Dritte Lektion

Das zweite, was die Anfänger verlernen müssen, ist der Respekt vor Definitionen

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Insbesondere vor Mystikdefinitionen sollen sich die Anfänger hüten. Solche Definitionen bringen sie nicht weiter, sie haben keinen Gebrauchswert für sie.
Bereits im Jahr 1900 wurden 26 wissenschaftliche Definitionen des Begriffes «Mystik» gezählt; heute hat sich die Zahl der Mystikdefinitionen sicher um das Doppelte vermehrt. Gibt es deshalb auch mehr Mystiker?
Wohl kaum.
Im Mittelalter hat es viele praktizierende Mystiker gegeben. Aber das Wort «Mystik» gab es damals noch nicht. Es wurde erst im 18. Jahrhundert erfunden, zu einer Zeit also, in der die Zahl der ausübenden Mystiker stark zurückging, im Zusammenhang mit dem beginnenden Industriezeitalter.
Im Mittelalter war lediglich das lateinische Eigenschaftswort «mysticus» in Verwendung. Es bedeutet soviel wie «geheimnisvoll». Das sollte genügen, um die Neugier zu wecken.
Für besonders hartnäckige Definitionsliebhaber sei dennoch eine Begriffsbestimmung von Mystik hier wiedergegeben, zur gründlichen Abschreckung.
«Mystik ist die Methode, durch kultische Handlungen, die nicht jedermann verständlich sind und geheimgehalten werden, um sie vor Profanierung zu schützen und durch ihnen entsprechende (später auch von ihnen losgelöste) seelische Erlebnisse, die nicht jeder haben kann, in Berührung mit dem Göttlichen, unter seinen unmittelbaren Einfluß und zur Kenntnis seiner Geheimnisse zu kommen. Diese Definition ist weit genug, um alle mystischen Erscheinungen zu umfassen, von den magisch-kultischen Gebräuchen, dem Essen und Trinken der göttlichen Substanz, der heiligen Hochzeit, der durch Erregungs- und Berauschungsmittel, Musik, Tanz und Askese eingeleiteten Ekstase, bis zur psychischen Technik der Meditation, Konzentration und Kontemplation und zur mystisch-philosophischen Spekulation, die sich nur noch mit dem seelischen Prozeß des mystischen Erkennens befaßt, ihn vergeistigt und durch eine besondere Denktechnik in einer eigenartigen Denkform ermöglicht. »
Diese Definition stammt von Prof. Leisegang(1890-1951), Ordinarius für Philosophie in Jena und Berlin. Leisegang war eine Autorität auf dem Gebiet der Mystikforschung. Er hat zwischen aktivistischer, kontemplativer und quietistischer (= ruhevoller) Mystik unterschieden. (Das Lied «Let lt Be» - von den Beatles - würde demnach in die quietistische Mystik einzuordnen sein.)
Das Lexikon, aus dem ich die Mystikdefinition Leisegangs entnommen habe, stammt aus der Hinterlassenschaft von Prof. Mitterer. Ich bekam es von der Haushälterin Mitterers geschenkt, nach dessen Tod. Prof. Albert Mitterer gehörte zu den Lehrern, die mir an der Universität Theologie beibrachten. Er war eine Kapazität auf dem Gebiet der Erforschung der Lehren des Thomas von Aquino (1225-1274). Auch mit den Lehren des Aurelis Augustinus (354-430) hat sich Mitterer in gelehrter Weise befaßt. An seinem letzten Buch arbeitete er zehn Jahre. Das Buch erschien im Jahre 1956, und bald darauf erkrankte Mitterer an der Parkinsonschen Krankheit.
Die Wohnung Mitterers befand sich in der Wiener Innenstadt, in der Schellinggasse. In der unmittelbaren Nachbarschaft gibt es dort auch eine Hegelgasse und eine Fichtegasse. Mitterer wohnte im sogenannten Philosophenviertel. Dort habe ich ihn zwei- oder dreimal besucht, nachdem er sich krankheitshalber von der Lehrtätigkeit zurückgezogen hatte.
