Achte Lektion

Das vierte, was die Anfänger lernen müssen, ist der fachmännische Umgang mit Seelenarzneien

18
Herr O., aus meinem Bekanntenkreis, ist 27 Jahre alt, ledig, Angestellter mit abgeschlossener Grundschulbildung und absolvierter kaufmännischer Lehre. Bislang ist es ihm noch niemals geglückt, eine Frau zu erobern - nicht einmal gegen Bezahlung. Umgangssprachlich würde man Herrn O. als Neurotiker bezeichnen. Herr O. nimmt seit einiger Zeit eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch. Er ist überdurchschnittlich intelligent und liest gern in psychologischen, philosophischen und theologischen Büchern.
Herr O. leidet ferner unter einer zwanghaften Höllenangst.
Die Vorstellung, nach seinem Tod von einem zornigen Gott auf ewig in die Hölle verstoßen zu werden, leistet im Falle des Herrn O. allen vernünftigen Argumenten erfolgreich Widerstand. Auch meine Argumente gegen die Höllenangst blieben Herrn O. gegenüber ohne nennenswerte Wirkung, zu unser beider Bedauern.
Als Herr O. sich einer Blinddarmoperation unterziehen mußte, wurde seine Höllenangst stärker als sonst. Er besuchte mich einige Male, und wir suchten gemeinsam nach Mitteln und Wegen, seine Ängste zu mindern.
Einige Tage vor dem Eingriff gelang Herrn O. eine Selbstüberlistung. Er hatte, wie er mir erzählte, unter seinen Büchern nach einer geeigneten Beruhigungslektüre gesucht. Herr O. sagte:
Ich lese jetzt ein Buch von Teilhard de Chardin, und es beruhigt mich sehr.
Als Herr O. diese Feststellung machte, hatte sein Gesicht einen ausgesprochen listigen Ausdruck.
Der listige Ausdruck auf dem Gesicht des Herrn O. darf einer nicht unwichtigen Einsicht zugeschrieben werden. Herr O. wußte, daß er sich ein mildes Opiat verschrieben hatte.
Daß Seelenarzneien gar nicht so selten eine Art geistiges Opium enthalten, hat sich seit dem berühmten Satz von Karl Marx ziemlich herumgesprochen. Der Satz lautet:
Die Religion ist das Opium des Volks.
Wie an dem Beispiel des Herrn O. ersichtlich ist, kann es Situationen geben, die nach einer Seelenarznei mit einer leichten Dosis Opium verlangen. Solange der Patient hiervon Kenntnis hat, wird man gegen die Verabreichung der Medizin keine schwerwiegenden Einwände vorbringen können.
Herr O. besaß diese Kenntnis.
Leider besteht der Verdacht, daß gar nicht so wenige Anfänger viel geistiges Opium schlucken, ohne es als solches zu erkennen. Unterhaltungsindustrien, kirchliche Gnadenanstalten, Werbeunternehmen und Freizeitbetriebe profitieren von dieser Unwissenheit.
Hätte Herr O. seine Bedürftigkeit nach einer milden Dosis Opium nicht durchschaut, dann hätte sein Gesicht vielleicht jenen leicht fanatischen, feierlichen und ein wenig blöden Ausdruck angenommen, den man an überzeugungsstarken Menschen gelegentlich beobachten kann. Herr O. hätte in diesem Fall vielleicht gesagt:
Was für ein großartiger Denker Teilhard doch ist!
Er hätte damit gegen die erste Lektion verstoßen.
So aber hat sich Herr O. nicht nur im Sinne der ersten, sondern auch der sechsten Lektion (Mißtrauen gegen letzte Wahrheiten) verhalten. Ferner entspricht seine Einstellung dem unter Nr.5 (bezüglich der Mystifikationen) Gesagten recht gut.
Mit Herrn O. dürfen wir zufrieden sein.
Anfänger sind manchmal klüger als sie ahnen.
Die Blinddarmoperation verlief für Herrn O. übrigens zufriedenstellend. Das Buch von Teilhard de Chardin wanderte in das Regal zurück. Herr O. bedurfte seiner nicht mehr, bis auf weiteres.

