Elfte Lektion

Das sechste, was die Anfänger verlernen müssen, ist die Trauer um den verlorenen Kinderglauben


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Hier ist der Schluß einer Predigt, die ich am 6. Mai 1956 gehalten habe:
«Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, sagt Christus. Für alle Menschen, nicht nur für diese Kinder, die heute das Glück haben, zur ersten heiligen Kommunion gehen zu dürfen. Wäre es nicht die größte Gnade, wenn ein Vater, eine Mutter, eine Nachbarin oder etwa gar ein vorübergehender aus dem Glanz dieser Kinderaugen eine Ahnung mit sich nehmen würde, daß sein Leben kalt und trostlos ist ohne die Geborgenheit in Gott, ohne die Speise Gottes, zu deren Genuß ihn Christus einlädt geradeso wie diese Kinder? Und so wäre es unser Wunsch, daß wir alle aus dem unschuldigen Geschehen dieser Stunde wieder ein wenig Glauben an das Gute in dieser Welt, ein wenig Zuversicht mitnehmen möchten, daß Gott immer noch lebt und die Seinen nicht vergißt. Daß Gottes Liebe zu uns Menschen so groß war, daß er uns sogar erlaubt hat, ihn zu essen. Wenn ihr nicht so werdet wie die Kinder, spricht Christus, dann werdet ihr nicht eingehen in das Reich der Himmel. Wann hätten diese Worte mehr Bedeutung als am heutigen Tag? Unsere Kinder sind heute wahrhaftig unser Vorbild. So wie sie sollten auch wir wieder zur Kommunionbank finden - einfältig und mit der Sehnsucht im Herzen. Mit der Sehnsucht nach Gott im Herzen wieder zu Kindern werden, die nach Liebe verlangen. Amen.»
Die Zuhörer sagten: Vergelt's Gott.
Die Zuhörer sagten immer dann «Vergelt's Gott», wenn ich «Amen» sagte. Zwar änderte sich, in den 20 Jahren meiner Tätigkeit als Prediger, die Art meiner Predigten. Im Lauf der Zeit hörte ich auf, Formulierungen wie «Glanz dieser Kinderaugen» oder «ein wenig Glauben an das Gute in dieser Welt» zu verwenden. An dem Brauch, eine jede Predigt mit «Amen» zu schließen, hielt ich jedoch bis zu meiner letzten Predigt (im Mai 1973) fest. Auch nach meiner letzten Predigt sagten die Zuhörer: Vergelt's Gott.
Die Zuhörer hielten an dem Brauch fest, auf das «Amen» des Predigers das «Vergelt's Gott» zusagen. In Wien besuchen etwa zehn Prozent der getauften Katholiken regelmäßig den Sonntagsgottesdie nst und die Predigt. Die regelmäßigen Gottesdienstbesucher werden «praktizierende Katholiken» genannt, im Gegensatz zu den sogenannten «Taufscheinkatholiken».
Die Taufscheinkatholiken gehen, wenn überhaupt, nur sehr selten zum Gottesdienst.
Die Zuhörer meiner Predigten setzten sich aus praktizierenden Katholiken zusammen. Manchmal allerdings kamen auch Taufscheinkatholiken, zu bestimmten Anlässen, wie beispielsweise am Tag der «ersten heiligen Kommunion». Die Mehrzahl der Eltern der «Erstkommunionkinder» waren Taufscheinkatholiken. Sie besuchten, wenn überhaupt, nur sehr selten den Sonntagsgottesdienst.
An dem Tag der ersten heiligen Kommunion ihrer Kinder begleiteten sie diese zur kirchlichen Feierstunde, und manche ließen sich sogar dazu überreden, ihrerseits zur Kommunion zu gehen. Für viele Eltern war diese Kommunion die erste seit ihrer Eheschließung. Manche Eltern sagten zu mir:
Aber ich bin doch schon seit 20 Jahren nicht mehr bei der Kommunion gewesen!
Bei der Vorbereitung meiner Erstkommunionpredigt dachte ich an die taufscheinkatholischen Eltern. Es bekümmerte mich, daß diese Eltern so selten zur Kirche und zur Kommunion gingen. Ich wählte aus meinem damaligen Wortschatz jene Wörter, die in den taufscheinkatholischen Erstkommunioneltern eine Geneigtheit zum öfteren Empfang der Kommunion bewirken sollten. Ich sprach daher von der Kälte und Trostlosigkeit eines Lebens ohne Geborgenheit in Gott, von der Sehnsucht nach Gott, von der Zuversicht, daß Gott immer noch lebt.
