ISLAMISCHE MYSTIK

AUF DER GRUNDLAGE VON QUR'AN UND SUNNA


II - EINHEIT - DAS ZENTRALE THEMA DES QUR'AN


Sprich: Gott ist einer - Gott, der Unabhängige, von dem alles abhängt. Er zeugt nicht und wurde nicht gezeugt, und keiner ist Ihm gleich.

Diese kurze Sura, in der die Einheit und Transzendenz Gottes ausgedrückt wird, gehört zu den Texten, die allen Muslimen vertraut sind und oft im Gebet rezitiert werden. Man sagt, sie enthalte in konzentrierter Form "ein Drittel des Qur'an". In der Tat gehört die Verkündigung der Einheit Gottes zu den zentralen Aufgaben aller Propheten und Gesandten. Auch im ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses, la ilâha illAllâh, es gibt keinen Gott außer dem Einzigen Gott, kommt dies zum Ausdruck, wobei ein ilâh nicht nur eine Gottheit im theologischen Sinne sein kann, die verehrt und angebetet wird, sondern jede Macht, Autorität oder Institution, von der der Mensch sich abhängig fühlt, die er fürchtet oder auf die er seine Hoffnung setzt: alle diese Mächte werden konsequent zurückgewiesen; Hingabe an den Einen Gott ist eine Befreiung von ihnen allen. Der Text dieser Sura führt dies weiter aus: Er ist einzigartig und unverfügbar und nicht in unsere raumzeitlichen Begriffe von Werden und Vergehen zu fassen. Insofern entfallen auch alle Vorstellungen von "Kindern Gottes", die sich auf Seine besondere Zuwendung berufen können; von "Söhnen" oder "Töchtern" Gottes, die eine vermittelnde Zwischeninstanz bilden können, oder gar einer "Menschwerdung" Gottes. Nichts und niemand ist Ihm gleich. Isoliert betrachtet würde dieser Text strenggenommen kaum Möglichkeiten zum theologischen Arbeiten übriglassen und hinsichtlich eines Weges zur Gotteserkenntnis nur aufzeigen, welcher Weg nicht zum Ziel führt. Bei allen unseren folgenden Ausführungen sollte uns denn auch dieser Text mahnen und erinnern, daß alle theologischen Aussagen nur vorläufige Aussagen sein können, und daß alle Erkenntnis zwar wahr und echt, keinesfalls aber vollständig sein kann.

Der Qur'an begnügt sich nicht damit, den Menschen auf die Transzendenz und Unverfügbarkeit Gottes hinzuweisen. Er ist Offenbarung Gottes, nicht nur in sich selbst, sondern er will auch Schlüssel für andere Offenbarungen Gottes sein, eine Führung für alle, die bewußt Gott suchen (Sura 2:3), für den Weg durch dieses irdische Leben und den Weg zu Ihm. Insofern werden wir angeleitet, Gott zu bitten:

Führe uns den rechten Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erweist, die sich nicht Zorn auf sich laden und die nicht irregehen (Sura 1:6-7).

Der Weg ist ein Motiv, das immer wieder auftaucht, sei es beim Jihâd fi sabîli-llâh, der Bemühung auf Gottes Weg, sei es im Zusammenhang mit der Sharî'a, dem rechtlich ethischen System, etymologisch verwandt mit dem Wort für Straße, oder dem Minhaj, dem methodischen Weg des Umgangs damit (auf alles dies soll, in sha'Allâh, später noch ausführlich eingegangen werden). Insofern ist einer der zentralen Begriffe im Qur'an der Begriff Âya, übersetzt mit Zeichen, ursprünglich Wegzeichen in einem unwegsamen, einförmigen Gelände, aus dem der Reisende Orientierung finden kan, ohne die er sich verirren würde - und dies hätte auf dem Erfahrungshintergrund des Propheten (s) und seiner Zeitgenossen den sicheren Tod bedeutet. In diesem übertragenen Sinne sind diese Zeichen nicht "zufällige" Merkmale wie Bäume, Berge, Ruinen verfallener Burgen o.dgl., sondern von Gott gesetzte Zeichen, Kennzeichen des Weges zu Ihm, die Er selbst gesetzt hat, durch die Er zu uns spricht, wenn wir uns bemühen, sie zu deuten und zu verstehen.