19
Hier ist ein kleiner Test für die Anfänger, zum Zwecke einer oberflächlichen Selbstbeurteilung im Hinblick auf die Hinneigung zu Seelenarzneien.
Vorgegeben werden zwei Sätze. Sie stammen aus den Evangelien und werden als Äußerungen des Jesus Christus überliefert. Neben den Sätzen sind jeweils drei Bewertungsmöglichkeiten zur Wahl gestellt. Man kreuze jenes Kästchen an, das der eigenen Meinung am ehesten entspricht. (Achtung: In jeder der beiden Rubriken nur jeweils ein Kästchen ankreuzen!)

«Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.»


Gefällt mir
Bedeutet mir nichts
Lehne ich ab

Kommt alle zu mir. die ihr mühselig und beladen seid und ich will euch erquicken.»


Gefällt mir
Bedeutet mir nichts
Lehne ich ab


20
Für die Einstellung von Herrn O. zu dem Buch von Teilhard de Chardin gibt es einen philosophischen Fachausdruck:
Relativierung.
Der Ausdruck geht auf das lateinische Wort relatio = Beziehung zurück. «Relativ» bedeutet demgemäß: bezogen, bezüglich; verhältnismäßig, abhängig von anderen, bedingt; vergleichsweise. Der gegensätzliche Ausdruck zu «relativ» lautet: «absolut.» Auch dieses Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie abgelöst, für sich betrachtet, unabhängig, vollkommen.
Das Gegensatzpaar «relativ-absolut» findet sich seit dem 16. Jahrhundert in den wichtigeren europäischen Landessprachen. Im 17. und im 18. Jahrhundert wurde das Hauptwort «Absolutismus» zur Bezeichnung der auf dem europäischen Festland herrschenden Regierungsform verwendet. (In ihr hatte der Monarch die unbeschränkte Macht über die «Untertanen».) Inder ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte «das Absolute» in die Philosophie - nachdem es im politischen Leben abgeschafft worden war. In der Philosophie wurde «das Absolute» manchmal als Bezeichnung für Gott verwendet. Der Philosoph Hegel bezeichnete das Christentum als «die absolute Religion». Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam dann - zuerst in der philosophischen Literatur - der Ausdruck «Relativismus» auf; bezeichnete eine Denkrichtung, derzufolge unsere Erkenntnisse von der jeweiligen kulturellen Situation abhängig sind. Der Relativismus wandte sich gegen den Dogmatismus. (Der Dogmatismus behauptet das Vorhandensein von immer und überall gültigen, letzten und absoluten Wahrheiten.)
Im Jahre 1905 veröffentlichte Albert Einstein seinen ersten Ansatz zur Relativitätstheorie. Bislang ist sie nicht widerlegt worden.
Das Buch von Teilhard de Chardin hatte für Herrn O. einen relativen Wert: in Beziehung auf die (Beschwichtigung der) Angstgefühle des Herrn O.
Indem Herr O. das Buch von Teilhard de Chardin in Beziehung den Angstgefühlen setzte, relativierte er es.
Es handelt sich dabei um eine Einstellung, die jedem Bücherfreund geläufig ist. Manche Bücher werden wegen ihres Unterhaltungswertes geschätzt, andere wegen ihrer schönen Ausstattung oder ihres Alters, andere wegen ihres Informationsgehaltes, andere wegen ihres literarischen oder ästhetischen Wertes. Der Bücherfreund setzt in allen diesen Fällen das jeweilige Buch in Beziehung zu einem stimmten Bedürfnis. Wenn er sich bilden will, greift er nicht zu ein Kriminalroman; wenn er erhebende Gefühle haben will, dann liest er Gedichte (zum Beispiel von Rilke) und nicht die Abenteuer Donald Duck.
Manche Bücherfreunde behaupten, daß die Gedichte von Rilke wertvoller seien als die Abenteuer von Donald Duck. Sie unterscheiden zwischen höheren und niederen Werten bei der Beurteilung von Büchern. Sie haben eine Wertordnung. Wenn man ihnen sagt, daß ihre Wertordnung mit ihrer Erziehung, der sozialen Stellung ihrer Eltern, dem Geburtsland usw. zusammenhängt, dann ärgern sie sich. Sie fühlen sich relativiert. Wenn man sie sehr reizt, dann sagen sie vielleicht: Es muß doch schließlich absolute Werte geben!
Sie meinen damit ihre eigenen.
Meine Mutter schätzte die Romane von Ludwig Ganghofer.
Als ich ihr einmal eine Ausgabe des Neuen Testamentes schenkte, bedankte sie sich zwar dafür, las aber kaum darin. Als ich sie nach einiger Zeit fragte, wie ihr das Neue Testament gefiele, gestand mir, daß sie es langweilig fände. Sie fügte hinzu, daß sie weiterhin versuchen wolle, im Neuen Testament zu lesen.
Sie wollte mir eine Freude damit bereiten.
Wenn ich meine Mutter gefragt hätte, ob ihr die Romane Ganghofer lieber seien als das Neue Testament, dann hätte sie diese Frage verneint, aus Respekt vor dem Neuen Testament. Sie wußte, daß die Romane von Ganghofer nicht zur gehobenen Literatur gehören. Die Romane von Ganghofer werden zur sogenannten Trivialliteratur gezählt.
Meine Mutter hätte vielleicht gesagt:
Man kann doch das Neue Testament nicht mit Ganghofer vergleichen!
Meiner Mutter war der hohe Ruf, den die Bibel genießt, bekannt. Sie wußte, daß man im Gottesdienst aufstehen muß, wenn aus den Evangelien vorgelesen wird. In der katholischen Kirche bestand die strenge Regel, daß im Gottesdienst nur die Priester und die Diakone berechtigt waren, aus dem Evangelium vorzulesen. Niemandem wäre der Gedanke gekommen, im Gottesdienst eine Stelle aus den Romanen vorzulesen, die meine Mutter so gern im Bett las. Auch mir wäre dieser Gedanke nicht gekommen. Als ich, nach meiner Weihe zum Diakon, das erste Mal während eines Hochamtes das lateinische Evangelium singen durfte, hatte ich feierliche und erhabene Gefühle. Vorschriftsgemäß hüllte ich das Evangelienbuch in Weihrauchwolken, bevor ich zu singen begann. Das Evangelienbuch war in Leinen gebunden. Nachdem ich das Evangelium gesungen hatte, mußte ich das Evangelienbuch zum Priester tragen. Der Priester mußte das Evangelienbuch küssen. Später, als ich Priester war, habe ich das Evangelienbuch selber oftmals geküßt.
Viele Texte aus den Evangelien kannte ich vom oftmaligen Hören, vom Studium und aus langen Meditationen auswendig, ferner aus den täglichen Gebeten, die jeder Priester zu verrichten hat. Manche dieser Texte waren eine Seelenarznei für mich und sind es heute noch. Was ich inzwischen gelernt habe, ist dies:
Meine Seelenarzneien müssen nicht unbedingt auch anderen Menschen helfen.