An der Zusammensetzung der regelmäßigen Zuhörer meiner Predigten änderte sich nichts.
Am 15. Mai 1957 - wiederum anläßlich einer Erstkommunionfeier - probierte ich es mit Mahnungen und Drohungen. Ich sagte:
«Mit Trauer müssen wir feststellen, daß die Bereitwilligkeit der Eltern gegenüber der Arbeit der Kirche an ihren Kindern von Jahr zu Jahr eher nachzulassen scheint. Je höher der Lebensstandard, desto niedriger der Seelenstandard, möchte man fast sagen. Und doch, wer hätte mehr Erfahrung, sich um die Seelen der Kinder zu kümmern in wahrer Seelsorge, als die alte, weise, gütige Kirche? Auch wenn sie streng ist, immer bleibt sie eine Mutter. Ohne die Hilfe der Eltern vermag allerdings die Kirche nur wenig, die Gnade fließt spärlicher, die Katastrophen häufen sich. Die Zahl der Irrsinnigen, die in Anstaltspflege sind, nimmt ständig zu. Der Prozentsatz der schwererziehbaren Kinder ist im Ansteigen. Hier aber sind die Heilmittel - sie werden jedoch zu wenig benützt.»
Am Ende dieser Predigt sagten die Zuhörer: Vergelt's Gott.
Meine nächste Erstkommunionpredigt hielt ich am 30. Mai 1958. In ihr stellte ich die Frage:
«Begreifen nur die alten Leute und die Kinder das Geheimnis des Leibes Christi?»
Es handelte sich um eine sogenannte rhetorische Frage. Die -ebenso rhetorische - Antwort wurde nicht gegeben. Sie lautete: Ja. Indem die Zuhörer dazu provoziert wurden, sich diese Antwort stillschweigend zu geben, sollte in ihnen (und hauptsächlich in den Taufscheinchristen unter ihnen) eine Betroffenheit bewirkt werden. Ob diese Wirkung erreicht wurde, weiß ich nicht. Die Zuhörer sagten es mir nicht. Sie sagten:
Vergelt's Gott.
Im nächsten Schuljahr begann ich am Gymnasium Religion zu unterrichten, wodurch meine Tätigkeit als Lehrer von Erstkommunionkindern beendet wurde. (Die erste heilige Kommunion wird während der Absolvierung der Grundschule erteilt, gegen Ende des zweiten Schuljahres.)
Insgesamt habe ich rund 1000 Predigten gehalten, fast immer vor praktizierenden Katholiken. Was immer ich sagte, wie immer ich sprach - die Taufscheinkatholiken kamen nicht in die Kirche. Sie hatten andere Dinge im Kopf. Sie stellten die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dar.
Ich gelangte zur Auffassung, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an der Religion desinteressiert sei. Gleichwohl blieb zu bedenken, daß die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung die gese tzlich vorgeschriebene Kirchensteuer bezahlte. (Die Einrichtung der Kirchensteuer gibt es in Österreich, in der Bundesrepublik Deutschland und in einigen Schweizer Kantonen; in den übrigen christlichen Ländern werden freiwillige Spenden erhoben.)
In Österreich besteht der Brauch, daß der Kirchendiener beim Einsammeln der Geldspenden während des Gottesdienstes eine bestimmte Dankesformel verwendet. Er sagt: Vergelt's Gott.

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Der Unterrichtsgegenstand, den ich als Lehrer an der Grundschule bzw. am Gymnasium unterrichtet habe, heißt «Religion». In Wirklichkeit habe ich jedoch die katholische Glaubens-, Sitten- und Frömmigkeitslehre unterrichtet. «Religion» ist ein moderner Begriff und als solcher etwa 300 Jahre alt.
Die Wortgeschichte von «Religion» geht auf das Lateinische zurück. (Im Altgriechischen und auch im Hebräischen gibt es kein entsprechendes Wort für das lateinische «religio», auch im Sanskrit nicht.) Was die alten Römer (bevor sie ihr sogenanntes Imperium hatten) unter «religio» verstanden haben, ist auf eine simple Bauernfrömmigkeit zurückzuführen: die sorgfältige Beachtung und Durchführung bestimmter Riten, zum Zweck der Besänftigung der Naturkräfte. Ferner gab es Ahnengeister in jeder Großfamilie, sowie Haus-
und Hofgeister, sorgfältig betreut vom Chef der Sippe. Später, als es schon höher herging, baute man Tempel, beschäftigte Priester, importierte Götter aus dem Ausland.
Praktizierende Christen (Juden, Mohammedaner, Buddhisten usw.) sind im altrömischen Sinn «religiös»: weil sie fromme Bräuche sorgfältig und regelmäßig beobachten.
