Zehnte Lektion

Das fünfte, was die Anfänger lernen müssen, ist der Glaube an Wunder


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Zuerst kommt eine Geschichte. In ihr ist - für mich - alles enthalten, was ich mit meinem Buch ausdrücken möchte. An ihren Reaktionen auf sie können die Anfänger testen, inwieweit sie meinem Unterricht gefolgt sind. Die Geschichte stammt aus dem 13. Jahrhundert; sie ist eine italienische Volkslegende, und ihr Gegenstand sind Franz und Klara von Assisi.
Hier ist der Originaltext:
Eines Tages kamen Franz und Klara von Spello gen Assisi und wurden dabei nicht wenig beunruhigt. Sie waren nämlich für eine Weile in ein Haus getreten, wo man ihnen auf ihre Bitte etwas Brot und Wasser gab. Aber dabei hatten sie böse Blicke auf sich gezogen, und sie mußten peinliches Geflüster mit versteckten Anspielungen und Witzen hinnehmen. Schweigend gingen sie weiter. Es war die kalte Jahreszeit und das Land ringsum mit Schnee bedeckt. Schon begann es am Horizont zu dunkeln. Plötzlich sagte Franz:
Schwester, hast du verstanden, was die Leute von uns gesagt haben? Klara gab keine Antwort. Ihr Herz war wie von Zangen gepeinigt, und sie spürte, wenn sie etwas sagen würde, hätte sie die Tränen nicht unterdrücken können.
Es ist Zeit, uns zu trennen, sagte schließlich der heilige Franz; du wirst noch vor dem Einbrechen der Nacht im Kloster sein. Ich werde allein gehen und von weitem folgen, wie Gott mich führt.
Da warf sich Klara mitten auf dem Wege in die Knie. Nach einer Weile hatte sie sich gefaßt, stand auf und ging gesenkten Hauptes weiter, ohne rückwärts nach ihm zu schauen.
Der Weg führte durch einen Wald. Auf einmal hatte sie nicht mehr die Kraft, so ohne Trost und Hoffen, ohne ein Abschiedswort von ihm zu gehen. Sie wartete.
Vater, sagte sie, wann werden wir uns wiedersehen?
Wenn der Sommer wiederkommt, wenn die Rosen blühen. Da geschah etwas Wunderbares. Auf einmal war ihnen, als blühten ringsum auf den Dolden der Wacholdersträucher und auf den von Reif bedeckten Hecken eine Unzahl von Rosen.
Nach dem ersten Staunen eilte Klara hin und pflückte einen Strauß von Rosen und legte ihn Franz in die Hände. Von diesem Tage aber waren Franz und Klara nie mehr getrennt.
In der Geschichte ist - für mich - nur ein einziger falscher Ton:
Während Franz seine Klara mit «Schwester» anredet, spricht sie ihn mit «Vater» an.
Sonst aber stimmt alles.
Diejenigen Anfänger, die sich von der Geschichte angesprochen fühlen (die mit ihr einverstanden sind, denen sie gefällt usw.), dürfen den nächsten Abschnitt (Nr. 40) überblättern.