Zeichen in diesem Sinne sind also die Texte der Offenbarungsschrift: "Dieses sind die Zeichen der weisen Schrift (Sura 10:2)"; "Eine Schrift, deren Zeichen in Weisheit zusammengefügt, dann im einzelnen erläutert worden sind ... (Sura 11:2)"; "Das sind die Zeichen der deutlichen Schrift. Wir haben sie offenbart - als arabische Lesung (Qur'an) - damit ihr begreift (Sura 12:2-3)"; usw.

Der Qur'an spricht jedoch selbst noch von weiteren Zeichen und fordert uns auf, uns damit zu befassen, nämlich mit den Zeichen unserer Umgebung, der Natur, der Geschichte usw. Einige Beispiele:

In der Schöpfung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Nacht und Tag sind in der Tat Zeichen für die Verständigen, die Gottes gedenken im Stehen und Sitzen und wenn sie auf der Seite liegen und über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachdenken: Unser Herr, Du hast dies alles nicht sinnlos erschaffen. Preis sei Dir! ... (Sura 3:191-192).

Und zu Seinen Zeichen gehört dies, daß Er euch aus Erde erschuf, alsdann seid ihr Menschen, die sich weithin verbreiten. Und zu Seinen Zeichen gehört dies, daß er Lebenspartner für euch schuf aus euch selber, auf daß ihr Frieden in ihnen fändet, und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hiering sind Zeichen für Leute, die nachdenken. Und zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Hierin sind Zeichen für die Wissenden. Und zu Seinen Zeichen gehört euer Schlafen bei Nacht und bei Tag euer Streben nach Seiner Huld. Hierin sind Zeichen für Leute, die hören. Und zu Seinen Zeichen gehört dies, daß Er euch den Blitz zeigt zu Furcht und Hoffnung und Wasser vom Himmel herniedersendet und damit die Erde belebt nach ihrem Tod. Hierin sind Zeichen für Leute, die verstehen (Sura 30:21-25).

In der Schöpfung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Nacht und Tag und in den Schiffen, die das Meer befahren mit dem, was den Menschen nützt, und in dem Wasser, das Gott vom Himmel sendet, womit Er die Erde belebt nach ihrem Tode und darauf verstreut allerlei Getier, und im Wechsel der Winde und Wolken, die zwischen Himmel und Erde Dienst leisten, sind Zeichen für Leute, die verstehen (Sura 2:165).

Diese Abschnitte kann man durchaus als erbauliche Texte lesen und dankbar Gottes Schöpferkraft und Fürsorge betrachten. Man kann sie auch mit den Augen des Wissenschaftlers lesen und als Herausforderung verstehen, den hier angedeuteten Fakten weiter auf den Grund zu gehen - nicht zufällig sind Leute angesprochen, die denken und verstehen. Allerdings handelt es sich um Zeichen Gottes, und es bleiben über das Gesagte hinaus Möglichkeiten offen, zu erforschen, was Gott uns mit diesen Zeichen sagen will. Eine Andeutung haben wir bereits im Text: Gott belebt die tote Erde durch den Regen - auf die gleiche Weise werden Menschen wiederbelebt, wie an anderer Stelle erläutert wird. Wir finden also im Text schon Hinweise auf eine symbolische Bedeutung der Worte. Durch intensive Beobachtung der Phänomene und Gesetzmäßigkeiten in der Schöpfung erfahren wir mehr über Gottes Handeln, z.B. Weiterentwicklung, Entfaltung, Vergehen, Wiederbelebung usw., aber auch über Seine Attribute: Barmherzigkeit erfahren wir meist zuerst von unserer Mutter, Weisheit ggf. von älteren Mitmenschen, Schutz im Kreis der Familie; Gerechtigkeit vermissen wir schmerzlich, wenn wir ungerecht behandelt werden usw. Wir erfahren also außer den direkten Aussagen des Qur'an eine ganze Menge, womit wir theologisch arbeiten können, vorausgesetzt, wir vergessen nicht unsere eigene Begrenztheit.