Im europäischen Mittelalter wurde das Lateinische zur Gelehrtensprache. Das Wort «religio» wurde von den Juristen beschlagnahmt, zur Bezeichnung der (christlichen) Männer- und Frauenorden.
Nach der Reformation bekam das Wort einen staatskirchenrechtlichen Sinn, als «Religionsbekenntnis». Eine berühmtgewordene Maxime (ab 1555, dem Augsburger «Religionsfrieden») räumte dem Landesfürsten das Recht ein, das Religionsbekenntnis seiner Untertanen zu bestimmen: Cuis regio, eius religio (wessen das Land, dessen die Religion). Dann begannen die Religionskriege in Europa, inklusive Dreißigjährigem Krieg, und vermittelten der Bevölkerung eine dauerhafte, intensive und eher unangenehme Beschäftigung mit der (katholischen bzw. protestantischen) «Religion». Nach 1648, dem Ende dieser Periode, begann man sich - zuerst in den Kreisen der Intellektuellen - zu fragen, ob die vielen Religionstoten in der Absicht Gottes gelegen hätten oder ob sie die Opfer der fürstlichen und pfäffischen Machtpolitik waren. In den aufgeklärten Salons begann man von einer «natürlichen Religion» zu sprechen als von einem Menschheitserbe quer durch Zeiten, Kulturen, Völker und Kirchen, einer uralten Beschäftigung mit dem «Höheren Wesen» seit eh und je, verdunkelt zwar durch Priestertrug und Aberglauben, aber edel in seinem Ursprung und durchaus nicht im Widerspruch zum Licht der Vernunft und Humanität. Lessings «Nathan» brachte solche Gedanken auf die Bühne, mit Tolerenzappell und Relativierung der bestehenden Glaubensanstalten, zu Nutz und Frommen der gebildeten Schichten. Die hielten sich zwar noch an ihren Taufschein, waren aber doch schon aufgeklärt genug, in Debatten um den richtigen Glauben den Grundsatz zu vertreten:
Hauptsache, man ist ein anständiger Mensch.
Dies war auch der Standpunkt meiner Großmama, der Frau Walch. Sie begab sich jeden Sonntag in die Wiener Hofburgkapelle, der Musik wegen. Sie liebte die Stimmen der Wiener Sängerknaben, die dort das feierliche Hochamt sangen. Das Tun des Priesters bezeichnete sie als «Hokuspokus».
Mit meinem Wunsch, Priester zu werden, brauchte sich die Frau Walch nicht auseinanderzusetzen. Sie starb im Jahr 1941, an Leberkrebs. Ich war damals l 1 Jahre alt und beim «Deutschen Jungvolk» (einer Organisation der Hitlerjugend). Ans Priesterwerden dachte ich damals noch nicht. Die Wiener Sängerknaben singen immer noch in der Hofburgkapelle das feierliche Hochamt, an Sonn- und Feiertagen. (Eintrittskarten sind in den Theaterkartenbüros erhältlich.)
Die Einstellung meiner Großmama zur Religion war insofern radikaler als die der Taufscheinchristen, als meine Großmama aus der (katholischen) Kirche, in die sie hineingetauft worden war, ausgetreten ist. Sie war, seit sie erwachsen wurde, «konfessionslos». Ob sie an ein «Höheres Wesen» geglaubt hat, weiß ich nicht. Sie hat auf mich keinen religionskritischen Einfluß ausüben wollen, vielleicht in der Annahme, daß dies erst später geschehen solle. Unerbittlich war meine Großmama bei ihrer Erziehungsarbeit an mir nur in einem Punkt, der Wahrheitsliebe. Ehe ich in die Schule zu gehen anfing, hatte sie mir das Lügen gründlich abgewöhnt.
Sie hat damit die Grundlage dafür gelegt, daß ich das zweite Gebot Gottes für wichtiger halte als das dritte, vierte usw. Es lautet, wie bereits erwähnt (Nr.5):
Verwende Gottes Namen nicht zur Täuschung der Menschen.
Vielleicht sollte ich hier nachtragen, daß meine Tante Rosa (Nr.1, 2, 3) mit mir nicht leiblich verwandt war. Sie war eine Jugendfreundin der Frau Walch. Sosehr die Standpunkte der beiden Frauen hinsichtlich Religion voneinander abwichen, in einem Punkt konnten sie sich verständigen: In der Ablehnung der katholischen Kirche. Ob sie sich jemals über religiöse Fragen unterhalten haben, weiß ich nicht. Wahrscheinlich werden sie das Thema vermieden haben, um nicht streiten zu müssen.