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Hier ist ein kurzer Kommentar zur Geschichte vom Rosenwunder (siehe Nr. 39). Die Numerierung des Kommentars bezieht sich auf die Lektionen 1-9, was zugleich eine Art Wiederholung des bisher durch-genommenen Lehrstoffes ist.
1 Die Bewegungsrichtung der Legende ist bestimmt durch: Nähe, Niedrigkeit, Heimlichkeit.
2 Die von Franz und Klara gewählte Lebensform ist rücksichtslos.
3 Der Inhalt der Legende enthält keinerlei Begriffsbestimmung (Definition).
4 Die Legende enthält keine Täuschungsabsicht (Mystifikation).
5 Die Tendenz der Legende ist außenseiterisch und
6 undogmatisch.
7 Das Verhalten der beiden Personen ist direkt und spontan.
8 Klara nimmt Rücksicht auf ihre Bedürfnisse (Trost, Hoffnung, Abschiedswort).
9 Die Hindernisse fürs Liebesglück kommen von außen und werden als solche erkannt und beantwortet. Eine Verinnerlichung dieser Hindernisse (durch Opferbringen) findet nicht statt.
Das Rosenwunder signalisiert die sinnliche Unterbrechung der (schlechten) Wirklichkeit, ja deren Verwandlung. Es ist, weil in den handelnden Personen fundiert, nicht-illusionär. Es geschieht im Augenblick, mithin zeitlos (=ewig). Nachher sind die handelnden Personen nicht mehr dieselben wie vorher.
Die Geschichte enthält keine Antwort auf die Frage, ob die Rosen « in Wirklichkeit» (tatsächlich, zweifellos, bewiesenermaßen usw.) geblüht haben. Es liegt in der Absicht der Geschichte, diese Frage und das ihr zugrundeliegende Verhältnis des Fragenden zur Wirklichkeit überflüssig zu machen.
Skeptische Anfänger werden gebeten, die folgenden Fragen naturwissenschaftlich korrekt zu beantworten:
Ist es möglich, daß mitten im Winter und unter natürlichen Bedingungen Rosen blühen?
Die richtige Antwort lautet: ja, allerdings mit geringer Wahrscheinlichkeit.
Ist es möglich, daß auf Wacholdersträuchern Rosen wachsen?
Ja, mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit.
Ist es möglich, daß mitten im Winter und unter natürlichen Bedingungen auf Wacholdersträuchern Rosen blühen? Ja, mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit.
Diese (äußerst geringe) Wahrscheinlichkeit läßt sich mit jener vergleichen, derzufolge unter den im Kosmos herrschenden chemisch-physikalischen Bedingungen ein Himmelskörper entstehen konnte, auf dem sich leben läßt. Die Entstehung unserer Erde läßt sich, je nach weltanschaulicher Geschmacksrichtung, als Zufall oder als Wunder bezeichnen.
Allerdings ist die Kategorie des Zufälligen heute zeitgemäßer (moderner) als die des Wunderbaren.
Wer an Wunder glaubt, verhält sich unzeitgemäß.

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Die Stadt Assisi (25 000 Einwohner) liegt in Italien, halbwegs zwischen Florenz und Rom. Im Reiseführer (Michelin) hat sie drei Sterne; das bedeutet: eine Reise wert.
Die Hauptsehenswürdigkeiten von Assisi sind die Basilika San Francesco (drei Sterne), die Kirche Santa Chiara (zwei Sterne), die Burg (zwei Sterne), der Dom (ein Stern), die Piazza del Commune
(ein Stern), die Via San Francesco (ein Stern), die Kirche San Pietro (kein Stern). In der unmittelbaren Umgebung von Assisi befinden sich der Eremo delle Carceri (zwei Sterne), die Kirche und das Kloster
San Damiano (ein Stern), die Basilika Santa Maria degli Angeh (ein Stern).
Die Basilika San Francesco besteht aus zwei übereinander gebauten Kirchenräumen (der «unteren» und der «oberen» Basilika), einem Kreuzgang aus dem 15. Jahrhundert und einem Kloster. Der gesamte Komplex wird von den Franziskanern betreut. Die Franziskaner sind ein katholischer Männerorden. (Man unterscheidet drei Arten von Franziskanern: die «Minderbrüder», die «Kapuziner», die «Konventualen».) Die Franziskaner zählen zu den sogenannten «Bettelorden».
In der oberen Basilika gibt es Fresken von Giotto und eine Kreuzigung von Cimabue. In der unteren Basilika gibt es weitere Fresken von verschiedenen Künstlern.
In der unteren Basilika wurde kürzlich eine Anlage zur Beleuchtung der Fresken installiert. Die Kosten der Anlage belaufen sich auf etwa eine Million Schweizer Franken.
In San Damiano (3km unterhalb von Assisi) wohnen die Klarissen. Die Klarissen sind ein katholischer Frauenorden. In den Arkaden vot der Kirche San Damiano ist eine Marmortafel zu sehen. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg angebracht und soll an jene Menschen erinnern, die in Konzentrationslagern sterben mußten. Die Koster für diese Tafel waren kaum sehr hoch.
Marmor ist in Italien relativ billig.
Franziskaner und Klarissen wurden von Franz von Assisi (1182-1226) gegründet. Das erste Mitglied der Klarissen war Klara von Assisi (1194-1253).
Franz und Klara waren ein Liebespaar.
Im Gegensatz zu Abaelard und Heloise (siehe Nr. 38) ließen Franz und Klara in ihrer Beziehung große Vorsicht walten. Ihre Ideen - eine Art frühkommunistischer Mystik - waren für sie nicht ungefährlich.
Wegen dieser Ideen wurden am 7. Mai l3l8 die ersten vier radikalen Franziskaner in Lyon auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

