben, wir befinden uns bereits in der Neuzeit, wir befreien uns von der Türkenherrschaft, später werden wir von deutschen Truppen besetzt, nochmals Befreiung, dann kommt die Junta und vermietet den Amerikanern den Hafen von Elefsis als Flottenstützpunkt, im Jahr 1972. Im Herbst 1975 müssen die Amerikaner wiederum fort, auf Betreiben der Regierung Karamanlis.
Vom quadratischen Weihetempel, der in die sogenannte mykenische Periode zurückreicht, sind nur noch einige Trümmer vorhanden.
Die richtigen Antworten auf die in Nr.8 gestellten Fragen lauten somit:
Warum ist in Eleusis die fromme Geheimhaltung entstanden?
Weil die Zustände für die Bauern nicht besonders erfreulich waren.
Was hatte man zu verbergen und vor wem?
Den Auferstehungsglauben vor den aristokratischen Raufbolden.
Wer hatte ein Interesse an Geheimhaltung?
Diejenigen unter den Bauern, die aus der BetäÜbung und Lethargie jahrhundertelanger Bedrückung erwacht waren.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Julia O'Faolain-Lauro Martinez, Not in God's Image, New York: Harper Torchbooks, 1973, Seite XV

  2. Mutterrechtlich organisiert: Vgl. G. R. Taylor, Sex in History, New York: Harper Torchbooks, 1973, Seite 25. - Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, Seite 135-142.

  3. J. J. Bachofen, Mutterrecht und Urreligion, Stuttgart: 1954.

  4. Mit den Worten der Jungfrau: Der Prozeß Jeanne d'Arc, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1961, Seite 30.

  5. Gilbert Murray, Five Stages of Greek Religion, New York: 1930.

  6. Die Regel des weisen Lao-tse: «Deshalb geht die Polifik des Philosophen darauf aus, das Volk wunsch- und bedürfnislos zu machen, aber seine Bäuche zu füllen; seinen revolutionären Willen zu schwächen, aber seine Knochen hart zu machen - stets also eine Politik zu betreiben, die sich auf die Unwissenheit und das Nichtaufbegehren des Volkes stützt. So wird man auch die Intelligenz in Schach halten, daß sie nicht wagt, sich zu rühren.» (Übersetzung von Haymo Kremsmayer, Salzburg: JgontaVerlag, 1947.)
    Das hochkulturelle Bildungsmonopol der Priester- und Mandarinskasten wurde erstmals in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausend durchkreuzt, von den Juden und den Griechen. Bei den Juden gab es eine des Lesens kundige (männliche) Oberschicht, bei den Griechen eine entwickelte Demokratie für die (männlichen) Voll-Bürger. Vgl. Talcott Parsons, Sodeties, Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 1966, Seite 96-108.

  7. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1959, Seite 1518.

  8. Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, München: 1955 u. 1961, Seite 653.

  9. Auferstehungsglaube: Dessen klassenkämpferische Motorik - als Weg nach oben - ist von der akademischen Theologie bislang eher vernachlässigt worden.

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