ISLAMISCHE MYSTIK

AUF DER GRUNDLAGE VON QUR'AN UND SUNNA


III - DER WEG DES MENSCHEN ZU GOTT


Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Das Lob gebührt Gott, dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Meister des Gerichtstages. Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe. Führe uns den rechten Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erweist, die nicht Zorn auf sich laden und die nicht irregehen.

Bislang stand bei unseren Überlegungen Gott im Mittelpunkt, wie Er schafft und sich offenbart. Jetzt wollen wir vom Menschen ausgehen und seinen Weg nachzeichnen, und zwar anhand von Hilfsmodellen, wie sie von islamischen Mystikern zur Erläuterung entworfen wurden, obgleich wir nach wie vor aus dem Qur'an schöpfen.

Die mystischen Autoren gehen ganz realistisch davon aus, daß der Mensch nicht aus dem luftleeren Raum heraus oder als unbeschriebenes Blatt seine Reise zu Gott aufnimmt, sondern einen Werdegang und ein persönliches Schicksal hinter sich hat und Teil einer Gesellschaft ist, in der er lebt und mit der er als Vater/Mutter, Bruder/Schwester, Sohn/Tochter, Angehöriger einer Berufsgruppe usw. zu einem Beziehungsnetzt verknüpft ist, das er mitträgt und von dem er mitgetragen wird. Man kann davon ausgehen, daß er seine Rechte und Pflichten kennt und im Rahmen seiner zur Zeit gegebenen und bewußten Grenzen und Möglichkeiten handelt. Diese Ausgangsebene wird als "Ebene der Sharî'a" bezeichnet. Sharî'a möchte ich hier durchaus als das verstanden wissen, was sie ursprünglich sein sollte: als ethisch-rechtliches System, sei es des Islam, sei es einer gegebenen, auf ethischen Prinzipien aufbauenden Ordnung, d.h. sie ist nicht nur Recht, sondern auch die diesem zugrundeliegende Ethik. Aus islamischer Sicht geht es bei der Ethik um die Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zu seinen Mitgeschöpfen, zur Schöpfung an sich und schließlich zu Schöpfer. Ein Mensch, dessen Beziehung zu sich selbst schwer gestört ist, wird kaum eine harmonische Beziehung zu anderen aufnehmen oder einen Weg beschreiten können, der Ausdauer und Disziplin erfordert. In schweren Fällen wird er womöglich sachkundige Hilfe brauchen, um erst mit sich selbst ins reine zu kommen. Hand in Hand mit einer gesunden Beziehung zu sich selbst geht die Beziehung zu den Mitmenschen - Familienangehörigen, Freunden, Kollegen usw. - sie sollten dem Alter und Entwicklungsstand entsprechen. Bei der Beziehung zu den Mitgeschöpfen - Pflanzen, Tieren u.dgl. - ist das mindeste, daß man vermeidet, ihnen Leid anzutun; große Gottesfreunde waren darüberhinaus bisweilen dafür bekannt, daß sie "die Sprache der Tiere" usw. verstehen konnten. Bei der Schöpfung insgesamt geht es darum, daß man nicht unnötig "Rohstoffe" ausbeutet und der Umwelt durch Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit Schaden zufügt. Die Behauptung, man habe "eine gute Beziehung zum Schöpfer", ist eine reine Illusion, wenn die Beziehungen zu Seinen Geschöpfen einschließlich zu sich selbst gestört ist.

Das islamische Recht gibt Anleitung zur Gestaltung dieser Beziehungen, durch gezielte Gebote aber auch Hilfestellung zu einer Weiterentwicklung auf diesem Gebiet. So übt z.B. das Fasten die Selbstbeherrschung und Genügsamkeit und vermittelt gleichzeitig die Erfahrung des Hungers, die Mitgefühl mit den notleidenden Mitmenschen wachsen läßt; das Gebet stärkt die persönliche Verbindung zu Gott, hat aber gleichzeitig einen sehr starken Gemeinschaftsaspekt; ähnliches gilt für Zakat und Pilgerfahrt. Man braucht kein Mystiker zu sein, um auf dieser Ebene ein rechtschaffener und auch spiritueller Mensch zu sein und Gott sehr nahe zu stehen.

