Vierte Lektion

Das zweite, was die Anfänger lernen müssen, ist der Unterschied zwischen Mystik und Mystifikation

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Das ist eine ziemlich schwierige Lektion. Als ich anfing, die ersten Mystifikationen zu durchschauen, war ich 25 Jahre alt. Inzwischen sind mehr als 20 Jahre verstrichen, und immer noch muß ich achtgeben, um nicht irgendeiner Mystifikation aufzusitzen.
Von der Polizei kann man lernen, daß man Mystifikationen nachgehen muß. Die Polizei ist gar nicht so selten mit Mystifikationen befaßt, und in ihrem Jargon kommt das Wort durchaus vor, wie auch in den Zeitungsberichten über einschlägige Vorfälle. Ein anonymer Anrufer meldet sich telefonisch bei der Polizei und teilt mit, daß in einem bestimmten Flugzeug eine Bombe versteckt ist. Die Polizei rückt aus, durchsucht das betreffende Flugzeug mit größter Sorgfalt und kommt zu dem Ergebnis, daß es gar keine Bombe gibt.
Das ist ein Beispiel für eine Mystifikation.
Man kann daraus lernen, daß die Entscheidung über die Aufrichtigkeit der Bombenwarnung nicht von vornherein getroffen werden kann. Die Bombenwarnung könnte zutreffend sein, und deshalb muß sie überprüft werden. Zwar ist die Polizei durchaus gewitzigt und mißtrauisch, belehrt durch frühere Mystifikationen. Gleichzeitig ist sie jeder neuen Mystifikation hilflos ausgeliefert. Erst nach der Überprüfung kann festgestellt werden:
Das war (wieder einmal) eine Mystifikation.
Mystifikationen erkennt man nicht von vornherein.
Wie hätte ich zum Beispiel ahnen können, in welches Labyrinth von Mystifikationen ich geriet, als ich mit 18 Jahren ins Priesterseminar eintrat?
Wie hätte ich zwischen Trug und Wahrheit unterscheiden können, unter der Unzahl von Vorschriften, Ermahnungen, Weisheitslehren, Kommentaren, Liedern und Gebeten, Verrichtungen und Unterlassungen, Scherzen? Sie alle drangen in meine Ohren und Augen ein, mich formend, erziehend, verändernd.
Mystik und Mystifikation standen dabei in einem Verhältnis von sagen wir 1 zu 99.
Wie hätte ich die eine kostbare Perle unter den vielen täuschenden Nachahmungen finden sollen?
Ich besaß kein Unterscheidungsvermögen und schluckte alles - zur Zufriedenheit meiner Vorgesetzten.
Die Vorgesetzten.
Das meiste von dem, was sie uns erzählten, glaubten sie selber.
Sie glaubten daran, daß ein Priester keusch und gehorsam sein muß, und nach dieser Maxime lebten sie auch, so gut sie eben konnten. Sie waren sorgfältig ausgesucht worden, von noch höher stehenden Vorgesetzten. Auch die höheren Vorgesetzten glaubten an die Bedeutung von Keuschheit und Gehorsam für den Priester. Sogar der Papst glaubte daran. Der Papst hieß damals Pius der Zwölfte, und er hatte zeit seines Lebens als Asket gelebt. Sein Bild hing in vielen Räumen des Priesterseminars.
Die Mystifikationen, denen ich von seiten meiner Vorgesetzten ausgesetzt war, dürfen keineswegs als absichtliche Täuschungsmanöver aufgefaßt werden. Man irrt sich, wenn man Vorgesetzte als Zyniker betrachtet. Nur wenige Vorgesetzte haben die Kraft zum Zynismus. Die meisten Vorgesetzten verfügen über einen gewissen Fundus an Glaubensüberzeugungen. Nicht nur Priester (Kardinäle, Päpste) haben diesen Fundus. Auch Generaldirektoren, Staatspräsidenten, Universitätsprofessoren, Generäle.
Vorgesetzte sind klassenbewußt.
Sie vertreten die herrschende Meinung.
Die herrschende Meinung im Priesterseminar verknüpfte das Priestertum mit Keuschheit und Gehorsam.
Eine gar nicht so leicht zu durchschauende Mystifikation. Um sie als solche zu erkennen, benötigte ich 20 Jahre.