Aber nicht nur in der Schrift und in unserer Umgebung gibt es solche Zeichen. Wir sind ja selbst nicht ein Gegenüber der Schöpfung, sondern ein Teil davon. Insofern ist es nur logisch, wenn der Qur'an sagt:

Wir werden ihnen Unsere Zeichen zeigen an den Horizonten und in ihnen selbst, bis ihnen deutlich wird, daß es die Wahrheit ist ... (Sura 41:54).

Die Phänomene, Anlagen und Gesetzmäßigkeiten in uns selbst gehören selbstverständlich ebenso mit zu Gottes Zeichen wie die Zeichen in der äußeren Natur. Es lohnt sich also, einen Blick in unser Inneres zu werfen. Wir werden da zunächst unsere Körperfunktionen entdecken und feststellen, daß wir atmen und daß unser Herz schlägt und unsere Verdauung funktioniert, ohne daß wir dies mit unserem Willen beeinflussen können. Dann sind da unsere Triebe, Gefühle, Wünsche und Träume, die innere Stimme, die uns zum Guten auffordert und vom Bösen abrät, die Fähigkeit, begrifflich zu denken und Zusammenhänge zu erkennen und vieles mehr.

Offensichtlich stehen wir auf der Suche nach der Einheit erst einmal einer unübersichtlichen Vielfalt gegenüber, im Inneren wie im Äußeren. Der Qur'an bietet sich in diesem Zusammenhang als ein Schlüssel an und ist insofern eine "Barmherzigkeit für die Welten".

Fangen wir einmal mit der "Aufräumarbeit" bei uns selbst an:

Gott stellt ein Gleichnis vor: Eine Person, die mehreren miteinander zerstrittenen Herren (als Sklave) gehört, und eine Person, der einem einzigen Herren gehört - sind die beiden etwa einander gleich? Preis sei Gott! Doch die meisten von ihnen wissen nicht (Sura 39:30).

Das ist nicht nur ein logisches Gedankenexperiment: du bist bei mehreren Arbeitgebern beschäftigt, die entgegengesetzte Interessen haben; du gehst verschiedenen Zielsetzungen nach, die widersprüchlich sind, dir aber gleich wichtig erscheinen ... Irgendwann muß da einmal eine Entscheidung fallen, um den inneren Zwiespalt zu beheben und dem Ganzen eine Perspektive zu geben, der entsprechend die Prioritäten gesetzt werden können.

Nun ist es allerdings nicht einfach mit dem Beschluß getan: "Ab heute orientiere ich mich ausschließlich an Gott," um dann den Alltagsdetails entweder genauso ratlos gegenüberzustehen oder aber extreme Maßnahmen zu ergreifen wie Askese oder Rückzug aus der Welt, in der unsere Aufgabe liegt. Letzteres mag uns eine Menge Streß vom Halse schaffen, ersetzt aber nicht die geduldige und ausdauernde Arbeit an uns selbst. Es geht hier nicht um eine magische Verwandlung, sondern um eine allmähliche Selbstentdeckung und Selbsterziehung.

Es gibt in der Tat spirituelle Meister, die ihren Schülern das Leben erleichtern wollen und anstelle des Transzendenten, Unverfügbaren vorläufig erst einmal sich selbst als ruhenden Pol anbieten, um den Schüler dann behutsam von sich loszulösen, wie eine Mutter ihr Kind entwöhnt, und ihn auf den Propheten (s) und schließlich auf Gott selbst auszurichten. Das mag therapeutische Vorteile haben, ist aber nicht ganz ungefährlich, denn 1. ist der Meister ein sterblicher Mensch, der den Schüler vielleicht gerade in einer kritischen Phase verlassen muß; 2. ist das Verfahren trotz allem für den Meister eine Belastung und eine Versuchung; und 3. kann die Angelegenheit doch sehr im Grenzbereich zu dem liegen, was man gemeinhin als "Beigesellung (shirk) anderer Wesen (hier: den Meister) zu Gott" bezeichnet.