Im Bereich der Ethik liegen u.a. die Kriterien für die Suche nach einem spirituellen Lehrer, denn Eindrucksvolles und Wunderbares, das womöglich sichtbar oder spürbar wird, muß nicht unbedingt eine spirituelle Gabe sein, sondern kann durchaus eine spektakuläre Selbstdarstellung sein. Entscheidend ist vielmehr, wie die betreffende Person mit ihren Familienangehörigen umgeht, ob sie Älteren respektvoll und Jüngeren und Schwächeren liebevoll begegnet, ob sie ihre Verpflichtungen einhält, ob sie ihren Lebensunterhalt aus legitimen Quellen bestreitet usw. Eine Person, die sich über allgemeine ethische Prinzipien hinwegsetzt, ist bei allen eindrucksvollen oder gar wunderbaren Lebensäußerungen nicht eigentlich eine spirituelle Person. Zwar kommt es vor, daß die Gottesliebe einer Person extreme Formen annimmt, so daß sie sich von der Welt zurückzieht und allem äußeren Anschein nach zu keiner anderen Beziehung fähig ist - eine solche Person wird gelegentlich aufgesucht, wenn es um Heilung oder guten Rat geht, kann aber eigentlich kein Lehrer sein, der einen Schüler Schritt für Schritt anleitet und begleitet.

Nach dem gängigen Hilfsmodell ist es die "Ebene der Tarîqa", auf der der Mensch bewußt und absichtlich seinen persönlichen Weg der Selbsterziehung geht. Er beginnt mit Tawba, d.h. Einsicht und Umkehr in bezug auf das Bisherige, mögen es Fehler und Schwächen sein oder ein gewisses Maß an Achtlosigkeit oder Nachlässigkeit oder auch eine grundsätzlich falsche Lebensweise. Echte Reue ist nicht zu verwechseln mit Selbstmitleid; wichtiger als Sentimentalität ist der Beschluß, die alten Fehler, Schwächen und Irrtümer nicht weiterzuverfolgen, sondern in Zukunft Gutes zu tun und möglicherweise Schaden wiedergutzumachen. Wichtig ist die Bitte um Vergebung; allerdings sollte man nach Möglichkeit da, wo man einem Mitmenschen einen Schaden zugefügt hat, sich mit diesem aussöhnen. Darauf folgt die Übung der Geduld (Sabr), vor allem auch der Geduld mit sich selbst, denn einige Fehler und Schwächen mögen zur Gewohnheit oder sogar zur zweiten Natur geworden sein, so daß man zunächst immer wieder rückfällig wird. Es ist notwendig, die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit nie aufzugeben. So steht am Grabmal des Mystikers Mawlana Rumi geschrieben: "Auch wenn du deinen Reuevorsatz tausendmal gebrochen hast, komm wieder." Geduld ist selbstverständlich auch im Umgang mit Mitmenschen und anderen Geschöpfen zu üben und ist eine unentbehrliche Hilfe bei langfristigen Bemühungen.

Das nächste Stadium ist Dankbarkeit (Shukr) für Gottes Gaben und Möglichkeiten, die wir nur allzuoft als gegeben hinnehmen und für selbstverständlich halten. Nun kann man allerdings Menschen mit überschwenglichen Worten danken oder dadurch, daß man sich für eine Wohltat "revanchiert". Auch Gott kann man natürlich mit Worten loben, aber wie sollte man eine Seiner Wohltaten erwidern, wenn alles, was wir haben, von Ihm kommt? Auch Worte werden uns bald im Stich lassen:

Und wenn ihr Gottes Wohltaten aufzählen wolltet, ihr würdet sie nicht berechnen können. Gott ist verzeihend, barmherzig (Sura 16:19).

