Vierzehnte Lektion

Das siebte, was die Anfänger lernen müssen, ist die Pflege der Ketzergesinnung


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Die Ketzergesinnung hat eine ehrwürdige Tradition, die kann bis zu den ägyptischen Grabräubern zurückverfolgt werden (oben Nr. 7). Ihre vorsichtigste Spielart haben wir den «inneren Vorbehalt» genannt (ebendort). Manchmal äußert sie sich lediglich in einem amüsierten Lachen, wie an dem biblischen Beispiel der Sara ersichtlich.
Das Lachen der Sara:
Vor langer Zeit erhielt der Vater Abraham göttlichen Besuch, in Gestalt von drei Männern. Abraham bewirtete sie, und beim Abschied versprachen sie, nach einem Jahr wiederzukommen. Dann würde Sara, die Frau des Abraham, einen Sohn haben. Sara befand sich im Zelt und lauschte von dort den Reden der Männer. Sie war nicht mehr die Jüngste, und es «erging ihr nicht mehr nach Frauenart». Als sie von dem bevorstehenden Kindersegen hörte, mußte sie lachen. Der göttliche Besuch zeigte sich über dieses Lachen befremdet, Sara bekam es mit der Angst zu tun und behauptete, überhaupt nicht gelacht zu haben. Darauf Gott: Doch hast du gelacht.
Gott liebt es nicht, wenn man über ihn lacht.
Gott läßt sich auch nicht gerne anschreien.
Deshalb sagte er zu Moses während der langen Wüstenwanderung:
Warum schreist du zu mir?
Offenbar hat Moses gelegentlich schreiend gebetet, und er wird seine Gründe dafür gehabt haben. Die Juden waren eine rebellische Gesellschaft, und sie murrten häufig gegen Gott.
Gelegentlich zweifelten sie sogar an ihm. Sie sagten:
Ist er unter uns oder nicht?
Der Anlaß für diese Frage war eine akute Wassernot. Moses sah sich gezwungen, ein Wunder zu wirken. Aber der Zweifel hatte ihn ebenfalls angesteckt, und als er mit seinem Stab gegen den Felsen schlug, wählte er eine skeptische Formulierung:
Können wir wirklich aus diesem Felsen für euch Wasser springen lassen?
Für diese Entgleisung wurde Moses von Gott streng bestraft; er durfte nicht ins Gelobte Land hinein.
Der - anonyme - Verfasser des sogenannten Hebräerbriefes (in der Christenbibel) macht aus dieser Strafe seltsamerweise ein gutes Beispiel. In seiner Abhandlung über den Glauben führt er eine lange Liste gläubiger Menschen an, von Abel bis zur Hure Rachab, und sagt von ihnen:
Gläubig sind diese alle gestorben, ohne die Verheißung erlangt zu haben. Sie haben sie von ferne gesehen und begrüßt und haben gestanden, sich auf der Welt als Fremde und Wanderer zu fühlen. Sie geben zu verstehen, daß sie eine Heimat suchen. Hätten sie jene im Sinn gehabt, aus der sie weggingen, dann hätten sie ja Gelegenheit gehabt umzukehren. Nun aber verlangen sie nach einer besseren.
Auch Moses kommt in der erwähnten Personenliste vor, und seine Strafe wird zum Kennzeichen der Gläubigkeit. Der Tod des Moses fand nämlich laut biblischem Bericht auf einem Berg statt, von dem durfte er ins Gelobte Land hinüberschauen, bevor er starb - also «ohne die Verheißung erlangt zu haben». Er hat die Verheißung «von ferne gesehen und begrüßt».
Ich stelle mir gerne vor, daß Moses stehend gestorben ist.
Die persönlichen Kennzeichen gläubiger Menschen sind laut Hebräerbrief die folgenden, und sie entsprechen den Merkmalen der Ketzergesinnung:
1. Ortsveränderung. Wörtlich genommen ist damit eine Auswanderung gemeint. (Eva und Adam verlassen das Paradies; Abraham zieht in eine unbekannte schöne Ferne; die Juden kehren dem Agypterland den Rücken.) Im übertragenen Sinn bedeutet die Exodusbewegung ein Neinsagen zum anerzogen Vertrauten, einen Dissens.
2. Lebenslange Suche nach der «besseren Heimat» - wörtlich und im übertragenen Sinn.
3. Erfolglosigkeit dieser Suche, jedoch «Begrüßung» der besseren Heimat «von ferne» - im übertragenen Sinn.
4. Weltfremdheit - im wörtlichen Sinn der Außenseiterei und reduzierten Angepaßtheit an die geltenden Sitten.
Punkt 4 wird im Glaubenskapitel des Hebräerbriefes wie folgt ausgeführt, anhand einer Art Personenbeschreibung gläubiger Menschen und ihrer Existenz, mit verallgemeinernder Tendenz (auszugsweise):
Sie schlossen Löwenrachen, löschten Feuersgewalt, kamen aus Schwäche wiederum zu Kräften. Frauen erhielten ihre Toten wieder. Andere wurden auf die Folter gespannt und nahmen die Freilassung nicht an. Andere mußten Spott und Geißelhiebe und obendrein Bande und Kerker erfahren. Sie wurden gesteinigt, zersägt, starben den Tod durchs Schwert, zogen in Verkleidungen umher, darbend, geängstigt, mißhandelt, irrten durch Einöden und Gebirge.
Um die Anfänger durch solch trübe Aussichten nicht von vornherein abzuschrecken, habe ich von ihnen lediglich die eine oder andere kleine Weigerung verlangt (oben Nr. 2). Daß sie den Status einer Minderheit haben, wurde den Anfängern bereits mitgeteilt (oben Nr. 49).
Ich kann jetzt darangehen, die Anfänger auf das Erbe aufmerksam zu machen, das sie antreten sollen, auf das Testament, das vollstreckt gehört. Vorher kommt noch ein modernes Ketzergebet, verfaßt von Alexander Panagoulis:
Ich hab nicht richtig verstanden, Gott.
Sags bitte noch einmal.
Sollte ich dir danken
oder dir verzeihen?