Bezüglich der Hinwendung meiner Tante Rosa zu den Adventisten (inklusive nochmaliger Taufe) bemerkte die Frau Walch gelegentlich, in eher abwertendem Ton:
Die ist auf ihre alten Tage noch in die Salzach gestiegen, um sich taufen zu lassen, mitten im Winter!
(Der Fluß, der durch Salzburg fließt, heißt Salzach.)
Daß ein Mensch aus religiösen Beweggründen sich ins eiskalte Wasser eines Flusses begibt, überstieg die Fassungskraft meiner Großmama.
Mit meiner Großmama und der Tante Rosa würde ich mich gerne über Religion und Mystik unterhalten. Beide verfügten sie, jede auf ihre Weise und im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten, über ein beachtliches Ausmaß an Radikalität. Beide haben sich, wenn auch mit verschiedenen Ergebnissen, Gedanken über die landläufige Religion gemacht und haben aus ihren Gedanken auch Konsequenzen gezogen. Beide haben der landläufigen (diesfalls katholischen) Religion den Rücken gekehrt, was zu ihren Zeiten einen gewissen Mut erforderte.
Meine Mutter ist katholisch geblieben, aber nicht aus Gedankenlosigkeit.
Das Gemeinsame in der Haltung dieser drei Frauen: Eine jede hatte hinsichtlich Religionsbekenntnis eine Entscheidung getroffen.
Eine solche Entschiedenheit in religiösen Angelegenheiten kann weiterempfohlen werden.

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Der Gegenstand meiner Vorlesungen an der Universität (in Wien) wird «Religionswissenschaft» genannt. Meine Aufgabe bestand darin, die Studenten mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Erforschung religiöser Phänomene bekannt zu machen. Die Studenten mußten eine Menge lernen, und ich mußte die Studenten prüfen, ob sie auch ordentlich gelernt hatten.
Das Berufsziel meiner Studenten: Katholischer Priester bzw. Religionslehrer.
Der Gegenstand meiner Vorlesungen war nicht die katholische bzw. christliche Religion. (Dieser Gegenstand wurde von anderen Professoren betreut.) Ich hatte vielmehr all das zu referieren, was außerhalb des Christentums an religiösen Formen und Gestalten anzutreffen ist, in Vergangenheit und Gegenwart. Auf diese Weise machte ich die Studenten mit den frommen Bräuchen im alten Ägypten und bei den Mayas bekannt, erzählte ihnen von steinzeitlichen Gräbern und afrikanischen Knabenweihen, behandelte das indische Mönchtum und die Seelenvorstellungen bei den Eskimo. Ich zitierte aus den Schriften der Philosophen, berichtete von Ausgrabungen setzte mich mit den Theorien der Psychologen und Soziologen hinsichtlich Religion auseinander, verglich Kulturen miteinander, kommentierte die Kopfjägerei und die Verehrung des männlichei Gliedes.
Meine Vorlesungstätigkeit beruhte auf einer Voraussetzung, die hatte ihre Begründung in den Schriften diverser Gelehrter und Literaten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wie bereits erwähnt (Nr. 17, 46). Die Voraussetzung lautete: Alle Erscheinungen religiöser Art, so verschiedenartig sie auch sind, haben etwas gemeinsam, nämlich «religiös» zu sein. (Hätten sie gar nichts miteinander gemein, dan könnte man sie nicht mit einem gemeinsamen Namen «Religion» belegen.)
Diese Voraussetzung ist falsch.
Was (zum Beispiel) sollen meine Gefühle in der Seminarkapel (Nr. 6) mit den Gefühlen einer Gruppe von Eingeborenen zu tun haben, die vor 100 Jahren irgendwo auf Kopfjagd gingen?
Nach Auffassung der Religionswissenschaft wären beide Gefühle «religiös». In Wirklichkeit haben sie ebensowenig miteinander gemeinsam wie eine Soldatin der Heilsarmee mit einer Tempeldirne.
Die Entstehung der Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert geschah nach einem einfachen Rezept. Man nehme ein Wort («Religion»), blase es zu einem Begriff auf, behaupte das Vorhandensein dieses Begriffes in der Wirklichkeit aller menschlichen Kulturen einst und jetzt und belege sodann die verschiedensten Vorkommnisse mit diesem Begriff.
Dieses Konzept hatte Erfolg, und man gründete Lehrkanzeln für Religionsgeschichte.