Wir können Ihm jedoch unsere Dankbarkeit erweisen, indem wir Seine Gaben in uns und um uns herum entdecken, entfalten, Freude daran haben und sie in Seinem Dienst einsetzen: unsere Fähigkeit, Wissen zu erwerben und weiterzuvermitteln; künstlerische Fähigkeiten, mit denen wir Schönes hervorbringen können; die Fähigkeit, Menschen miteinander zu versöhnen und Frieden zu stiften; die Fähigkeit, praktische, nützliche Dinge herzustellen; die Fähigkeit, zu pflegen, zu helfen, zu heilen usw. Diese Gaben sind doch letztendlich Funken oder Samenkörner Seiner Namen, die wir in dieser Welt erfahren und erfahrbar werden lassen.

Notwendig bei dieser Selbstentdeckung ist Furcht (khawf) im Sinne von Ehrfurcht und Vorsicht sowie Hoffnung (rijâ') auf die Früchte unserer Bemühungen.

Und stiftet nicht Unheil auf Erden nach ihrer Regelung und ruft Ihn an in Furcht und Hoffnung. Gottes Barmherzigkeit ist denen nahe, die Gutes tun (Sura 7:57).

Die Furcht soll uns von Schädlichem fernhalten; sie soll nicht zur Angst werden, die uns lähmt. Die Hoffnung soll uns durch alle Schwierigkeiten hindurchtragen. Beide sind wie zwei Flügel, mit denen der Seelenvogel fliegt - allerdings muß jeder Vogel lernen, das Gleichgewicht zu halten.

Zu den wichtigen Schritten auf dem Weg gehören Armut (faqr) und Verzicht (zuhd). Die Autoren sind unterschiedlicher Ansicht darüber, ob Armut materielle Armut beinhaltet oder ausschließlich im übertragenen Sinne als Bedürftigkeit Gott gegenüber zu verstehehen ist. In jedem Fall kann materieller Wohlstand dann schädlich sein, wenn er mit Anhaftung an das Eigentum verbunden ist, so daß Verzichten und Teilen schwerfällt; eine solche Haltung wäre ein schwerwiegendes Hindernis auf dem Weg. Die Bedürftigkeit Gott gegenüber umfaßt andererseits auch den Aspekt, daß wir uns vor Gott nicht auf unsere eigenen Mittel berufen können, sondern uns unserer Abhängigkeit von Seiner Barmherzigkeit bewußt sind:

Ihr Menschen, ihr seid Gottes bedürftig, Gott aber ist der Reiche, der Preiswürdige (Sura 35:16).

In diesem Zusammenhang steht auch der Verzicht nicht nur auf Verbotenes, Umstrittenes und Schädliches, sondern auch auf Überflüssiges und Unnützes, etwa überflüssiges Reden, nutzloses Eigentum usw.

Darauf folgt Einheit (Tawhîd) und Vertrauen (Tawakkul). Einheit ist, wie bereits erwähnt, nicht nur das theologische Bekenntnis zu einem einzigen Gott, sondern auch die Einigung der eigenen Persönlichkeit im Hinblick auf dieses eine Ziel. Im Zusammenhang mit dem Vertrauen werden verschiedene Stadien erwähnt: das eines Klienten zu seinem Anwalt oder eines Patienten zu seinem Arzt (man wendet sich an ihn, sobald ein entsprechendes Problem auftritt, in der Hoffnung, daß er es löst); das Vertrauen eines Kindes zu seiner Mutter (das Kind entdeckt schrittweise seine Welt und wendet sich an seine Mutter, wenn immer es etwas Schönes, Fremdartiges oder Beängstigendes findet); und das unbedingte Vertrauen in allen Lebenslagen. Letzteres ist insofern schwierig zu beschreiben, als es keinesfalls mit Leichtsinn oder Fatalismus verwechselt werden darf, denn es setzt voraus, daß alles menschenmögliche getan wird.

Und warum sollten wir nicht auf Gott vertrauen, wo Er uns unsere Wege weist? Und wir wollen gewiß allem standhalten, was ihr uns an Leid zufügt, und auf Gott sollen die Vertrauenden ihr Vertrauen setzen (Sura 14:13).