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Franz und Klara ließen sich von folgender Zielvorstellung leiten:
Persönliche und kollektive Besitzlosigkeit.
Im Jahr 1322 bezeichnete die Generalversammlung der Franziskaner diese Auffassung als rechtgläubige Lehre. Der Papst verwarf sie als häretisch. Danach dauerte der Streit um die radikale Besitzlosigkeit nicht mehr sehr lange. Die kompromißlosen Franziskaner (genannt «Spiritualen», später «Fratizellen») wurden von der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit bis ins 17. Jahrhundert strafrechtlich verfolgt. Der vollständige Sieg der gemäßigten Richtung wird durch die Installierung der Beleuchtungsanlage in der unteren Basilika (siehe Nr. 41) illustriert.
Ohne ihre Zielvorstellung wären Franz und Klara ein privates Liebespaar wie Abaelard und Heloise und die Legende vom Rosenwunder lediglich eine poetische Geschichte. (Rilke hat, in seinem «Stundenbuch», dem heiligen Franziskus ein Gedicht zugedacht.) Die Anfänger werden gebeten, zwischen privaten Wundern und Wundern mit Signalwirkung zu unterscheiden.
Hätte meine Mutter einen Haupttreffer gemacht, dann hätte es sich um ein privates Wunder (bzw. um einen glücklichen Zufall) gehandelt, um einen Vorfall ohne Signalwirkung für die Umgebung. Auch die in der Einleitung erwähnte Rückkehr des Wellensittichs hat keine Signalwirkung. Es handelte sich dabei um ein privates Wunder, gewirkt vom heiligen Antonius. Der heilige Antonius (von Padua) war ein Franziskaner und lebte von 1195 bis 1231. Wie es der heilige Antonius bewerkstelligte, 700 Jahre nach seinem Tod meiner Mutter einen Gefallen zu tun, ist eine offene Frage. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Wellensittich aufgrund einer Intervention des heiligen Antonius wiedergefunden werden kann, schätze ich auf 10-15, das ist
0,000000000000001.
Meine Mutter spendierte dem heiligen Antonius trotzdem eine Kerze. Sie glaubte an Wunder, mit und ohne Signalwirkung.
Franz und Klara glaubten, wie gesagt, an die individuelle und kollektive Besitzlosigkeit. Für sie stellte diese Lebensauffassung eine Alternative zur geläufigen Wirtschaftsordnung dar. Diese Wirtschaftsordnung drückt sich heute wie damals durch die Verwendung besitzanzeigender Fürwörter aus, zum Beispiel:
Mein Hemd, meine Wohnung, meine Uhr, mein Auto, meine Fabrik. Meine Frau, mein Mann, unsere Kinder. Unsere (nationale) Fußballmannschaft.
In einer franziskanischen Weltsprache würde es keine besitzanzeigenden Fürwörter geben und auch keine Vokabel für «Krieg».
Die Entstehung einer solchen Sprache wäre ein Wunder, mit realen Konsequenzen für jedermann.
Sozusagen ein öffentliches Wunder.
Franz und Klara haben an dieses Wunder geglaubt. Ihr Glaube ist enttäuscht worden.
Daß ihr Glaube enttäuscht wurde, ist kein Wunder. Franz und Klara haben um mindestens 1000 Jahre zu früh gelebt.