21
Die propagandistische Empfehlung von Seelenarzneien wird «Mission» genannt.
Hätte mich Herr O. dringend aufgefordert, das Buch von Teil hard de Chardin zu lesen, dann wäre sein Verhalten ein missionarisches gewesen.
Ein «Missionar» ist ein Mensch, der andere Menschen von der Wirksamkeit bestimmter Seelenarzneien überzeugen will.
Es gibt missionarische und nicht-missionarische Religionen.
Der Buddhismus, das Christentum und der Islam sind missionarische Religionen. Die jüdische Religion ist nicht-missionarisch.
Die Mystik ist nicht-missionarisch
Es gibt verschiedene Missionsmethoden.
Zum Beispiel pflegten die Spanier und Portugiesen während der Eroberung Südamerikas manchmal eine missionarische Kurzmethode anzuwenden. Wenn sie ein Dorf erobert hatten, versammelten sie die Bevölkerung und forderten sie auf, sich zum Christentum zu bekehren und sich taufen zu lassen. Sie ließen zehn Minuten verstreichen, und nach dem Verstreichen dieser Frist wurde geschossen. Manchmal verstanden die Indianer gar nicht, was man von ihnen wollte, weil kein Dolmetscher vorhanden war.
Sie starben dann in Unkenntnis der Wirksamkeit der christlichen Seelenarzneien.
Heute ist ganz Südamerika zu 90 Prozent katholisch.
Inoffiziell blüht das Zauberwesen und die Mystik in vielerlei Formen, die für Europäer und Nordamerikaner eher bizarr sind. Manche dieser Formen unterliegen strenger Geheimhaltung.
Die katholische Kirche spielt in Südamerika eine ähnliche Rolle wie die römische Staatsreligion zur Zeit um Christi Geburt.