Letzter Schritt dieses Weges ist Liebe zu Gott, wobei deutlich wird, daß zumindest Vorformen dieser Liebe uns in Form von Geduld, Dankbarkeit, Furcht, Hoffnung, dem bedürftigen Verlangen und Verzicht auf alles, was von Ihm fernhält, Vertrauen usw., schon die ganze Zeit über unsere Wegbegleiter waren, ja sogar schon die Umkehr und Neuorientierung ausgelöst hat. Liebe ist nun an dieser Stelle nicht einfach ein undeutliches, schwärmerisches Gefühl, obgleich auch dies gelegentlich den einen oder anderen Reisenden unterwegs ergreift und zu ekstatischen Äußerungen veranlaßt haben, die manchmal auch Aufsehen erregt haben. Tiefe, reife Liebe ist darüberhinaus eine Haltung, die den Wunsch weckt, Gott zu dienen und zur Verwirklichung Seines Plans beizutragen. Ein Diener Gottes zu sein bedeutet auf dieser Ebene, Gott nahezustehen, Ihn zu erkennen, Sein Freund zu sein. Ein solcher Mensch, ein Wali Allâh, ist ein besonderer Segen für seine Gemeinschaft. Er kann anderen Menschen auf verschiedene Weise Hilfe und Vorbild sein und sie auf ihrem eigenen Weg begleiten und ermutigen, sie heilen und unter ihnen Frieden stiften.

In diesem Zusammenhang muß vor einem verhängnisvollen Irrtum gewarnt werden: die Ebene von Tarîqa liegt nicht außerhalb des Bereichs von Sharî'a. Eine rechtlich-ethische Grundlage ist für den persönlichen Weg unerläßlich, nicht zuletzt deshalb, weil der Mensch nach wie vor seine Verantwortung für seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe trägt. Wenn wir Sharî'a mit einer mehrspurigen Straße vergleichen, dann ist Tarîqa die gewählte Fahrspur, auf der man der eigenen Geschwindigkeit und Fahrweise entsprechend vorankommt; abseits der Straße liegt dagegen der Umweg - oder der Straßengraben.

Ein weiterer verhängnisvoller Irrtum liegt dann vor, wenn jemand, der diesen Weg beschreitet, irgendwann einmal auf seine "Errungenschaften" stolz wird oder gar andere Menschen verachtet, die keinen solchen bewußten, systematischen Weg gehen, sondern "nur" die Erziehung in Anspruch nehmen, die die Schwierigkeiten des Lebens ohnehin zu bieten haben. Ein solcher Stolz steht im direkten Gegensatz zu dem gewählten Ziel und kann unter Umständen alle Bemühungen hinfällig werden lassen.

Auch eine dritte Warnung muß ausgesprochen werden. Es kommt nämlich vor, daß im Zusammenhang mit Handlungen, die ein auf dem Weg Befindlicher tut, Dinge geschehen, die ihm selbst oder anderen Menschen außergewöhnlich oder wunderbar erscheinen. Für alles Wunderbare, das von Gott geschenkt wird, soll man dankbar sein. Es kann jedoch vorkommen, daß der Betreffende Gefallen an solchen Ereignissen findet und es genießt, daraufhin im Mittelpunkt frommen Interesses zu stehen. Die Meister der islamischen Mystik verurteilen eine solche Haltung einstimmig und empfehlen dem Betreffenden systematische Schritte dagegen.

Ein Mensch, der den Weg der Selbsterziehung geht, entdeckt dabei sein ganzes Potential. Dazu gehört nicht nur sein Ich, mit dem wir uns gleich noch näher beschäftigen müssen, sondern auch sein Herz (qalb), durch das ihm die liebevolle Zuwendung ermöglicht wird und das aufnahmefähig wird für den Wunsch des Geliebten; seine Vernunft ('aql), nämlich die Fähigkeit, größere, auch über die eigenen Interessen weit hinausgehende Zusammenhänge zu erkennen und Schlußfolgerungen zum optimalen Wohl aller Beteiligten zu ziehen, d.h. zur Gerechtigkeit; sein Geist (rûh), nämlich seine unmittelbare Verbindung zu Gott, die ihm ermöglicht, Offenbarung zu verstehen und sich mit aufrichtigen Bitten an Ihn zu wenden; und sein inneres Licht (nûr), jener Funke von Gottes eigenem Licht, der ihm Erleuchtung und Einsicht gibt.