Wenden wir uns zunächst noch einmal unserer Umgebung zu. Nach der Lehre des Qur'an ist Gott der Schöpfer aller Dinge (vgl. Sura 6:103); d.h. umgekehrt gehen alle Dinge auf den Einen Ursprung zurück, und eben gerade auch die Verschiedenheit und Vielfalt. Uns wurde zuvor schon die "Verschiedenheit der Sprachen und Farben" als Zeichen Gottes vorsgestellt; hier noch ein paar weitere Beispiele:

Siehst du nicht, daß Gott Wasser von den Wolken niedersendet? Dann bringen Wir damit Früchte von mannigfachen Farben hervor. Und in den Bergen gibt es weiße und rote Adern, buntfarbige und kohlschwarze, und auch bei Mensch und Tier und Vieh gibt es verschiedene Farben. So ist es. Nur die Wissenden unter Seinen Dienern haben Ehrfurcht vor Gott. Gott ist mächtig, vergebend (Sura 35:28-29).

Und was Er auf der Erde für euch erschaffen hat, ist mannigfach an Farben. Darin liegt ein Zeichen für Leute, die es beherzigen (Sura 16:14).

Die Menschen waren einmal nur eine einzige Gemeinschaft, dann aber wurden sie uneinig. Und wäre nicht ein Wort ausgegangen von deinem Herrn, es wäre schon zwischen ihnen entschieden worden über das, worin sie uneinig sind (Sura 10:20).

Auch die Menschen stammen also von dem einen Ursprung her. Versinnbildlicht wird dies durch die Geschichte von Adam und Eva als dem Urelternpaar der Menschheit. Auch die Verschiedenheit der Menschen ist als Zeichen Gottes positiv zu werten (vgl. Sura 30:21-26 und 35:28-29). Das Problem liegt bei der Uneinigkeit, nicht bei der Verschiedenheit, obwohl die Verschiedenheit oft als Grund für die Uneinigkeit angegeben wird, sei es das andere Aussehen, das andere Denken, die anderen Verhaltensweisen, die andere Mentalität, die andere Religion ... all das wird zur Begründung herangezogen, wenn es darum geht, Mitmenschen aus dem Weg zu gehen oder sie aus der Umgebung zu vertreiben.

Am Ende des Verses wird angedeutet, daß die Uneinigkeit durch Gottes Gericht entschieden werden kann. An anderer Stelle wird gesagt, daß es eine Aufklärung und Entscheidung geben wird, und wie wir inzwischen mit der Verschiedenheit umgehen können:

Einem jeden von euch haben wir eine klare ethisch-rechtliche Weisung und einen deutlichen Weg vorgeschrieben. Hätte Gott gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Er will euch jedoch prüfen durch das, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum miteinander in guten Werken. Zu Gott ist euer aller Heimkehr, dann wird Er euch aufklären über das, worin ihr uneinig wart (Sura 5:49).

Wir sehen also die Einheit am Ursprung und die Einheit am Ziel. Es ist die Vielfalt, die dazwischenliegt, die uns zu schaffen macht. Und doch finden wir, wenn wir uns näher damit befassen, daß die einzelnen Faktoren dieser Vielfalt einander ergänzen und voneinander abhängig sind. Wir nehmen dies vielleicht als gegeben hin und werden nur darauf aufmerksam, wenn Störungen wie z.B. schwere Umweltschäden auftreten. Wenn man aber eine Weile darauf verzichtet, die Dinge lediglich analytisch oder im Hinblick auf ihre Nutzanwendung zu sehen und stattdessen eine Gesamtschau der Zusammenhänge versucht, dann wird man sehr bald feststellen: es gibt eine Einheit in dieser Vielfalt; oder: die Einheit drückt sich in der Vielfalt aus. Und schließlich wird in der islamischen Lehre auch von Gott, abgesehen davon, daß Er einig, einzigartig und transzendent ist, Verschiedenhartiges ausgesagt. Der Qur'an spricht von Namen Gottes, die in der Überlieferungsliteratur als 99 Schönste Namen Gottes aufgezählt werden. Hier werden wir auch durchaus mit dem Phänomen konfrontiert, daß es Namen gibt, die Gegensatzpaare bilden, ohne sich deswegen gegenseitig auszuschließen oder zu widersprechen:

Was in den Himmeln und was auf Erden ist, verkündet Gottes Herrlichkeit, und Er ist der Mächtige, der Weise. Sein ist das Reich der Himmel und der Erde. Er gibt Leben und Tod, und Er ist aller Dinge mächtig. Er ist der Erste und der Letzte, der Sichtbare und der Verborgene, und Er kennt alle Dinge wohl (Sura 57:2-4).