Vielleicht war ich doch nicht so gescheit, wie meine Lehrer meinten.
Wohlan, ihr Weisen aus längst vergangenen Tagen, unterstützet mich in meinem Bemühen, die Anfänger ein Mißtrauen gegen jegliche Trughaftigkeit zu lehren!
Umgibt uns nicht Wahn und Schein wie die Luft, die wir atmen?
Ist nicht ein Rätselauge die Welt, antwortlos wie die Sphinx? Irren wir nicht wie Wandrer im nächtlichen Sumpf, Irrwischen preisgegeben?
Ist nicht Maya gar alles, was uns umringt?
Maya!
Nicht die mittelamerikanischen Völker dieses Namens sind hier gemeint, sondern ein Leitwort aus dem alten Indien, mindestens 3000 Jahre alt.
Maya = Illusion, Trug, Wahn, Schein.
Die materielle Welt und ihre Erscheinungen - alles Maya, den indischen Weisheitslehren der Upanischaden und des Vedanta zufolge.
Selbst Gott ist der Mystifikation unterworfen, wie ein altindisches Verslein bezeugt:
Das ist Gottes Maya, durch das er sich selbst betrügt.
Ein profundes Mißtrauen gegen alles und jedes ist im alten Indien erwacht, eine Schule der Skepsis, in lehrreicher Weise.
Prof. Leisegang (siehe Nr. 4) zufolge gehört dieses Mißtrauen durchaus zur Mystik, wie in seinem bereits erwähnten Artikel ausführlich nachzulesen ist.
Wer die sogenannte Wirklichkeit (inklusive Wurzelziehen, doppelter Buchführung, Religionszugehörigkeit usw.) kritiklos hinnimmt, taugt nicht einmal zum Anfänger.
Nähret, ihr Anfänger, euer ohnehin vorhandenes Mißtrauen gegen so manches, was euch im Lauf der Zeit in die Köpfe gestopft worden ist! Seid achtsam beim Lesen der Zeitung! Laßt euch von Wagners Musik nicht betören!
Der weise Sankara meint es euch gut. Er lebte um 800 vor Christus in Indien und vertrat konsequent die Lehre vom illusionären Charakter der Welt.
Vielleicht ist der alte Sankara ein wenig zu weit gegangen. Zahnweh ist kaum als illusionär anzusprechen, und auch ein hohes Einkommen ist keineswegs zu verachten.
Wichtig hingegen ist eben jenes Unterscheidungsvermögen, von dem zu Beginn dieses Kapitels die Rede war.
Diesem Unterscheidungsvermögen leiht Sankara seine Stimme, und nicht nur er.
Auch die Bibel empfiehlt es, an bedeutender Stelle.
Das zweite Gebot Gottes!
Es lautet, in der Übersetzung von Martin Buber:
Trage nicht Seinen, deines Gottes Namen auf das Wahnhafte!
Eine schlechtere Übersetzung, wie ich sie in der Schule gelernt habe, lautet:
Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren.
Eine andere, moderne Übersetzung:
Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht mißbrauchen. (Auch keine gute Übersetzung.)
Gebräuchlich war auch die Fassung: Du sollst den Namen Gottes nicht eitel nennen.
Meist wird mit dem zweiten Gebot die Vorstellung verbunden, es untersage das Fluchen, also die Verwendung heiliger Vokabeln im Zorn. In Wirklichkeit ist das zweite Gebot eine Warnung, den Gottes-namen illusionär bzw. opiumhaft zu verwenden.
Den frommen Juden ging diese Warnung so sehr in Fleisch und Blut über, daß sie den Gottesnamen nicht laut aussprechen mochten aus Mißtrauen gegen die subtilste Form der Mystifikation: den trughaften Gebrauch Gottes als höchster Münze im Zahlungsverkehr der landläufigen Gnadenbanken.
Meine Übersetzung des zweiten Gebotes lautet demnach:
Verwende Gottes Namen nicht zur Täuschung der Menschen.
Das zweite Gebot ist offensichtlich an die Adresse der Vorgesetzten gerichtet.
Da sich die Vorgesetzten an das zweite Gebot keineswegs halten, kann für die Anfänger folgende Vorsichtsmaßregel aufgestellt werden:
Nimm den Namen des Allerhöchsten ohne zwingenden Grund nicht in den Mund!