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Alle bekannteren Religionen haben als Ketzereien begonnen:
Das Judentum war eine Abkehr vom Götterbetrieb der damaligen Großmächte. Der Buddhismus opponierte gegen den alteingesessnen Brahmanenglauben in Indien. Die frühe Christenheit befand sich im Widerspruch zur staatstragenden Ideologie im römischen Reich. Der Islam richtete sich gegen das Christentum. Reformierte und lutheranische Christen waren mit der päpstlichen Herrschaft nicht einverstanden.
Das Erbe, das die Anfänger antreten sollen, ist mithin das ketzerische. Das Testament, das vollstreckt gehört, ist das Vermächtnis zahlreicher intelligenter Menschen, die das Bestehende nicht wichtiger nahmen als das Mögliche (oben Nr. 59) und aus diesem Grund als Narr oder Verräter beschimpft in mannigfacher Weise belästigt, bzw. Verbrecher hingerichtet wurden.
Ein Blick in die allerneuesten Folterchroniken zeigt, daß Ketzereien auch heute noch vorkommen, und daß sie rüde bestraft werden, sogar in relativ zivilisierten Ländern. Ferner gibt es die subtileren Techniken der modernen Ketzerbekämpfung: die entstellende Berichterstattung, die Entfernung aus dem Amt oder der Parteiausschluß, das Lächerlichmachen, schließlich das totale öffentliche Schweigen.
Der Autor des in Nr. 62 zitierten Ketzergebetes war ein Führer der griechischen Widerstandsbewegung gegen die Militärdiktatur der Jahre 1967-1974.

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Jene Anfänger, die nicht gern ins Gefängnis kommen (wohl die Mehrzahl, einschließlich des Verfassers), mögen wegen des soeben verlautbarten Erbantrittes nicht erschrecken. Immerhin ist weder meine Tante Rosa (Nr. 1, 2, 3) ins Gefängnis gekommen noch die heilige Klara von Assisi (Nr. 39-44), noch die Frau Walch (Nr. 28, 46). Au der Philosoph Ernst Bloch ist nicht ins Gefängnis gekommen. (Manche seiner Gedanken über die rote Mystik und die Ketzergesinnung habe ich in meinem Buch verwendet, soweit sie mir für die Anfänger nützlich schienen.) Ich selber bin, trotz meiner Ketzereien (Nr. 11, 12), auch nicht ins Gefängnis gekommen; ich darf Bücher schreiben und die Grenzen meines Heimatlandes überschreiten. Gelegentlich klopft mir sogar eine prominente Persönlichkeit auf die Schulter und sagt:
Wir brauchen solch mutige Menschen wie Sie!
Meine Mutter verfügte über keine Disposition zur ketzerischen Rebellion. (Sie war im Zeichen der Fische geboren.) Der innere Vorbehalt ist ihr jedoch vertraut gewesen, sie hat (wie in der Einleitung erwähnt) politischen Widerstand geleistet und bei zunehmendem Alter eine wichtige Lektion gelernt: Die Unterscheidung zwischen dem zumeist erzreaktionären Kirchenwesen und der Frömmigkeit.
Irgendwann schenkte ich meiner Mutter eine moderne Sammlung en altertümlicher Gebete. Dieses Büchlein hat sie täglich zur Hand genommen, für ihre Privatandacht vor dem Schlafengehen, und übte sich auf diese stille Weise in der Unbescheidenheit. Mit sicherem Geschmack blieb sie beim Beten in der ihr vertrauten Kultur und fand darin Wärme und Zuversicht, unbelästigt von den geschwätzigen Modernismen atemloser Kirchenmänner.
Ohne die Erinnerung an meine Mutter wäre mein Buch weitaus aufgeregter und lehrerhafter geraten. Heute ist für mich die Ketzergesinnung eine lebensfreundliche Haltung, aus ihr kommen die guten Witze, die Lebhaftigkeit und der Einfallsreichtum. Rechtgläubigkeit, Angepaßtheit und Linientreue sind für mich langweilige Tugenden und vor ihnen möchte ich die Anfänger warnen. Sie hindern die Anfänger daran, lebenslang nach der «besseren Heimat» zu suchen, der geheimnisvoll lockenden und zumeist unsichtbaren, nur «von ferne» wahrzunehmenden und zu begrüßenden. Sie wird in einem alten Ketzergebet anvisiert, daß im Lauf der Zeit sein ursprüngliches Drehmoment allerdings ziemlich verloren hat:
Zukomme uns dein Reich.