22
Herr O. hätte, anstelle von oder in Kombination mit Teilhard de Chardin, gegen seine Angstgefühle auch ein Antidepressivum schlucken können. Antidepressiva sind chemische Substanzen, und man erhält sie in der Apotheke. Sie wirken, wie alle psychotropen Mittel, auf bestimmte Strukturen des Zentralnervensystems.
Zu den psychotropen Mitteln im weiteren Sinne gehören alle schmerzstillenden Mittel (von den Opiaten bis zum Aspirin), die Schlafmittel, die Weckamine, die Rauschdrogen (inklusive des Alkohols).
Die psychotropen Mittel im engeren Sinne werden auch Psychopharmaka genannt.
Unter den Psychopharmaka werden - nach deren Wirkung auf das psychoenergetische Niveau - zwei Hauptgruppen unterschieden:
Die sogenannten Neuroleptika bzw. Tranquilizer, welche das psychoenergetische Niveau reduzieren.
Die sogenannten Thymoleptika bzw. Antidepressiva, welche das psychoenergetische Niveau erhöhen.
In den USA nahm die Zahl der ärztlichen Verschreibungen psychotroper Mittel zwischen 1958 und 1967 um 65 Prozent zu, gegenüber einer Zunahme der Verschreibungen sonstiger Medikamente im gleichen Zeitraum um 35 Prozent.
Die Art und Weise der Wirkungen der verschiedenen psychotropen Mittel auf das Zentralnervensystem ist ein Gegenstand gründlicher und aufwendiger wissenschaftlicher Forschungen.
Die Wirkung von Teilhard de Chardin auf das Zentralnervensystem ist wissenschaftlich unerforscht.
Das Buch von Teilhard de Chardin ist mit dem Ausdruck «chemische Substanz« nicht genügend beschrieben.
Wie man sieht, ist nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Seelenarzneien wissenschaftlich erforscht im Hinblick auf deren exakte Wirkungen auf das Zentralnervensystem. Daß Teilhard de Chardin auf Herrn O. eine antidepressive Wirkung hatte, dürfen wir Herrn O. schon glauben. Das psychoenergetische Niveau des Herrn O. wurde durch die Lektüre Teilhards gehoben.
An dieser Stelle unserer Ausführungen müssen wir der Medizin und den sonstigen einschlägigen naturwissenschaftlichen Disziplinen leider einen Vorwurf machen. Der Vorwurf lautet, daß sie die Anfänger in bezug auf den fachmännischen Umgang mit Seelenarzneien ziemlich im Stich lassen.
Dieser Vorwurf gilt vornehmlich für den Bereich jener Seelenarzneien, die chemisch nicht analysierbar sind, also für rhythmische und musikalische und tänzerische Aktivitäten, für Techniken der Meditation, für das Studium philosophischer Texte. All das hat eine Wirkung auf bestimmte Strukturen des Zentralnervensystems. Oder, anders ausgedrückt: Es kann zur Berührung mit dem Göttlichen führen. Prof. Leisegang (siehe oben Nr. 4), dem wir diese Formulierung verdanken, führt neben den soeben erwähnten Mitteln und Wegen auch Erregungs- und Rauschmittel an, also psychotrope Substanzen im weiteren Sinne. Auch sie können zur Berührung mit dem Göttlichen führen, Leisegang zufolge.
Es bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen ein Rausch zur Berührung mit dem Göttlichen führt. Nicht nur Prof. Leisegang läßt diese Frage unbeantwortet. Auch die medizinische Forschung steht ihr ziemlich hilflos gegenüber.
Vielleicht liegt der Grund für diese Hilflosigkeit darin, daß die Forschungsabteilungen der Arzneimittelkonzerne wegen des guten Geschäfts mit psychotropen Substanzen andere Sorgen haben als die
Berührung mit dem Göttlichen. Sie sind mit der Entwicklung neuer Psychopillen beschäftigt.
Auch die internationalen Drogen-Syndikate krimineller Art dürften an theologischen bzw. mystischen Fragestellungen nicht sonderlich interessiert sein. Nicht einmal die Alkoholindustrie, anerkannterweise zuständig für die Herstellung von Räuschen, hat bislang kein Institut für die Erforschung der Beziehungen zwischen Rausch und Mystik finanziert. Bis auf weiteres bleibt die Berührung mit dem Göttlichen ein naturwissenschaftliches und geschäftliches Neuland.