Den Grund für den Erfolg der Religionswissenschaft auf akademischen Böden erblicke ich u. a. in der Zusammenarbeit von Kirchenbehörden und Staatskanzleien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im österreichischen Kaiserstaat beispielsweise wurden im Jahr 1805 mehrere Lehrkanzeln für «Religionswissenschaft» errichtet. Die Urheber dieser religionspolitischen Maßnahme waren der kaiserliche Beichtvater von Darnaut und der kaiserliche Burgpfarrer Jakob Frint. Beide Herren waren - zehn Jahre nach der Niederschlagung revolutionärer Erhebungen in Österreich und Ungarn - mit Kaiser Franz I. für eine restaurative Politik der Gegen-Aufklärung. Frint erhielt die Lehrkanzel für Religionswissenschaft an der philosophischen Fakultät der Universität Wien und den Auftrag, ein für alle neuen religionswissenschaftlichen Lehrkanzeln verbindliches Lehrbuch zu verfassen.
Im österreichischen Vormärz haben Romantik und Religionswissenschaft zwischen Thron und Altar vermittelt, gefördert vom Fürsten Metternich, dem päpstlichen Nuntius und dem Polizeiminister Graf Sedlnitzky.
Mit «Religion» war die katholische gemeint.
Die überwiegende Mehrzahl der deutschsprachigen Lehrkanzeln für Religionswissenschaft ist bis heute staatskirchenrechtlich geregelt: sie unterstehen den jeweiligen (katholischen oder evangelischen) Kirchenbehörden.
Das macht: Als der Einfluß der großen christlichen Kirchen auf das städtische Bürgertum abzunehmen begann, im Gefolge von Aufklärung, Revolution und Frühkapitalismus, haben die Kirchenmänner nördlich und südlich der Alpen «die Religion» entdeckt. Solange nämlich ein Mensch irgendwie «religiös» ist, kann er an den bestehenden Religionsgemeinschaften nicht achtlos vorübergehen. Da es (außerhalb der kommunistisch regierten Länder) nur relativ wenige Menschen gibt, die sich offen als «areligiös» oder «irreligiös» bezeichnen, können die Religionsgemeinschaften ihre Daseinsberechtigung bis heute behaupten.
Das Wort «Religion» (und alle von ihm abgeleiteten Haupt- und Eigenschaftswörter) bezeichnet in Wirklichkeit die tatsächlichen kirchlichen Verhältnisse in den Industrieländern.
Religion: Das ist der staatlich, gesellschaftlich und kulturell anerkannte Restbestand dessen, was von der Kirchenpraxis des europäischen Mittelalters heute noch da ist, in den Köpfen der Industriebevölkerungen.
Im Mittelalter fehlte das Wort «Religion» in den damaligen Umgangssprachen, ebenso wie das Wort «Mystik». Beide Wörter sind rückwärtsgerichtete, an der Vergangenheit orientierte sprachliche Neuschöpfungen, entstanden in der Zeit des realen Verfalls dessen, was sie bezeichneten. Moderne Mystiker und Religionsgründer verhalten sich zu den geschichtlichen wie Plastik zu Holz, wie Rilke zu Franz von Assisi.
Zur Entspannung der Anfänger nach dieser strengen Analyse der neuzeitlichen Religionsverhältnisse schlage ich ein kleines gedankliches Spiel vor, das
ZEITVERSETZUNGSSPIEL.
Es besteht darin, sich selbst und andere Menschen (auch verstorbene) gedanklich in jene Zeit zu versetzen, in die sich (vermutlich) die betreffende Person gerne begeben würde, interessehalber und vorübergehend, mit Hilfe einer Zeitversetzungsmaschine. Es soll die Regel gelten: Nur eine einzige Zeitversetzung ist gestattet.
Ich zum Beispiel würde mich zu den Urchristen in die Katakomben versetzen lassen (und wahrscheinlich eine Enttäuschung erleben). Meine Mutter würde vielleicht einer Predigt des heiligen Antonius lauschen wollen.
Die Tante Rosa könnte mit dem Gründer der Adventisten zusammentreffen oder mit Jesus Christus persönlich.
Der Frau Walch würde eine Eintrittskarte zur Uraufführung der «Zauberflöte» sicher eine große Freude bereiten.
Alle Geschichtsprofessoren werden in jene Epoche zurückverse tzt, auf die sie spezialisiert sind. Dann wird ein Knopf der Zeitversetzungsmaschine gedrückt, und sie können nicht mehr zurück in die Gegenwart gelangen. Sie sind dann endlich dort, wo sie hingehören:
in der Vergangenheit.

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Im August 1973, gelegentlich eines Aufenthaltes in Albanien, besuchte ich eine vollautomatische Kunstdüngerfabrik. Im Kontrollraum der Fabrik unterhielt ich mich mit einigen Facharbeitern. Einer der Arbeiter sprach ein wenig Französisch, und so konnten wir uns verständigen. Mein Hemd war offen, und mein Gesprächspartner bemerkte ein Amulett, das ich an einem Kettchen um den Hals trug.