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Ich möchte behaupten, daß eine jede Anfängerin und ein jeder Anfänger über ein gewisses Minimum an Ketzergesinnung ohnehin verfügen. Einen streng wissenschaftlichen Beweis für diese Behauptung kann ich nicht erbringen; sie kommt lediglich aus meiner Erfahrung, die ich im Lauf vieler Gespräche über religiöse (und der Religior benachbarte) Gegenstände gesammelt habe mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung. Bei Kindern ist die Ketzergesinnung wahrscheinlich am frischesten anzutreffen. Aber auch unter gedämpfteren Menschen tritt, bei günstiger Gelegenheit, eine beachtliche Originalität im Fragen, Zweifeln und Überzeugtsein zutage, bei der Erörterung der Daseinsgeheimnisse.
Beeinträchtigt wird diese Art Nachdenklichkeit durch einen (unverschuldeten) Mangel an Ausdrucksfähigkeit beim Vorantreiben der Sinnfragen, auch unter den Belesenen, eine Wortarmut also, vergleichbar der Dürftigkeit der (deutschen) Sprache in Liebesdingen. Dazu kommt eine weitverbreitete Gehemmtheit, persönliche religiöse Erfahrungen und Gedanken anderen Menschen mitzuteilen. Ich halte diese Hemmung derzeit für stärker als die im sogenannten Intimbereich.
Der Religionsunterricht im Pflichtschulalter (in Österreich beispielsweise rund 650 Unterrichtsstunden pro Kopf) vermochte bislang diese verbreitete Ausdrucksarmut in religiösen Dingen nicht zu bessern; wahrscheinlich ist er sogar ursächlich an ihr beteiligt. Dabei ist zu beachten, daß in den meisten Industrieländern - abgesehen von den kommunistisch regierten - die Mehrzahl der Schulkinder in irgendeiner Form Religionsunterricht haben.
Das Resultat solcher Unterweisung: Außer den Dichtern und Schriftstellern ist kaum jemand imstande, einfache Empfindungen und Gedanken religiöser Art - beispielsweise beim Betreten einer schönen alten Kirche - mit einiger Ausführlichkeit auszudrücken.
Völlige Hilflosigkeit ist beim Benennen komplexer Inhalte aus dem religiösen Erbe anzutreffen, etwa bei den Totalisierungen der Art von Wozu-dies-alles. Der Impuls zu solchen Fragestellungen ist durchaus da, mitten in der fröhlichen Gottlosigkeit, wenn auch sozusagen schüchtern und selten zu Worte kommend.
In diese kahle Landschaft setzen die Professionisten (Journalisten, Schriftsteller, Dichter) allerlei bunte exotische Blumen, unter Mitverwendung des Reizwortes «mystisch». Die meisten dieser Blumen sind aus Plastik. Ihre Künstlichkeit wird vom Publikum nicht ohne weiteres durchschaut, obwohl dieses Publikum nach all den Zauberkunststücken mit dem Ganz Anderen ebenso wortlos und dürftig nach Hause geht, wie es gekommen ist. Die moderne Mystikproduktion erfüllt in erster Linie die Wünsche ihrer Hersteller, und das sind die Intellektuellen. Diese empfinden - nach einem Befund des Soziologen Max Weber - das Bedürfnis, «neben allerlei anderen Sensationen auch die eines <religiösen> Zustandes als <Erlebnis> zu genießen, gewissermaßen um ihr inneres Ameublement stilvoll mit garantiert echten alten Gerätschaften auszustatten». Dieser Befund stammt aus dem Jahr 1920, und er trifft noch heute den Nagel auf den Kopf, wobei an die Stelle von «religiöser Zustand» ohne weiteres «mystischer Zustand» gesetzt werden kann.
Gleichzeitig ist das Interesse des Publikums am Mystikkomplex ein starkes Indiz für das kollektive Vorhandensein des Möglichkeitssinnes, der Neugier auf unbekannte Erfahrungswelten, der Sehnsucht nach dem Wunderbaren, der Lust am Geheimnisvollen. Solche Antriebskräfte werden zwar durch viele Irrlichter gefoppt, werden spiritistisch abgelenkt, ins Blaue hinein - zu Marsmännchen, fliegenden Untertassen, medial begabten Personen, klopfenden Tischlein, zaubernden Indianern. Das Interesse jedoch, das zur Beschäftigung mit dem Paranormalen und Außersinnlichen treibt, ist aller Ehren wert. Es steht zur Ketzergesinnung in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis.
Im Ansatz ketzerisch ist das heute verbreitete Schweifen im Esoterischen, Magischen und Irrationalen nicht nur wegen des damit verbundenen Überdrusses am dürren Betrieb der etablierten Kirchen; es transportiert auch ein gutes Mißtrauen gegenüber der Öde der technisch-wissenschaftlich geprägten Lebenswelt und der mit ihr einhergehenden Verringerung an geselligen Gebrauchsgütern aus erster Hand, als da sind: spontaner Witz, Beobachtungsgabe, Unterhaltsamkeit, Stil, Skurrilität, Gefühlreichtum, Schönheitssinn, Zuhörenkönnen, Neugier.
Um die vorhandene Ketzergesinnung zu pflegen, habe ich ihr meine Worte geliehen. Ich verlange meine Worte nicht zurück. Die Anfänger dürfen sie behalten und verwenden. Sie haben schließlich für sie bezahlt.