23
Um den Anfängern die Orientierung im Bereich der Seelenarzneien zu erleichtern, sei folgende Einteilung vorgeschlagen:

Chemisch analysierbare Seelenarzneien
psychotrope Substanzen
Chemisch nicht analysierbare Seelenarzneien
psychotrope Ereignisse

Hier ist eine kleine Übung.
Die Anfänger werden gebeten, ein Blatt Papier mit einem Strich in zwei Hälften zu teilen. Als Überschrift über die linke Kolumne schreibe man: «Psychotrope Substanzen»; über die rechte Kolumne schreibe man: «Psychotrope Ereignisse.»
Die Aufgabe besteht darin, die nun folgenden Hauptwörter je nach ihrer Zugehörigkeit in die linke oder rechte Kolumne zu setzen. Man erhält auf diese Weise zwei Listen von Seelenarzneien, geordnet nach deren möglicher oder nicht möglicher chemischer Analysierbarkeit.
Hier sind die Hauptwörter.
Konzertbesuch. Gebet. Kaffee. Stierkampf. Opium. Nikotin. Urlaub. Haschisch. Tanz. Weihrauch. Lesen. Musizieren. Heroin. Kino-besuch. Wein. Sonnenbad. Meditation. Fasten. LSD. Sex-Orgie. Hochzeit. Tee. Rendezvous. Schifahren. Begräbnis. Schallplattenhören. Schwimmen. Prozession. Meskalin. Glockenläuten. Schaufensterbummel. Fußballmatch. Schlafmittel. Papstaudienz. Pingpong. Ausstellungsbesuch. Lippenstift. Gasthausbesuch. Autorennen. Horoskop. Beruhigungspille. Bier. Lotteriespiel. Wandern. Randalieren. Gottesdienst. Coca-Cola. Bergsteigen. Keuschheit.
Es ist möglich, daß manche Anfänger bei einzelnen Hauptwörtern zögern werden, sie als Seelenarzneien überhaupt anzuerkennen. In diesem Fall lasse man das betreffende Wort einfach weg.
Oder man vermißt unter den angeführten Hauptwörtern die eine oder andere Seelenarznei. in diesem Fall füge man sie ohne weiteres dazu.
Es liegt keineswegs in der Absicht des Verfassers, Liebhaber von Kamillentee oder pornografischer Literatur zu diskriminieren.
Die Anfänger werden gebeten, die Liste aufzubewahren.

24
Die linke Rubrik der soeben beschriebenen Liste enthält, bei richtiger Lösung der Aufgabe, folgende Hauptwörter: Kaffee. Opium. Nikotin. Haschisch. Weihrauch. Heroin. Wein. LSD. Tee. Meskalin. Schlafmittel. Beruhigungspille. Bier. Coca-Cola. (Kamillentee.)
Diese Liste der psychotropen Substanzen ist selbstverständlich nicht erschöpfend.
Auch die Liste der psychotropen Ereignisse (sie enthält die restlichen Hauptwörter) ist unvollständig.
Die Unvollständigkeit der beiden Listen braucht die Anfänger nicht weiter zu stören. Vollständigkeit hat den Nachteil, Langeweile zu erzeugen.
Eine weitere Hilfe bei der Unterscheidung zwischen psychotropen Substanzen und psychotropen Ereignissen kann ein Blick auf die Produzenten von Seelenarzneien bieten.
Zuständig für die Herstellung psychotroper Substanzen sind die pharmazeutische Industrie, die Drogen-Syndikate, die Alkohol- und Genußmittelbranche.
Zuständig für die Herstellung psychotroper Ereignisse sind die Kulturindustrie, die Tourismusindustrie, das Sportgeschäft, die Kirchen, die Vergnügungsindustrie, die Geisteswissenschaft, die Prostitution, das Glücksspielwesen.
Auffällig ist ferner die Tatsache, daß Seelenarzneien vorwiegend in der arbeitsfreien Zeit konsumiert werden. (Rauchen und trinken kann man unter Umständen auch während der Arbeit.)
Es ergibt sich der Merksatz:
Mystik ist eine Freizeitbeschäftigung, wie der Liebesakt und die Revolution.