Was ist das?
Etwas Religiöses, eine Maria.
Der Arbeiter lachte, freundlich und verwundert.
Die anderen Arbeiter hatten seine fragende Geste gesehen, mit der er auf das Medaillon deutete. Als ihnen meine Antwort übersetzt wurde, lachten auch sie, fröhlich und verwundert.
Hier sind wir alle Atheisten, sagte der Arbeiter zu mir.
Er sagte es feststehend, ohne besonderes Gewicht auf diese Bemerkung zu legen. Dann sprachen wir von anderen Dingen.
Albanien ist das erste Land, in dem die Religion von Staats wegen verboten ist. 1948 hatte die Regierung alle Religionsgemeinschaften in Albanien (Mohammedaner, Juden, orthodoxe und katholische Christen) für illegal erklärt. Im Jahr 1967 erklärte sich Albanien zum atheistischen Staat; alle Moscheen, Kirchen und Synagogen wurden geschlossen; jegliche Kulthandlungen wurden als Verbrechen gegen den Staat strafrechtlich verfolgt; die Geistlichkeit bekam Arbeitsplätze in der Landwirtschaft oder der Industrie zugewiesen. Manche Gotteshäuser, wie beispielsweise die Moschee in Durres, wurden niedergerissen. An dieser Stelle der Moschee in Durres befindet sich jetzt ein Kulturhaus. Auf dem Kulturhaus ist eine Tafel mit einer Inschrift, von der ich nur das Wort «Obskurantizmit» deuten konnte.
Das Wort «Obskurantismus» stammt aus der Aufklärung. Damals wurde ein Feind der Aufklärung als Obskurant (= Finsterling, Verdunkler) bezeichnet. Ich nehme an, daß die erwähnte Inschrift auf die verfinsternde Wirkung der abgeschafften Religion hinweisen sollte.
Albanien hat rund zwei Millionen Einwohner.
Das goldene Amulett, das ich vor 15 Jahren geschenkt bekam und seither trug, heißt «Wundertätige Medaille» oder «Medaille von der Unbefleckten Empfängnis». Es zeigt auf der Vorderseite Maria, die auf einer Weltkugel steht und die Schlange zertritt, mit der Umschrift:
O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir zu dir unsere Zuflucht nehmen. Auf der Rückseite der Medaille befindet sich ein M (für «Maria») und zwei kleine Herzen unter dem M. Hierbei handelt es sich um das heiligste Herz Jesu und das Herz Mariä. Die Medaille wurde erstmals im Jahr 1832 geprägt, auf Veranlassung des (katholischen) Erzbischofs von Paris und eines gewissen Abbé Aladel. Letzterer war der Beichtvater der Nonne Catherine Laboure, welcher die Muttergottes erschienen war. Die Muttergottes hatte der Nonne den Auftrag erteilt, Medaillen der beschriebenen Art prägen zu lassen. Maria versprach allen Trägern der Medaille ihren besonderen Schutz in der Sterbestunde, zur Abwendung der Gefahr, in die Hölle zu kommen.
Da ich die Medaille kaum abnahm, rostete der Verschluß des Kettchens schließlich ein. Um die Medaille abzulegen, hätte ich Gewalt anwenden müssen. Das wollte ich nicht.
Einige Zeit nach meinem Besuch in Albanien fragte mich der Masseur in einer Wiener Sauna nach der Bedeutung meines Amuletts.
Dieselbe Antwort wie für den albanischen Facharbeiter. Hängt das nicht mit Aberglauben zusammen, sagte der Masseur. Ein wenig, sagte ich.
Dann, eines Morgens, lagen Kettchen und Amulett neben mir auf dem Kopfpolster.
Am Abend zuvor hatte ich mit der Katze gespielt, und die Katze hatte mit ihrer Pfote ein wenig an dem Kettchen gezogen.
Seither zögere ich, das Amulett wiederum anzulegen.
Die Katze heißt Pupsi. Sie ist schwarz und von Geburt Italienerin.
Die Anfänger werden gebeten, darüber nachzudenken, ob sie an meiner Stelle das Kettchen reparieren lassen würden. Ob sie das Amulett trotz des religionskritischen Zwischenfalls mit der Katze wiederum tragen würden.

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Der albanische Facharbeiter und der Wiener Masseur (Nr. 48) vertreten eine Haltung, die ist ein Novum in der Menschheitsentwicklung:
Die fröhliche Gottlosigkeit.