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Kirche und Kloster San Damiano liegen einsam zwischen Olivengärten und Feldern. Die Besichtigungszeiten sind von 8 bis 12 Uhr 30 und von 14 Uhr bis zum Abendläuten.
Die Kirche San Damiano ist klein. Als Franz von Assisi geboren wurde, gehörte sie dem Benediktinerorden. Sie war bereits damals ziemlich alt und begann zu verfallen.
Im Jahre 1206 geschah in San Damiano ein Wunder.
Franz - er war damals 24 Jahre alt - kam während eines Spazierganges auf den Gedanken, in der Kirche San Damiano ein Gebet zu verrichten. Er trat ein und betete vor einem Bild des Gekreuzigten. Da kam vom Kreuz eine milde Stimme:
Franz, siehst du denn nicht, wie mein Haus zerstört wird? Geh und stelle es wieder her!
Franz dachte, er solle San Damiano restaurieren.
Er lief nach Assisi zurück, ins väterliche Textilgeschäft. (Der Vater war verreist.) Er nahm einige Stoffballen, lud sie auf ein Pferd und ritt zum Markt in Foligno, wo er die Stoffe und das Pferd verkaufte. Jetzt hatte er Geld zur Renovierung von San Damiano.
Die sogenannte «Drei-Gefährten-Legende», in der diese Geschichte enthalten ist, schildert in der Folge den Skandal, den das Verhalten des Franz auslöste. Der Vater verlangte das Geld zurück, der Bischof von Assisi vermittelte zwischen Vater und Sohn, und Franz erklärte sich bereit, das Geld zurückzugeben. Nun wörtlich:
Rasch begab er sich in ein Gemach des Bischofs, und nachdem er sich aller seiner Kleider entledigt hatte, kam er nackt zurück, legte Kleider und Geld vor dem Bischof und vor seinem Vater in Gegenwart der anderen nieder und sprach: Bis jetzt nannte ich Pietro Bernardone meinen Vater; aber weil ich den Vorsatz habe, Gott zu dienen, gebe ich dem Bernardone das Geld zurück, dessen Verlust ihn erregt hat, nebst den Kleidern, die ich von ihm habe. Und von nun an will ich nicht mehr sagen «Vater Pietro Bernardone», sondern «Vater unser, der du bist im Himmel».
Wie es Jesus Christus bewerkstelligte, 1200 Jahre nach seinem Tod dem Franz von Assisi einen Auftrag zu geben, ist eine offene Frage. Skeptische Anfänger werden dazu neigen, die Stimme des Gekreuzigten als Halluzination zu bezeichnen. Leichtgläubige Anfänger werden die Stimme als göttliche (aus dem Jenseits kommende) Botschaft verehren.
Mein Vorschlag: Man bewerte die Stimme des Gekreuzigten als (seltenes) psychotropes Ereignis (siehe Nr. 23) und stelle die Frage:
Was folgt daraus?
Die wunderbare Stimme von San Damiano hat nicht nur im seelischen Haushalt des Franz eine erstaunliche Veränderung bewirkt (Bruch mit der Familie, neue Lebensform); sie setzte darüber hinaus eine Art gesellschaftlicher Kettenreaktion in Gang, so daß innerhalb weniger Jahre Tausende Menschen ihr Leben in ähnlicher Weise veränderten, wie Franz es getan hatte. Unter diesen Menschen befand sich auch Klara.
In einer Frühlingsnacht des Jahres 1212 entfernte sich Klara heimlich aus dem Haus ihrer (adeligen) Eltern. Sie war 18 Jahre alt. An einem vereinbarten Treffpunkt wartete Franz mit einigen Gefährten. Klara entledigte sich ihrer Schmuckstücke, Franz schnitt ihr die Haare ab und brachte sie in ein Nonnenkloster. Damit war Klara der Gewalt ihrer Eltern entzogen.
Im darauffolgenden Winter geschah das Rosenwunder. Danach zog Klara nach San Damiano, als Nonne. Der Benediktinerorden verzichtete auf seine Besitzrechte, und bald gab es in San Damiano eine Wohngemeinschaft von Frauen und Mädchen, unter dem Schutz des Papstes.
Der Schlafraum und das Speisezimmer der weltflüchtigen Frauen sind bis heute erhalten geblieben, in unverändertem Zustand.
Im Sommer des Jahres 1225 verbrachte Franz einige Wochen im Kostergarten von San Damiano. Er wohnte in einer Schilfhütte, schwer krank und völlig erschöpft. An seinem Körper war ein Wunder geschehen, ein schmerzliches, mit großer Signalwirkung. An den Händen und Füßen hatte Franz die Nagelwunden des Gekreuzigten.
Es blühten die Rosen.
Franz verfaßte ein Gedicht, den sogenannten «Sonnengesang», im Dialekt seiner Heimat. Er hat es Klara und den anderen Frauen vorgesungen, im Speisezimmer, nach dem Essen. Die Melodie ist verlorengegangen.
Gestorben ist Franz ein Jahr später, und alsbald begannen die gemäßigten Franziskaner die Vorbereitungen für den Bau der Basilika in Assisi, sehr zum Ärger der ersten Gefährten des Franz. Auch Klara dürfte über die Baugerüste nicht sonderlich glücklich gewesen sein.
Die ersten Gefährten, aus den Jahren 1209 und 1210: Bernardo, Egidio, Angeb, Leo, Rufino, Junipero, Masseo.
An der Spitze der gemäßigten Richtung stand Elia, einer der ersten akademisch gebildeten Franziskaner. Bevor er zu Franz stieß (um 1215), war er Notar gewesen. Ab 1221 war er der Generalbevollmächtigte der Franziskaner.
Nach dem Tod des Franz ließ Elia auf dem Bauplatz in Assisi eine marmorne Schale aufstellen, zum Zweck der Einsammlung frommer Geldspenden für die Basilika.
Bruder Leo erschien eines Tages mit einigen Genossen auf der Baustelle und zertrümmerte die Opferschale. Bruder Elia ließ ihn dafür von den Arbeitern verprügeln.
Wie man sieht, können verschiedenartige Auffassungen von Mystik gelegentlich zu Gewalttätigkeiten führen.
Daß die Auffassung des Elia siegreich geblieben ist, wurde bereits gesagt. Entsprechend unserer fünften Lektion schlagen wir uns daher auf die Seite Klaras und des Bruder Leo.
Bruder Leo wohnte an dem Ort, wo Klara mit 18 Jahren ihre Haare gelassen hatte. Der Ort hieß «Portiuncula» und lag unten im Tal. Es gab dort eine kleine Kapelle, und Franz hatte sie renoviert. Auf dieser kleinen Parzelle (das ist die Bedeutung des Ortsnamens) hatte Franz mit seinen ersten Gefährten gelebt, mit Billigung des Benediktinerordens, dem die Kapelle gehörte.
(Heute steht diese Kapelle in einer mächtigen barocken Basilika, genannt Santa Maria degli Angeli.)
Bruder Leo konnte schreiben.
Mit Rufino und Angelo stellte er eine Sammlung von Geschichten aus dem Leben des Franz zusammen, im Jahr 1246. Sie wurde 20 Jahre später von der obersten Behörde der Franziskaner verboten, nachdem ein gewisser Bonaventura die Standardbiographie des Franz verfaßt hatte.
Bonaventura (= Giovanni da Fidanza, 1217-1274) war ein Franziskaner der zweiten Generation, Doktor und Professor der Theologie, General des Ordens von 1257-1274, zuletzt auch Kardinal. Er gehörte zur gemäßigten Richtung. Mit dieser Richtung war Leo keineswegs einverstanden, und so fuhr er fort, heimlich seine Erinnerungen an Franz zu Papier zu bringen. Sobald er ein Pergamentblatt vollgeschrieben hatte, brachte er es nach San Damiano, zu den Klarissen.
Dieser Geheimhaltungsvorgang entspricht dem, was unter Nr. 9 über die oppositionelle Mystik gesagt wurde.
Mehrere alte Handschriften, in denen die Notizen des Bruder Leo aufgenommen sind, wurden von der gelehrten Forschung der Neuzeit entdeckt und veröffentlicht. Auf diese Weise kann man - was in der Geschichtswissenschaft ein eher seltener Vorgang ist - einige Nachrichten über die Lebensauffassung der Besiegten erhalten. Im Fall der besiegten Franziskaner war diese Lebensauffassung ebenso einfach wie wirklichkeitsfremd:
Radikale Besitzlosigkeit.
Kein Privateigentum, kein Gruppeneigentum. Eine nach diesem Grundsatz organisierte Menschenwelt ist von der unsrigen so sehr verschieden, daß sie kaum vorstellbar ist. Was am Kommunismus utopisch anmutet, kann in San Damiano besichtigt werden, von 8 bis 12.30 Uhr und von 14 Uhr bis zum Abendläuten.