Er wird dir sonst im Mund umgedreht.
Vorsicht, ich muß jetzt eine Schocktherapie durchführen:
Den Gott der Vorgesetzten gibt es so wenig wie die angekündigte Bombe im Flugzeug. Er ist eine Mystifikation.

6
In den römischen Katakomben kann man einen Gott betrachten, der in Vergessenheit geraten ist und deshalb alle späteren Mystifikationen unbeschädigt überdauert hat. Als sich die Vorgesetzten dieses Gottes bemächtigten, waren die Katakomben bereits stillgelegt.
Der Name des Gottes: Jesus Christus.
Die römischen Christen hatten bekanntlich mit den Behörden manche Schwierigkeiten, etwa 300 Jahre lang. Danach, unter Kaiser Konstantin, schlossen die Behörden mit den Christen Frieden, und seither gibt es das Christentum.
Während der Zeit der Verfolgungen begruben die römischen Christen ihre Toten in den Katakomben. Es handelte sich dabei um unterirdische Friedhöfe an vielen Orten rund um das alte Rom. Grundstücke, die den Christen gehörten, wurden zu diesem Zweck verwendet, und die Behörden hatten dagegen nichts einzuweden. Nach römischem Recht hörte die strafrechtliche Verfolgung mit der Hinrichtung auf.
Man schätzt, daß sechs Millionen Urchristen in den Katakomben begraben sind.
Schon während der Regierungszeit Kaiser Konstantins wurden die Katakombenbegräbnisse seltener, und gegen Ende des 4. Jahrhunderts hörten sie ganz auf. Eine Zeitlang galten die Katakomben dann als Sehenswürdigkeit und Wallfahrtsziel. Später schafften die Päpste viele Wagenladungen von Gebeinen aus den Katakomben und verteilten sie auf die verschiedenen römischen Kirchen, zum Zweck andächtiger Verehrung. Auch ins Ausland wurden die Reliquien verschickt, als begehrte Devotionalien. Die Katakomben sebst verloren auf diese Weise ihre Anziehungskraft, die Zugänge stürzten ein, Gras wuchs darüber. Im Mittelalter waren sie völlig vergessen.
Am 31. Mai 1578 grub ein Mann in seinem Weingarten an der Via Salaria und brach dabei in einen unterirdischen Tunnel ein. Vor ihm lag ein schmaler, ins weiche Vulkangestein gehauener Gang, in dessen Wände links und rechts Grabnischen eingelassen waren. Der Mann entdeckte weitere Gänge, die bildeten geradezu ein Labyrinth.
Der Fund wurde eine Sensation, und seither werden die Katakomben erforscht. Etwa 50 Katakomben wurden bisher entdeckt und untersucht, und es gibt immer noch neue Funde. Die Grabgänge, oftmals in mehreren Etagen übereinander, haben eine Länge von insgesamt fast 1000 Kilometern. Es gibt Malereien an den Wänden. Einige Katakomben sind öffentlich zugänglich, zum Beispiel die Domitilla-Katakombe an der Via Appia, zu erreichen mit dem Autobus vom Kolosseum.
In den Katakomben fehlen die beiden wichtigsten christlichen Gottesdarstellungen. Weder Gottvater noch der Gekreuzigte finden sich unter den Malereien der Katakomben.
Das Fehlen Gottvaters läßt sich einfach erklären. Wahrscheinlich fühlten sich die Urchristen durch den Wolkenthron Gottvaters allzu sehr anden behördlich vorgeschriebenen Jupiter erinnert. Den Jupiter hatten die Römer aus Griechenland importiert; dort hieß er Zeus, konnte donnern und Blitze schleudern und benahm sich im übrigen wie die meisten Despoten jener Zeit: grausam, lüstern, launenhaft. Die Urchristen befanden sich zur Despotie der damaligen öffentlichen Angelegenheit in scharfer Opposition; irdische Machthaber mochten sie nicht einmal mit dem üblichen Würdenamen «Herr» anreden. Und weil sie den Zusammenhang zwischen Kaiser und Gott als Mystifikation durchschauten, verweigerten sie den Staatsgöttern den Weihrauch.