In den kommunistischen Ländern gehört sie zur offiziellen Linie der staatstragenden Partei, unter der (ein wenig schwerfälligen) Bezeichnung «Atheismus». In den übrigen Industrieländern wird sie inoffiziell praktiziert, von der Mehrheit der Bevölkerungen. In den Ländern der sogenannten dritten (und vierten) Welt ist sie noch nicht vorhanden. Es gilt die Faustregel:
Ab 500 Dollar Jahreseinkommen pro Kopf beginnt die Ausbreitung der fröhlichen Gottlosigkeit.
Als eine fröhliche ist die moderne Gottlosigkeit deshalb zu bezeichnen, weil die in ihr lebenden Menschen Gott für gewöhnlich gar nicht vermissen. Zwar wird, in literarischen oder philosophischen Kreisen, gelegentlich von dem Gefühl der Leere (der Sinnlosigkeit, der Daseinsangst usw.) gesprochen, von dem «der moderne Mensch» befallen sei, nicht selten unter Verweis auf die psychosomatischen Krankheiten, die Irrenhäuser, die Selbstmordraten und die Jugendkriminalität. Linksgerichtete Kulturkritiker bevorzugen in diesem Zusammenhang den Fachausdruck «Entfremdung». Rechtsgerichtete Beobachter lieben die Formel vom «geistigen Elend». (Die Kulturseiten regionaler Zeitungen sind eine Fundgrube für diese Art Vokabular.) Manchmal wird in diesem Zusammenhang mit Genugtuung darauf hingewiesen, daß in der Sowjetunion ein religiöses Erwachen zu verzeichnen sei, insbesondere unter der atheistisch erzogenen Jugend.
Außerhalb der anspruchsvolleren Kultur (die für die Mehrzahl der Menschen ohnehin uninteressant ist) fehlt jedoch Gott im Alltag der Industriemenschen, und bislang ist dieses Fehlen zu keinem öffentlichen Problem geworden, vergleichbar dem Stellenwert, den beispielsweise die Geldentwertung oder die Entwicklung der Löhne hat.
Das Fehlen Gottes ist ein Minderheitenproblem.
Wer sich heute, als Industriemensch, mit der Anwesenheit oder Abwesenheit Gottes nicht nur ausnahmsweise (bei einem Todesfall etwa) beschäftigt, gehört einer Minderheit an.
Zwar läuten, auch in den Großstädten, immer noch die Kirchenglocken, aber ohne besonderen Signalwert für die Mehrzahl der Bevölkerung. Nur noch wenige fühlen sich von ihnen zum (alltäglich verrichteten) Gebet gerufen.
Die Anfänger mögen zur Kenntnis nehmen, daß sie Minderheitenstatus haben, vergleichbar den Liebhabern einer aussterbenden Sprache oder einem Verein zur Züchtung seltener Blumen.
Es wäre ein Fehler, wenn die Anfänger diese Lage der Dinge beklagenswert fänden. Es gilt der Merksatz: Alles Neue hat einmal klein angefangen.

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Auch der Selbstmörder am Weihnachtsabend gehört einer Minderheit an. (Unter 100 000 statistischen Menschen unternehmen jährlich 100 eine Selbstmordhandlung; das ist ein Promille, eine verschwindende Minderheit. Zu Weihnachten verschwinden laut Statistik mehr Menschen freiwillig aus dem Leben als in den übrigen Monaten des Jahres, in den christlichen Ländern.)
Sollte der Selbstmörder am Weihnachtsabend es sich noch einmal anders überlegen, dann kann aus ihm ein Anfänger werden. Die für ihn wichtigste Lektion ist die zehnte, der Glaube an Wunder.
Was der Selbstmörder am Weihnachtsabend nicht glauben kann, wird durch den Anfang eines Weihnachtsliedes ausgedrückt:
Alle Jahre wieder kommt das Christuskind.
Hierbei handelt es sich um den Kinderglauben.
Der Kinderglaube:
Wenn es dunkel wird auf der Welt am Heiligen Abend, dann kommt das Christkind vom Himmel auf die Erde herunter und bringt für jedes Kind Geschenke mit. Niemand kann das Christkind sehen bei seinen Verrichtungen, nicht einmal den Zipfel seines Gewandes kann man mit den Augen erhaschen. Wenn das Christkind fertig ist, dann läutet ein Glöcklein, und die Kinder dürfen ins Zimmer kommen, wo der Christbaum steht und darunter die schönen Geschenke. Aber das Christkind ist nicht mehr da, das Christkind ist schon wieder weitergeflogen zu den anderen Kindern. Auch die anderen Kinder wollen Geschenke bekommen.