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Aus den Aufzeichnungen Bruder Leos:
Einst kam der Papst nach San Damiano, um mit Klara über die himmlischen Dinge zu sprechen. Nachdem sie sich lange über den Weg des Heils und die Herrlichkeit Gottes unterhalten hatten, ließ Klara für ihre Schwestern Brote auftragen, damit sie der Papst segne. Klara kniete nieder und bat den Papst um den Segen für die Brote.
Da sprach der Papst: Meine teuerste Tochter! Es ist mein Wille, daß du selbst die Brote segnest.
Klara: Heiligster Vater, erlaßt mir dies! Tadelnswert müßte ich sein, wollte ich niedriges Weiblein mir herausnehmen, dergleichen Segen zu sprechen.
Der Papst: So befehle ich dir, das Zeichen des Kreuzes über diese Brote zu machen.
So segnete denn Klara die Brote mit großer Andacht, und alsbald erschien auf jedem Brotlaib ein schön geprägtes Kreuz.
Staunend betrachtete der Papst die Kreuze, dankte Gott dafür und gab den Frauen freudig seinen Segen.
Schon wieder ein Wunder!
Ich interpretiere: Der Papst in der frommen Legende ist Gregor IX. und regierte von 1227-1241. Es handelte sich um einen geborenen Grafen Hugolin (Ugolino) von Segni, der war 1206 Kardinalbischof von Ostia geworden und protegierte ab 1218 die Genossenschaft des Franz von Assisi. Er gehörte zur gemäßigten Richtung. Gegenüber den Klarissen bestand er darauf, daß sie ihre Lebensweise an die alten Regeln des Benediktinerordens anglichen. (Klara mußte daher den Titel einer Äbtissin tragen.) Lediglich das offizielle Privileg der vollkommenen Besitzlosigkeit, das Innozenz III. den Klarissen gewährt hatte, erneuerte Ugolino, im Jahr 1228. Klara war in diesem Punkt weitaus kompromißloser als Franz. In den Klara-Legenden wird folgender Wortwechsel berichtet:
Als der Papst wegen der unruhigen Zeiten Klara drängte, gewisse Besitzungen anzunehmen, und sie sich hartnäckig weigerte, sagte er: Wenn du wegen des Gelübdes der Armut Bedenken hast, dann spreien wir dich von dem Gelübde frei.
Klara: Heiliger Vater, ich wünsche keineswegs, und dies ein für allemal, von der Nachfolge Christi dispensiert zu werden.
Dieser Wortwechsel gibt den Inhalt der Gespräche an, den der Heilige Vater mit Klara über den «Weg des Heils» (siehe oben) führte. Bezüglich dieses Weges wich die Ansicht Klaras von der des Papstes erheblich ab.
Die Ansichten Klaras waren, wie jene des Leo und der frühen Gefährten, oppositionell und minderheitlich. Klara hatte infolgedessen Grund zur Vorsicht. Zum Zeichen für ihre kirchentreue Gesinnung bittet sie den Papst um den Segen über die Brote.
Daß der Papst dann seinerseits Klara den Segensspruch überläßt, ist - nach meiner Interpretation - eine theologische Tendenz in der Wunderlegende. Diese Tendenz besagt, daß Klara - als Frau von den
priesterlichen Segenskräften von vornherein ausgeschlossen - das Privileg der gesalbten und geweihten Männer sozusagen gegen ihren Willen, mit leichter Hand und überlegener Wirkung widerlegt.
Eine unter frommen Ergebenheitsformeln listig versteckte Ketzerei.
Nach dem Tod des neunten Gregor setzte Klara ihren Kampf um die franziskanische Idee hartnäckig fort. (Die letzten 20 Jahre ihres Lebens war Klara krank und häufig bettlägerig.) Tatsächlich erlangte sie 1247 vom vierten Innonzenz die Lösung von der Benediktinerregel, und 1253, am 9. August, die päpstliche Bestätigung ihrer eigenen Regel, inklusive radikaler Besitzlosigkeit. Am 11 August ist Klara dann gestorben.
Daß sie ihren Willen gegen Ende doch durchgesetzt hat, grenzt an ein Wunder.
Es gilt der Merksatz, streng nach der Wahrscheinlichkeitsmathematik:
Auch Ereignisse mit der Wahrscheinlichkeit Null können eintreten.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Der Originaltext: Otto Karrer (Hrsg.), Franz von Assisi, Legenden und Laude. Zürich: Manesse, 1945, Seite 138f.