25
Nunmehr folgt, zu Nutz und Frommen der Anfänger, der Abschied von Dionysos.
Dionysos, der Gott der frommen Räusche, der Orgien und Ekstasen, der rasenden Mysterien auch, ist weder in kapitalistischen noch in kommunistischen Industrieländern populär. Christentum und doppelte Buchführung, Eisenbahn und Stücklohn, Eherecht und Irrenanstalten, Fernsehen und Computerwesen haben ihm den Garaus gemacht. Anzutreffen ist er nur mehr in den Schriften Nietzsches, in religionsgeschichtlichen Handbüchern, in der klassischen Altertumswissenschaft, in der gehobenen Literatur, im Ballett und im Museum. Leb wohl, Dionysos!
Deine wilden Frauen, schwärmend auf den Höhen des Parnaß, wo sind sie geblieben?
Deine trunkenen Feste zu Ehren des neuen Weins, wer feiert sie noch?
Deine lasziven Liedchen, wer trällert sie?
Allenfalls Anthony Quinn, in dem Film «Alexis Sorbas».
Wie könnten es deine entfesselten Schwestern noch wagen, wilde Hasen und Rehe zu fangen, bei lebendigem Leib zu zerreißen und deren Fleisch blutigwarm zu verschlingen?
Sie würden gegen die Jagd- und Tierschutzgesetze verstoßen.
Vielleicht gibt es dich noch, unter andern Gestalten, in afrikanischen Dschungeln, auf Borneo und in Brasilien, beim Klang dumpfer Trommeln. Aber uns, den nachhaltig Zivilisierten, bleibst du entschwunden. Suchten wir dich in den Stahlgewittern gewaltiger Kriege?
Schon möglich. Doch fanden wir Ares nur, mit glänzendem Helm, und den blitzeschleudernden Zeus.
Leb wohl, Dionysos!
Gefährlicher Spätromantiker du!
Wir werden ohne dich leben müssen, weil uns die Sozialversicherung auf die Dauer lieber ist als eine gelegentliche Orgie.
Sozialversicherungsempfänger feiern keine Orgien. Sie trinken allenfalls ein Glas Bier oder Wein und achten auf ihre Leber.
Räusche fallen bei uns in die Zuständigkeit der Medizin und der Polizei, nicht der Theologie und der Mystik.
Bleib also, wo du bist, Dionysos: in unserm kollektiven Unterbewußten. Dort darfst du ein wenig rumoren, zur Musik des frühen Strawinski. Wenn du brav bist, malt dich vielleicht ein avantgardistischer Künstler, in Öl.

26
Kurzfassung von Nr. 25, für praktisch orientierte Anfänger:
Die Verwendung von Rauschdrogen zum Zweck mystischer Erlebnisse ist in Industriegesellschaften anachronistisch und daher zum Mißerfolg verurteilt.
Dasselbe gilt für alle übrigen psychotropen Substanzen.
Anfänger mit Einschlafstörungen, Depressionen, Kopfschmerzen, psychosomatischen Störungen aller Art, Erektionsschwierigkeiten usw. werden während und nach der Lektüre meines Buches wohl oder übel ihre Versuche fortsetzen müssen, eine Besserung ihrer Leiden zu erreichen: Ein wenig Akupunktur, eine Gruppentherapie, autogenes Training, Yoga-Übungen, psychotherapeutische Sitzungen, Pillen.
Sie befinden sich in einer ähnlichen Lage wie Herr O.
Herr O. ist, fast hätte ich vergessen, es zu erwähnen, Kommunist.
Wer wollte ihm daraus einen Vorwurf machen?