Deshalb galten die Urchristen allgemein als gottlose Menschen und staatszersetzende Elemente.
Auch als blutige Leiche am Kreuzgalgen haben die Urchristen ihren Gott nicht abbilden wollen. Das Kruzifix gehört dem Christentum zu, nicht der Armenreligion der Katakombenzeit.
Die Katakombenchristen malten ihren Gott als knabenhafte Gestalt, als Hirtenjungen, mit den Zügen des Orpheus.
Vielleicht dachten sie dabei an einen Ausspruch ihres Heilands, eines gewissen Jesus, der in Palästina gepredigt hatte und unter Pontius Pilatus zu Tode gekommen war: Der Ausspruch lautete:
Ich bin der gute Hirte.
Das am häufigsten vorkommende Bild der Katakomben ist jedenfalls ein junger Hirte mit einem Lamm auf der Schulter.
Die Verwandtschaft dieses Heilands mit der offiziellen Christusgestalt der späte ren Reichsreligion ist so weitläufig wie die Verwandtschaft eines Hirtenstabes mit einem königlichen Zepter.
Die Hofschreiber und Hauskapläne der Könige haben gelegentlich die Auskunft erteilt, daß sich das königliche Zepter aus dem Hirtenstab entwickelt habe.
Über die Nützlichkeit dieser Entwicklung sind die Untertanen nie befragt worden.
Viele Urchristen waren Sklaven.
Wenn sie in die Katakomben gehen wollten, dann sagten sie zu ihren Herren:
Ich möchte zu einer Totenmahlzeit gehen.
Eine Totenmahlzeit war eine behördlich anerkannte religiöse Übung. Sie war nach der Bestattung üblich, und die Polizei hatte keinen Zutritt. Ohne Aufsehen konnten die Christen mit ihren Brotkörben und Weinfiaschen ins Totenreich hinuntersteigen.
Dann verwandelten sich die Sklaven in Mystiker, beim Genuß der göttlichen Substanzen.
(Der Vorgang, damals streng geheim, ist heute allgemein bekannt. Je nach Religionsbekenntnis und Sprache heißt er «Abendmahl» oder «Kommunion», bei den christlichen Kirchen und Gruppen aller möglichen Schattierungen.)
Beim Schein der Öllämpchen haben die Katakombenchristen ihre Hoffnung auf Unsterblichkeit erneuert, der junge Gott verkörperte sich in ihrem Mund als Nahrung zum ewigen Leben. Manche Christen trugen eine kleine Kapsel um den Hals, darin waren Reste des frommen Mahles. Auch den Toten gab man diese Art Wegzehrung mit, in gläsernen Ampullen.
Im Kalk um die Toten hat man solche Gläser in Mengen gefunden, und in ihnen die vertrockneten Rückstände der Totengabe:
Brot und Wein.
Ich erinnere mich noch an einen langweiligen Vormittag in der Wiener Universität. Der Professor, alt und fast blind, im Habit eines Benediktiners, hielt seine Vorlesung vor vielleicht 50 Priesterstudenten. Manche, von der Monotonie seiner Stimme eingeschläfert, dösten vor sich hin, andere lasen Zeitung. Einige, darunter auch ich, hatten Skripten vor sich und unterstrichen Namen, Jahreszahlen und Definitionen. Das Thema der Vorlesung: Die Realpräsenz Christi in den Gestalten von Brot und Wein.
Ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle der Vorlesung es war, als mir schlagartig der Sinn des Gemeinten aufging, in seiner ganzen Buchstäblichkeit und Leibhaftigkeit:
Das da, die Oblate, die Hostie, ist der Gott.
Man kann ihn angreifen. Man kann ihn essen.
Katakombenmystik, garantiert echt, ohne künstliche Zutaten.
Bester Materialismus auch. Aber das wußte ich damals noch nicht.
Materialismus?
Das ist doch das genaue Gegenteil von Mystik!
Nicht immer, meine Damen und Herren, nicht immer.
Wenn der Gott mit einem Stück Brot identifiziert wird, dann feiern Materie und Geist eine Hochzeit.
Meist irren die beiden getrennt durch die Köpfe der Menschen, suchen einander und finden sich nicht.
Der gute alte Dualismus.