  2. Die Kategorie des Zufälligen: Das grundlegende Paradox der Wahrscheinlichkeitsrechnung besteht darin, daß zufallsverteilte - also regellose - Einzelereignisse zu exakt voraussagbaren Regelhaftigkeiten werden, wenn sie in großer Zahl auftreten. (Je öfter man eine Münze wirft, desto näher gelangt man zur gleichen Anzahl von Kopf- und Adlerwür-fen.) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung führte bereits im 18. und im frühen 19. Jahrhundert zu einem Aufschwung des Versicherungswesens, fand - über Maxwell und Boltzmann - Eingang in die Physik und wird heute in allen exakten Wissenschaften angewendet. Vgl. dazu Arthur Koestler, Die Wurzeln des Zufalls, Bern: Scherz, 1972. - Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, München: Piper, 1971.- Manfred Eigen - Ruthhild Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München: Piper, 1975

  3. Zur Kategorie des Wunderbaren: Bloch, Prinzip Hoffnung 1540-1550.

  4. Die «Drei-Gefährten-Legende»: Karrer, Franz von Assisi 25ff.

  5. Rasch begab er sich: Ebd. 47f.

  6. Mehrere alte Handschriften: Karrer, Franz von Assisi 143-154.

  7. Einst kam der Papst: Karrer, Franz von Assisi 429-431.

  8. Folgender Wortwechsel: Karrer, Franz von Assisi 137f.

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