Das Arbeitszimmer Mitterers machte auf mich einen engen Eindruck, obwohl es sich um einen großen Raum handelte. An einem der beiden Fenster stand der Schreibtisch, daneben ein Ständer, wie man sie früher in Klöstern hatte. Es handelte sich um eine Art drehbare Pyramide auf einem Holzfuß. Jede der vier Seitenflächen der Pyramide konnte ein großes Buch aufnehmen. An den Wänden des Zimmers waren Bücherregale, bis nahe an die Decke. Ferner gab es zwei große Tische, auf denen befanden sich Karteikästen, Papiere, Mappen und Bücher. (Weitere Bücher waren im angrenzenden Raum aufbewahrt.) Die einzige bequeme Sitzgelegenheit im Arbeitszimmer des Gelehrten war ein kleiner Diwan mit einer Rückenlehne. Auf diesem Diwan durfte ich bei meinen Besuchen Platz nehmen, und der alte Professor setzte sich neben mich. Ich konnte beobachten, wie er gelegentlich versuchte, ein Bein über das andere zu schlagen, und wie diese Versuche scheiterten, wegen der Krankheit.
Gegenüber Prof. Mitterer fühlte ich mich zur Dankbarkeit verpflichtet.
Gegen Ende meines Theologiestudiums hatte er mich aufgefordert, das Doktorat zu machen. (Üblicherweise machen Priesterstudenten nur in Ausnahmefällen ein Doktorat.) Die Aufforderung Mitterers stellte eine Bevorzugung dar. Sie war eine Auszeichnung.
Ich habe mich nicht geweigert, das theologische Doktorat zu machen. Es wäre dies eine Weigerung im Sinne von Prof. Marcuse gewesen.
(Prof. Marcuse hat sich auch nicht geweigert, das Doktorat zu machen und Professor zu werden. Erst als er Professor war, hat er die «große Weigerung» empfohlen.)
Meine Mutter hat keinen Einspruch erhoben, als ich ihr von meiner Absicht erzählte, das theologische Doktorat zu machen. Sie begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, einen gescheiten Sohn zu haben. Gelegentlich sagte sie zu mir: «Du bist mein Gescheiter!»
Den ersten Hinweis auf meine Gescheitheit bekam meine Mutter von meinem Volksschullehrer. Er hieß Hugo Liebel. Er riet meiner Mutter dringend, mich ins Gymnasium gehen zu lassen.
Ein überaus begabter Junge, sagte Lehrer Liebel zu meiner Mutter. Meine Mutter war erstaunt. Der Gedanke, mich ins Gymnasium gehen zu lassen, war ihr vorher nicht gekommen.
So haben meine Lehrer meine Begabung festgestellt und meine Gescheitheit lobend erwähnt.
Niemals habe ich die Schule geschwänzt.
Nach dem theologischen Doktorat habe ich noch ein weiteres Doktorat gemacht, das philosophische.
Ein Jahr vor der Erlangung des philosophischen Doktorates vermittelte mir Prof. Mitterer eine Stelle als Universitätsassistent.
Anläßlich meiner Promotion zum Doktor der Philosophie kaufte sich meine Mutter ein neues Kleid. Sie feierte den erfolgreichen Abschluß meiner 25jährigen Schulzeit.
Vom 7. bis zum 32. Lebensjahr hatte ich gelernt und studiert. Manchmal hatte mich meine Mutter gefragt: «Wie lange willst du denn noch studieren?»
Die Frage, warum meine Mutter keinen Haupttreffer gemacht hat, konnte ich nach 25 Studienjahren nicht beantworten. Ich kann sie auch jetzt nicht beantworten. Aber ich bin wenigstens so weit, die Frage zu stellen. Als ich meine Besuche bei Prof. Mitterer machte, wäre mir die Frage nach dem Ausbleiben des Haupttreffers gar nicht eingefallen. Damals hatte ich andere Fragen im Kopf. Zum Beispiel: Ob Aurehus Augustinus (354-430) eine Evolutionstheorie vertreten hat.
Diese Frage stammte von Prof. Mitterer.
Die richtige Antwort auf diese Frage lautet:
Ja.
Die Beschäftigung mit dieser Frage hat mir ein philosophisches Doktorat eingebracht und eine Anstellung als Universitätsassistent.
In jener Zeit hatte ich noch einen großen Respekt vor Definitionen. Mittlerweile ist mir dieser Respekt abhanden gekommen.
Ich habe ihn gewissermaßen verlernt.
Definitionen sind für mich wie Werkzeuge. Vor Werkzeugen hat man keinen Respekt. Man gebraucht sie und legt sie dann wieder beiseite.
Wenn jemand ein Professor für Mystik werden will, dann muß er die wichtigsten Mystikdefinitionen beherrschen. Mystikdefinitionen sind Werkzeuge für Mystikfachleute und nicht für Anfänger.

Es gilt der Merksatz:
Mystikfachleute sind keine Mystiker.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Zur gründlichen Abschreckung: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Band, Tübingen 1930, Spalte 335.

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