Oben, in den höheren Sphären, der Geist. Besitz und Bildung, das Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen. Die gepflegten Umgangsformen, das Unterscheidungsvermögen zwischen Dur und Moll, Soll und Haben, Recht und Unrecht, Krieg und Frieden.
Unten, in den Niederungen, der Stoff. Das Menschenmaterial, das Arbeitspotential. Das gesunde Volksempfinden. Die Konsumenten. Das materialistische Zeitalter, ohne Sinn für die höheren Werte. Und so weiter, im Spiegelkabinett der Mystifikation.
2000 Jahre abendländischer Philosophie, prall von Idealismus, drängten sich zwischen mich und den Sklavenglauben der Katakomben, deuteten ihn, verflüchtigten seine sinnliche Leibhaftigkeit, seinen vorsichtigen Zorn, seine zärtliche Lebensfreude.
In der Kirche des Priesterseminars brannte ein rotes Lämpchen über dem Gehäuse des leibhaftigen Gottes. Abends, nach dem gemeinsamen Nachtgebet, wurden fast alle Lichter in der Kirche gelöscht. Die barocken Verzierungen waren dann im Dunkeln, und nur ein Wandleuchter gab etwas Helligkeit.
Das rote Licht über dem Tabernakel wird auch «ewiges Licht» genannt, und zwar deshalb, weil man es auch dann nicht löscht, wenn die Kirche verschlossen wird. Es soll die beständige Gegenwart des Gottes signalisieren.
Diese Gegenwart hat mich fasziniert, und so blieb ich nach dem Abendgebet noch eine Weile auf meinem Platz in der Kirche. Einige andere Zöglinge verfügten ebenfalls über eine mystische Ader, und während einer guten halben Stunde übten wir, jeder für sich und auf seine Weise, die Versenkung.
Es handelte sich um eine freiwillige Übung, außerhalb der gemeinsamen Gebetszeiten.
Nachher, vom langen Knien ein wenig steif in den Beinen, ging ich dann über eine Wendeltreppe in mein Zimmer. Begegnungen mit anderen Zöglingen verliefen stumm, denn vom Abendgebet bis zum Frühstück war das Reden verboten.
Mit welchem Gott stand ich in Beziehung, vor 25 Jahren, in der nächtlichen Kirche?
Nicht mit Gottvater. (Der du bist in dem Himmel.)
Nicht mit dem Gekreuzigten. (Blut, Todesqual, Dornenkrone.)
Eher einer stillen, ziehenden Anwesenheit sah ich mich ausgesetzt, nicht ohne eine gewisse Bangigkeit. Ich fühlte mich angeschaut, nicht unfreundlich, aber auch nicht vertraulich.
Prof. Leisegang (oben Nr.4) würde von kontemplativer Mystik sprechen.
Meine Gefühle, so könnte man es vielleicht ausdrücken, waren antik. Kulturgeschichtlich gehören sie in den Mittelmeerraum des zweiten oder dritten nachchristlichen Jahrhunderts, und mit einem Mithrasgläubigen oder Osirisjünger hätte ich mich durchaus über meine Empfindungen unterhalten können. Auch mit einem Kata-kombenchristen.
Im Mittelmeerraum, in der sogenannten hellenistischen Epoche, haben überall die sogenannten Mysterien geblüht, jene Geheimrehgionen, aus denen die europäische Mystik entsprungen ist. Verwandtschaften der Mysterien mit iranischen und fernöstlichen Gefühlskulturen sind nachgewiesen.
Was fängt ein junger Mann mit antiken Geheimgefühlen an? Zunächst einmal geht er schlafen.
Morgen ist auch noch ein Tag.

7
Auf den Katakombenheiland wird noch zurückzukommen sein. Er gehört den seltenen schönen Perlen, die man ungern hergibt, wenn man sie einmal gefunden hat.
Der Vergleich mit der Perle stammt aus dem Matthäusevangelium:
So gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er aber eine kostbare Perle fand, ging er hin, verkaufte alles, was er besaß, und kaufte sie.
Wie kommt der Kaufmann zu seinem sachkundigen Blick? Wie lernt er, Gefälschtes vom Echten zu unterscheiden? Wie vermeidet er es, nach Strich und Faden betrogen zu werden?