Weißt du, sagen die größeren Kinder zu den kleineren Kindern, weißt du, das Christkind gibt es gar nicht. Das Christkind sind in Wirklichkeit die Eltern, in Wirklichkeit gehen die Eltern in die Stadt und kaufen dir ein Spielzeug und etwas zum Anziehen. In Wirklichkeit kaufen die Eltern einen Christbaum und schmücken ihn ganz heimlich, daß du es nicht siehst, und rufen dich ins Zimmer, wenn sie fertig sind. Sie läuten das Glöcklein, damit du glaubst, das Christkind hat das Glöcklein geläutet und die Kerzen angezündet und die Gechenke gebracht. Stell dir einmal vor, sagen die größeren Kinder zu den kleinen Kindern, stell dir einmal vor, wieviel das Christkind zu tun hätte, wenn es zur selben Zeit am Heiligen Abend in jeder Vohnung auf der ganzen Welt alle Kerzen anzünden müßte auf den Christbäumen. Das Christkind kann gar nicht überall zur selben Zeit ein, sagen die größeren Kinder, und außerdem hast du auch gar nicht alles bekommen, was du dir gewünscht hast, da siehst du schon, daß es das Christkind gar nicht gibt. Sondern die Eltern müssen sich überlegen, was sie dir kaufen können und was nicht, die Eltern haben nicht so viel Geld, um dir alles kaufen zu können, was du dir wünschst. Nur die ganz kleinen und die ganz dummen Kinder glauben noch ans Christkind, sagen die größeren Kinder, wenn man größer wird, dann glaubt man nicht mehr ans Christkind.
Weißt du, sagt die Mutter, jetzt, wo du schon größer bist, kann ich es dir ja sagen, daß der Papa und ich in Wirklichkeit deine Geschenke gekauft haben und den Christbaum, weißt du, das Christkind hat ja soviel zu tun, da ist es besser, der Papa und ich nehmen dem Christkind eine Arbeit ab und kaufen die Geschenke und schmücken den Christbaum und läuten das Glöcklein.
Ihr müßt wissen, sagt der Herr Religionslehrer, daß Gottvater seinen Sohn auf die Welt geschickt hat, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen. Dazu brauchte er eine irdische Mutter, das war Maria, die hat Jesus in einem Stall zur Welt gebracht, weil die bösen Menschen ihr keine Herberge gaben. Das Christkind ist in Wirklichkeit das Jesuskind, und die Menschen geben einander Geschenke zu Weihnachten wegen der Erinnerung an die Geburt des Sohnes Gottes. Aber nur mit dem Schenken allein ist es nicht getan, man muß auch in die Kirche gehen zu Weihnachten und beten, dann kommt Jesus in euer Herz hinein, das ist mehr wert als alle Geschenke. Wenn ihr euren Eltern folgt, sagt der Herr Religionslehrer, dann macht ihr dem Jesuskind eine große Freude, wenn ihr in der Schule fleißig seid und nicht schwätzt während des Unterrichts und eure Aufgaben ordentlich macht, dann freut sich das Jesuskind.
Der Herr Religionslehrer glaubt auch nicht ans Christkind. Die Mutter glaubt auch nicht ans Christkind.
Die größeren Kinder glauben auch nicht ans Christkind.
Es wäre schön, sagt der Selbstmörder, wenn ich noch ans Christkind glauben könnte. Als ich noch klein war, habe ich auch ans Christkind geglaubt wie alle anderen Kinder. Es war schön, am Heiligen Abend aufs Christkind zu warten, es war alles ganz anders als sonst, wie verwandelt war die Welt am Heiligen Abend, alle Menschen waren zueinander freundlich. Es wäre schön, wenn man noch einmal zum Kind werden könnte und aufs Christkind warten könnte. Es wäre schön, wenn irgend etwas in Erfüllung gegangen wäre von dem, was ich mir vom Leben erwartet habe. Es wäre schön, wenn es das Christkind wirklich geben würde, sagt der Selbstmörder, dann würde das Christkind auch zu mir kommen und ich müßte mich nicht umbringen.
Der Psychiater sagt, daß die Neigung zum Selbstmord in den meisten Fällen auf eine krankhafte Entwicklung des Individuums zurückgeführt werden kann.
Der Psychiater glaubt auch nicht ans Christkind.
Und das Christkind?
Wo ist es denn, das Christkind?
Es ist schon wieder weitergeflogen.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Im österreichischen Kaiserstaat: Vgl. Eduard Winter, Bernard Bolzano, Wien: Böhlau, 1967, Seite 13.

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