Für gewöhnliche Computerlogik ist vor allem das letzte Gegensatzpaar völlig unbegreiflich. In der mystischen Literatur wird zur Veranschaulichung oft das Bild einer Person gebraucht, die sich durch ihren Schleier sowohl verbirgt als auch offenbart; wäre der Schleier nicht vorhanden, dann wäre der gewöhnliche Betrachter von ihrer Schönheit so geblendet, daß er gar nichts mehr sehen könnte - so kann er zumindest die Umrisse sehen und mit der betreffenden Person kommunizieren.

Schrittweise von der Einheit zur Vielfalt führen uns folgende Verse:

Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der das Verborgene und das Sichtbare kennt. Er ist der Erbarmer, der Barmherzige. Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der König, der Heilige, der Friede, der Gewährer der Sicherheit, der Beschützer, der mächtige Freund, der Einrenker, der Majestätische. Erhaben ist Gott über all das, was sie anbeten. Er ist Gott, der Schöpfer, der Bildner, der Gestalter. Sein sind die schönsten Namen. Alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, verherrlicht Ihn, und Er ist der mächtige Freund, der Weise (Sura 59:23-25).

Der erste Vers spricht von der Ebene der Transzendenz und Unverfügbarkeit. Gott ist Einer, und Er kennt sowohl die verborgenen Möglichkeiten als auch die sichtbaren Phänomene und Geschehnisse. Aber schon auf dieser Ebene erwähnt der Qur'an auch Seine Gnade und Barmherzigkeit, zwei Attribute, die uns den ganzen Qur'antext hindurch begleiten. Gnade und Barmherzigkeit sind sowohl unverfügbar als auch die Grundlage Seiner Beziehungen zu allen Seinen Geschöpfen.

Um diese Beziehungen geht es auf der nächsten Ebene im zweiten Vers, wo sich von dem Einen her ein breites Spektrum entfaltet, das aber mit dem Einen verbunden bleibt und scharf abgegrenzt wird gegen Ideen, die abgetrennt von Ihm von Menschen verehrt und angebetet werden.

Im letzten Vers geht es um die Ebene dessen, was man als Reich Gottes bezeichnen kann: hier wirkt Er als Schöpfer, der Seine Geschöpfe ins Dasein bringt, versorgt, formt, zur Entfaltung bringt und Schritt für Schritt begleitet. Durch sie manifestiert Er Seine schönsten Namen, und alle Geschöpfe verherrlichen Ihn. Das gilt besonders für den Menschen, wenn er voll erkannt hat, was sein Wert und seine Aufgabe ist: wenn er zur vollen Menschlichkeit herangereift ist, ist er Statthalter Gottes auf Erden.

Zusammenfassend können wir sagen:

Einheit ist zunächst die Einheit und Einzigkeit Gottes, der Urgrund des Seins und das Ziel alles Existierenden. Die Einheit offenbart sich in der Vielfalt, die organisch zusammenwirkt und somit ein Spiegelbild der ursprünglichen Einheit ist.

Der Einheit Gottes steht die Einheit des menschlichen Individuums gegenüber, das wiederum eine Vielfalt verschiedener Anlagen und Fähigkeiten in sich trägt, die es zu entfalten und miteinander in Einklang zu bringen gilt. Ein solcher ganzheitlich ausgereifter Mensch verfügt über die menschliche Größe, die den Schöpfer verherrlicht und Zeugnis für Sein Wirken und Seine Namen ablegt.