Auch der sachkundige Kaufmann hat als Anfänger begonnen. Irgendwann wird ihm ein schlauer Perlenhändler zugeflüstert haben:
Hier habe ich etwas ganz Besonderes für dich!
Und der unerfahrene Kaufmann tätigt überstürzt den Handel, nur um später darüber belehrt zu werden, daß er einer Fälschung aufgesessen ist.
Einer Mystifikation.
Was auf dem Gebiet des Perlenhandels gilt, sollte in dem so heiklen Bereich der Mystik nicht vernachlässigt werden: Äußerste Vorsicht beim Einschlagen in einen entscheidenden Handel.
Bevor die Anfänger nicht gelernt haben, zwischen Mystik und Mystifikation zu unterscheiden, sollten sie allen Mystikangeboten mit Reserviertheit begegnen.
Verweilen wir also noch ein wenig bei der vierten Lektion. Der Mystikmarkt ist voll von Angeboten, und der geschäftliche Niedergang der altrenommierten Gnadenfirmen hat eine Menge unseriöser Unternehmungen begünstigt, die handeln mit Joghurt und Yoga, vermitteln Flüge zu den Wunderdoktoren auf den Philippinen, versprechen transzendentale Erkenntnisse um 150 Dollar, mischen östliche und westliche Geheimlehren zum garantiert wirksamen Seelentee, organisieren Zirkel zum Zweck der Kontaktaufnahme mit den Verstorbenen, verschreiben wirksame Fastenkuren, feiern schwarze Messen, veranstalten Meditationskurse, präsentieren Sensitive, fotografieren die Aura der Fingerspitzen, dokumentieren fliegende Untertassen, experimentieren mit dem Od und der Schlangenkraft, bauen Karma ab und Aschrams auf, stellen Horoskope, veranstalten Symposien über C. G. Jung und Georg Gurdjieff, kommentieren das tibetanische Totenbuch und die Kabbala, werben für Heilkräuter.
Es gibt auch seriöse Firmen auf dem Mystikmarkt, aber in verhältnismäßig geringer Zahl.
Wie sollen die Anfänger unter dem großen Angebot eine Auswahl treffen?
Wie den Humbug von der angemessenen Information unterscheiden?
Ich darf zunächst die Grundsätze der ersten drei Lektionen in Erinnerung rufen:
1. Das Fasziniertsein vom Bedeutenden usw. soll verlernt, der bewundernde Blick in die Höhe umgebrochen werden. Wichtig sind Nähe, Niedrigkeit, Heimlichkeit.
2. Kleine Weigerungen sind zu üben.
3. Begriffsbestimmungen sind unnütz für die Anfänger und sollen tunlichst vermieden werden.
Die erste Regel gestattet den Anfängern, aus dem Mystikangebot all das auszusondern, was unter dem Anspruch des Niedagewesenen, absolut Wahren, Einmaligen usw. auftritt. Die Anfänger dürfen sicher sein, daß es sich bei Anpreisungen dieser Art um Humbug handelt.
Die zweite Regel erlaubt den Anfängern, zudringliche Missionare abzuweisen.
Die dritte Regel hilft den Anfängern, alle mit wissenschaftlichen Etiketten versehenen Mystiken zur Seite zu legen. Hier gilt der Merksatz des Philosophen Wittgenstein:
Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.
Bei Beachtung dieser Regeln kann man zu einer Haltung gelangen, die der Unterscheidung zwischen Mystik und Mystifikation überaus dienlich ist. Wir nennen sie den «inneren Vorbehalt».
Der Ausdruck stammt aus dem Roman Joseph und seine Brüder von Thomas Mann. Dort heißt es, die Verwandten des ägyptischen Joseph betreffend: «Auch daheim schon hatten er und die Seinen, die Abrahamsleute, immer als <gerim> und Gäste unter den Kindern des Landes gewohnt, angepaßt wohl, verbunden und eingesessen von langer Hand, aber mit innerem Vorbehalt und einem abgerückt-sachlichen Blick auf die greulich-gemütlichen Baalsbräuche der rechten Kanaanskinder.»