27
Wir wenden uns nunmehr den chemisch nicht analysierbaren Seelenarzneien zu, anhand
der zweiten praktischen Übung
Zu ihrer Durchführung bediene man sich der Liste, deren Erstellung weiter oben (Nr. 23) empfohlen wurde. Die linke Kolumne («psychotrope Substanzen») streiche man durch. Weitere Hilfsmittel für die Durchführung der Übung sind: Fotoalben, Tagebücher, Briefe, alte Termin-oder Taschenkalender, Dias, Andenken aller Art, Filme - alles, was wegen seines Erinnerungswertes aufbewahrt wurde.
Die Übung erfolgt in zwei Schritten.
Zunächst stelle man fest (anhand der erwähnten Liste oder durch Nachdenken), welche Seelenarzneien einem selber bereits geholfen haben. Sodann versuche man sich an Erlebnisse zu erinnern, die von starken Gefühlen begleitet waren, im Zusammenhang mit den betreffenden Seelenarzneien.
Einige Beispiele mögen zur Verdeutlichung dienen.
Don Giovanni (so wie er in der gleichnamigen Mozart-Oper auftritt) würde die Übung ziemlich rasch absolviert haben. Auf die Frage nach seiner bevorzugten Seelenarznei würde er antworten: Frauen! Dann würde er Leporello rufen und sich aus dem Frauenregister vorlesen lassen. Hie und da würde er die Verlesung bei einem bestimmten Namen mit einem vergnügten Ausruf unterbrechen. (Don Giovanni hat einen ausgesprochen extrovertierten Charakter. Die Übung würde ihn bald langweilen. Man darf annehmen, daß ihm für die Mystik im herkömmlichen Sinn jede Begabung fehlt.)
Bergsteiger, Briefmarkensammler, Gartenfreunde dürften ebenfalls keine besonderen Schwierigkeiten bei der Durchführung der Übung haben. (Bergsteiger und Gartenfreunde neigen zur Naturmystik; Briefmarkensammler sind beschauliche Menschen und mithin nicht untalentiert für Meditationsübungen.)
Mütter werden unter Umständen dazu neigen, sich an Augenblicke intensiven Glücks im Zusammenhang mit ihren Kindern zu erinnern. Erfindern und Künstlern wird die Stunde des entscheidenden Einfalls am meisten bedeuten. (Hierbei handelt es sich - in der Sprache der klassischen Mystik - um sogenannte «Erleuchtungen».)
Anderen Anfängern wird die Wohnung (das Haus) eine Menge bedeuten, und ihre Gefühle bei der Lieferung der neuen Sitzgarnitur mögen beinahe ekstatischer Art gewesen sein.
Erschütterungen, Krisen, Rückschläge, Krankheiten usw. sind aus der Übung keineswegs ausgeschlossen.
Man achte ferner auf Neuheitserlebnisse. (Das erste Fahrrad, der erste Kuß.)
Der Zweck der Übung ist eine Stärkung des Selbstbewußtseins der Anfänger.
Nützlich wäre es, wenn die Anfänger die auf die beschriebene Weise hervorgeholten Erinnerungen mit dem Material vergleichen würden, das ihnen von der ersten praktischen Übung (oben Nr. 14) erinnerlich ist - also mit diversen Titeln von Büchern über Mystik. Dabei könnte sich beispielsweise die Frage ergeben:
Was hat das Tibetanische Totenbuch mit mir zu tun?
Anfänger mit gestärktem Selbstbewußtsein sollten den Mut finden, ihre Freude über neue Vorhänge nicht geringer zu achten als die Lektüre des Kommentars zum Tibetanischen Totenbuch aus der Feder von C. G. Jung.
Es handelt sich in beiden Fällen um Seelenarzneien.
Und zweifellos gibt es Menschen, denen neue Vorhänge mehr bedeuten als die Lektüre des Kommentars zum Tibetanischen Totenbuch von C. G. Jung. Warum sollte man solche Menschen von der Mystik ausschließen?
Wäre es nicht denkbar, daß auch sie ihre Erleuchtungen haben? Vielleicht hat es ihnen nur noch niemand gesagt.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Herr O.: Eine Montage aus mehreren Personen, die mich wegen religiöser Probleme konsultierten.

  2. Opium des Volks: Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung. In: Studienausgabe in 4 Bänden, Band 1, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1971, Seite 17: «Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.»

1