Der Einheit Gottes steht weiterhin die Einheit der menschlichen Gesellschaft gegenüber, in der jedes Individuum seinen Platz und seinen Sinn hat. Hierbei kann es sich nicht um eine uniforme Einheit handeln, und die "Gleichheit" ihrer Angehörigen ist keinesfalls eine Gleichartigkeit, sondern eine vorläufige, von der Geschöpflichkeit herstammende Gleichwertigkeit (das endgültige Urteil liegt nicht bei uns und wird nicht in diesem Leben gesprochen). Immer wieder neu miteinander in Einklang zu bringen sind die Verschiedenheiten der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft im Hinblick auf Hautfarbe, Sprache, Geschlecht, Religion, besondere Fähigkeiten und Anlagen usw., so daß sie einander ergänzen und zusammenwirken. Dabei geht es nicht nur um Individuen, sondern auch um Teilgruppen, und ein organisches Zusammenwirken kann kaum durch Aufzwingen einer wie auch immer gearteten Uniformität erreicht werden, sondern entsteht in gegenseitiger Akzeptanz und durch gemeinsame Bemühungen, auf Gemeinsamkeiten aufzubauen und die Dynamik der Verschiedenheiten konstruktiv zu nutzen.

Der Einheit Gottes steht außerdem die Einheit der Schöpfung gegenüber, eine bestehende organische Einheit von Gestirnen und Molekülen, Pflanzen und Tieren, Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten, die so selbstverständlich ist, daß sie manchem erst angesichts einer ökologischen Katastrophe bewußt wird. In der Tat ist der Mensch in der Lage, sie empfindlich zu stören, wenn er sich nicht als Statthalter Gottes, sondern als Autokrat aufführt, wenn er sich der Schöpfung gegenüberstellt und sich nicht als ein Teil von ihr und in sie eingebunden fühlt (wobei sich der Schaden letztendlich gegen den Täter selbst richtet).

Im Zusammenhang mit dem, was wir über Schöpfung und Offenbarung bzw. über die Manifestation der Gottesnamen in der Schöpfung gesagt haben, sprechen Mystiker wie Ibn al-'Arabi nicht von einem Gegenüber von Gott und Mensch, Gott und Schöpfung usw. Für sie ist Gott die Urrealität, die verborgen und transzendent ist und sich gleichzeitig in den immer wechselnden Formen der Schöpfung manifestiert und gegenwärtig ist. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Einheit des Seins (wahdat al-wujûd), wobei die Schöpfung nicht losgelöst vom Schöpfer und Seiner Offenbarung gedacht werden kann. Sie ist dennoch nicht mit dem Schöpfer identisch, wie es im pantheistischen und monistischen Denken vorgestellt wird. Andererseits erhält sie von Ihm ihre Realität, ist also auch nicht völlige Illusion.

Was wir bisher erörtert haben, macht aus uns jedoch noch lange keine Mystiker, selbst wenn wir alles sorgfältig auswendiglernen und neu durchdenken, und schon gar nicht dann, wenn wir es begeistert als Dogma verkünden. Er bleibt theoretische Theologie und Philosophie, es sei denn, wir fänden Möglichkeiten, in diesem Bereich unsere eigenen Erfahrungen zu machen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß wir diese dann ganz anders formulieren, sozusagen kreativ zur Vielfalt der Äußerungen islamischer Mystiker beitragen. Theoretische Beschäftigung mit mystischer Theologie und Philosophie ist etwa so, wie wenn man eine Reiseschilderung liest - das kann man durchaus genießen, ist aber etwas ganz anderes als die Reise selbst, deren Eindrücke um ein vielfaches stärker und echter sind, die aber auch Strapazen und Mühen erfordert.

Insofern befassen wich weder der Qur'an noch die Mystiker mit den sogenannten "Gottesbeweisen". Entweder ist da tief im Inneren eines Menschen eine Beziehung zu Gott, dann erübrigt sich der "Beweis", oder er nimmt sogar überall Zeichen der Gegenwart Gottes wahr, oder aber der "Beweis" löst trotzige Fragen aus und fordert zur Widerlegung heraus - die einem geübten Denker keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Der Qur'an verweist auf das eigene Erleben, um diese innere Beziehung freizulegen und schrittweise auszubauen: "Ihr wart doch ohne Leben, dann hat Er euch Leben gegeben". Schaut in euer Inneres, sucht euren eigenen Wesenskern. Entdeckt die Zeichen in der Schrift, in der Schöpfung und in euch selbst.


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