(Das hebräische Wort «gerim» heißt soviel wie «Fremde».) An einer anderen Stelle seines Romans drückt Mann die Gefühle des ägyptischen Joseph gegenüber dem allmächtigen Pharao wie folgt aus: «Spott gegen das unverschämt Erdengewaltige; geheime Auflehnung in Gottes Namen gegen Nimrods gesammelte Köngismacht.»
(Nimrod war, nach einer Bemerkung der Bibel, der erste Gewalthaber auf Erden.)
Die Haltung des inneren Vorbehalts kann am besten bei den Juden studiert werden. Auch die Katakombenchristen haben sich in ihr geübt. Daß sie keineswegs ausgestorben ist, bezeugt meine Tante Rosa. Die Haltung des inneren Vorbehalts ist immer dann angebracht, wenn man mit herrschenden Meinungen konfrontiert wird. Die Anfänger dürfen von der Annahme ausgehen, daß herrschende Meinungen in der überwiegenden Zahl der Fälle mit Mystifikationen durchwirkt sind. Herrschende Meinungen vertragen sich mit der Mystik schlecht.
An dieser Stelle meiner Ausführungen möchte ich, zu Nutz und Frommen der Anfänger, eines unbekannten und längst verstorbenen Genies dankbar gedenken:
Des Stammvaters und Urahnen der ägyptischen Grabräuber.
Er lebte früher als Moses, und sein Spott gegen das unverschämt Erdengewaltige gehört zu den besten Erfindungen der Menschheit.
Der ägyptische Pharao war, nach der damals herrschenden Meinung, ein Gott.
Dementsprechend großzügig gestaltete sich sein Übergang von der diesseitigen in die jenseitige Daseinsform, wie an den ägyptischen Pyramiden und sonstigen Königsgräbern ersichtlich ist.
Sie alle wurden, zur Trauer der Touristen und Altertumswissenschaftler, gründlichst ausgeplündert, mit Ausnahme des Grabes von Tut-ench-Amun, das von den Grabräubern offenbar üibersehen worden ist.
Die Grabräuber, so wird man belehrt, arbeiteten mit Sachkundigkeit und Geduld. Alle die aufgestellten Fallen, die blinden Gänge, die Wachen - die Grabräuber verfügten über Mittel und Wege, um trotzdem zu den Grabschätzen zu gelangen. Man vermutet, daß unter den Pyramidenarbeitern bereits Spione der Grabräuber waren, und vielleicht war der eine oder andere Grab-Architekt von den Räubern bestochen. Noch heute soll es in Ägypten gewisse Familien geben, die kostbare Informationen hüten und diese auch auswerten, als professionelle Diebe, allen polizeilichen Gegenmaßnahmen zum Trotz.
Die Grabräuber Ägyptens verkörpern eine uralte religionskritische Tradition.
Es erhebt sich die Frage nach dem Stifter dieser ehrwürdigen Überlieferung.
Handelte es sich vielleicht um einen verschmitzten Priester unteren Ränge, dem die Klostersuppe zu dünn war?
Wir wissen es nicht.
Irgendwann einmal, das darf jedenfalls angenommen werden, hat ein Mensch in Ägypten zum erstenmal einen streng verpönten Gedanken gedacht, im Angesicht der prunkvollen Begräbnisbräuche der hohen Herrschaften:
Aber das ist doch ein Humbug!
Hierbei handelt es sich um einen religionshistorisch überaus wichtigen Augenblick.
Die Anfänger sind hiermit eingeladen, diesen Augenblick als Geburtsstunde der Ketzerei zu betrachten.
Man könnte annehmen, daß der erste Pyramidenplünderer aus einem Volksstamm kam, der von den Pharaonen unterworfen und dem ägyptischen Reich einverleibt worden war. Es gibt viele Beispiele dafür, wie zäh sich in derart belästigten Menschengruppen das Mißtrauen gegen die jeweils siegreichen Gläubigkeiten gehalten hat, über viele Generationen hinweg, bei nach außen hin zur Schau getragenen Fügsamkeit.
So mag unser Erzräuber die Spottlust gegen das unverschämt Erdengewaltige schon mit der Muttermilch bekommen haben - was seiner Originalität keineswegs Abbruch tut. Seine erfinderische Leistung bestand darin, den Schritt vom ohnmächtigen Querulieren zur gewinnbringenden Praxis getan zu haben.