Und Gott?
Warum habe ich in meinem Buch seinen Namen so selten verwendet?
Warum habe ich nicht betont, daß es ihn gibt?
Warum habe ich nicht betont, daß es ihn nicht gibt?
Warum habe ich seinen Namen nicht betont?
Weil ich nur wenige Sätze kenne, in denen ich Gottes Namen verwenden kann ohne lügen zu müssen. Zum Beispiel diesen:
Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Diesen Satz braucht man nur bei bestimmten Gelegenheiten, nämlich im Widerstandsfall. Und nicht einmal dann muß man ihn unbedingt verwenden.
Wenn die Anfänger damit aufhören, den Namen Gottes bei jeder Gelegenheit zu verwenden, dann hören sie auf, Anfänger zu sein.
Dann gehören sie zu den Fortgeschrittenen.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Das Lachen der Sara: Genesis 18,1-15.

  2. Warum schreist du zu mir? Exodus 14,15; vgl. 17,4.

  3. Ist er unter uns: Exodus 17,7.

  4. Diese Entgleisung: Numeri 20,9-13.

  5. Gläubig sind diese alle gestorben: Hebräerbrief 11,13-16.

  6. Der Tod des Moses: Deuteronomium 34.

  7. Persönliche Kennzeichen: Hebräerbrief 11,8-12.

  8. Sie schlossen Löwenrachen: Hebräerbrief 11,33-38.

  9. Ich hab nicht richtig verstanden: Time, 20.10.1975, Seite 31. (Meine Übersetzung.)

  10. Die frühe Christenheit: Vgl. A. D. Nock, Conversion, London: Oxforc University Press, 1972, Seite 228: «Christian, however, came to have the same sort of connotation as heretic in the Middle Ages and as Communist in America and Western Europe today.» (Nock, dessen Untersuchung über die religiöse Entwicklung im Mittelmeerraum zwischen Alexander dem Großen und Augustinus erstmals 1933 veröffentlich wurde und bis heute wichtig geblieben ist, befaßt sich im 13. Kapitel seines Buches mit den landläufigen Vorstellungen, die man sich im 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert von den Christen machte; aus diesem Kapitel ist der oben zitierte Satz. Der darin ausgesprochene Vergleich des antiken Stereotyps «Christ» mit dem neuzeitlichen «Kommunist» dürfte kaum veraltet sein.

  11. Weber, Religionssoziologie, Band 1, S.251 f.

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