Ich kann mir seine flinken Augen beim Pyramidenbau vorstellen, seine schmeichlerische Gefügsamkeit gegenüber den Fronvögten und Feldwebeln des gewaltigen Unternehmens. Ein anstelliger, hübscher und geschmeidiger Sklave. Vielleicht hat er sich in die nächste Umgebung des Chefarchitekten emporgedient, an Türen gelauscht und bei alledem seine Gesundheit geschont. Während andere Fronsklaven wie die Fliegen sterben, fächelt er dem Hofkonstrukteur unterm Prunkzelt Kühlung zu.
Er weiß: Beim Tod des Pharao werden gewaltige Schätze in die Pyramide gebracht, als Jenseitstrost für die göttliche Mumie.
Und eines Tages denkt er zum erstenmal den kühnen Gedanken: Diese Schätze kann man sich holen.
Gar keine Angst vor dem Gott in der innersten Kammer? Nein.
Es handelt sich dabei um eine ganz gewöhnliche Leiche.
Später steht er demütig im Spalier, während die Barken der Priester über den Nil kommen, mit der Leiche des Pharao und den Schätzen. Er lauscht den wochenlangen Gebeten, verbeugt sich im Takt mit den anderen Sklaven.
Nach dem Einfügen des Schlußsteins kehrt er mit seinem Herrn in die Stadt der Lebendigen zurück. Sorgsam bereitet er seine Flucht vor, und eines Nachts verschwindet er aus dem Palast, zurück zu den Seinen am Rand der Wüste.

Ob er wohl selbst noch ans Ziel seiner Wünsche gelangt ist? Warum nicht? Wenn er mit 20 den entscheidenden Vorsatz gefaßt hat, dann blieben ihm gute 40 Jahre zur Verwirklichung seines Vorhabens - vorausgesetzt eine gute Gesundheit.
Als alter Mann steht er schließlich mit seinen Gefährten vor den Schätzen, keuchend und hustend in der staubigen und dumpfen Luft. Im Licht der Fackeln glänzt das Gold.
Bravo, meine Herren!
Das Gold wird zweifellos einer nützlichen Verwendung zugeführt werden.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Das Verslein: Vgl. Oldenburg, Die Lehre der Upanischaden und die Anfänge des Buddhismus, Göttingen 1923.

  2. Das zweite Gebot Gottes: Exodus 20,7. - In den vorhergehenden Versen 3-6 (= sog. «erstes» Gebot) wird die Verwendung von Artefakten zum Zweck der Gottesverehrung untersagt, was für die damaligen Verhältnisse eine eminent religionskritische Maxime darstellt.

  3. Trage nicht: M. Buber-F. Rosenzweig, Die Schrift, 4 Bände (1926-1961).

  4. Eine andere Übersetzung: Jerusalemer Bibel, Freiburg: Herder, 1968.

  5. An die Adresse der Vorgesetzten: Im Gegensatz zu Marfin Luther, dessen Kritik an den Obrigkeiten nie prinzipiell war, sprach der Theologe Thomas Müntzer (1490-1525) den Untertanen das Recht zum gewaltsamen Widerstand gegen eine ungerechte Obrigkeit zu. Herrschaftskritisch ist die Bemerkung Müntzers, die «großen Hansen» hätten Gott «zum gemalten Männlein gemacht». In Müntzers Manifest an die Mansfelder Berggesellen wird der Aufruf zum Kampf gegen die physische Gewalt der ungerechten Behörden zugleich ein Protest gegen das (theologische) Herrschaftswissen: «Lasset euer Schwert nicht kalt werden, erlahmt nicht! Schmiedet pinkepanke auf den Ambossen Nimrods, werfet ihnen den Turm zu Boden! Es ist nicht möglich, solange sie leben, daß ihr der menschlichen Furcht leer werden solltet. Man kann euch von Gott nichts sagen, solange sie über euch regieren. » Vgl. Thomas Müntzer, Schriften und Briefe, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1973, Seite 99, 181.

  6. Der Vergleich mit der Perle: Matthäus 13,45 f.

  7. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1963, Seite 114

  8. Thomas Mann, Josef und seine Brüder, 2. Band, Frankfurt am Main:Fischer Bücherei, 1971, Seite 717, 510.

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