Der Weg der Selbsterziehung ist also auch ein fortschreitender Erkenntnisprozeß. Hinderlich kann allerdings das menschliche Ich (nafs) sein, das unter Umständen das innere Licht verdunkelt, Erkenntnis und Einsicht und damit auch den Sinn für Gerechtigkeit trübt. Nicht zufällig bedeutet das arabische Wort zâlim sowohl dunkel, finster als auch ungerecht. Und dennoch ist das Ich als innere Triebkraft für das Vorankommen notwendig, abgesehen davon, daß sich auch in ihm eins der gräßten Wunder der Schöpfung manifestiert. Es geht also darum, es zu erziehen.

In diesem Zusammenhang sprechen die islamischen Texte nicht nur von einem Trieb zur Selbsterhaltung, Selbstverteidigung und Fortpflanzung, die vom Schöpfer mitgegeben wurden und einen positiven Zweck erfüllen sollen, sondern auch von einem Trieb zur Selbstverwirklichung und sogar von einem Trieb, Gott zu suchen (fitra). Ein Ich jedoch, das seine Triebe nicht beherrscht, sondern von ihnen beherrscht wird, bezeichnet man als nafs ammâra, als treibendes oder befehlendes Ich, oft übersetzt mit "Triebseele", und mit einem eindeutig negativen Beigeschmack,

denn das Ich gebietet oft Böses - die allein ausgenommen, derer mein Herr sich erbarmt (Sura 12:54)

Wenn sich ein Mensch von seinen Trieben und Impulsen leiten läßt, kann er Schaden anrichten und Schaden erleiden, indem er zwischen verschiedenen Interessen zerspalten wird und schlechte, schädliche Angewohnheiten erwirbt, die, wenn sie einmal zu seiner zweiten Natur geworden sind, nur schwer abgebaut werden können.

Allerdings haben alle Handlungen ihre Folgen, und das Ich empfindet dementsprechende Schuldgefühle und deutet unangenehme Erfahrungen in diesem Zusammenhang als Strafe, abgesehen von psychischen Verwirrungen, die entstehen können, wenn man sich selbst gegenüber unehrlich ist, Schuld auf andere schiebt oder sonst Selbstmitleid entwickelt oder uneinsichtig bleibt. Diesen Zustand nennt man Nafs rahîna, belastetes Ich. In der Tat ist jede "Strafe" und jede unangenehme Erfahrung eine Mahnung, über den eigenen Lebenswandel nachzudenken und an Fehlern und Schwächen zu arbeiten. Autoren wie al-Muhâsibi und al-Ghazâli geben hierzu ausführliche Anleitung.

Sobald sich das Ich nicht mehr von Trieben und Impulsen beherrschen läßt und Anstalten macht, sich auf diese Weise von den Fesseln seiner Belastungen zu befreien, indem es selbstkritisch an sich arbeitet, spricht man von Nafs lawwâma, der sich selbst anklagenden oder selbstkritischen Nafs oder dem Gewissen. Ein eindeutiges Gefühl für Recht und Unrecht bewertet geschehene Handlungen bzw. versucht bereits von vornherein, schlechte Handlungen zu verhindern und zu guten zu motivieren. Eine plötzliche Konfrontation mit dem Gewissen ist eine Erfahrung, die den Menschen sehr stark an Gottes Gericht erinnert:

Nein! Ich rufe zum Zeugen das sich selbst anklagende Ich. Wähnt der Mensch etwa, Wir würden seine Gebeine nicht sammeln? (Sura 75:3-4)

Dazu kommt aber unter Umständen auch die Erfahrung echter Vergebung.

In Wirklichkeit ist der innere Läuterungsprozeß ein langer Prozeß, in dem wir nicht den Mut verlieren dürfen. Das Ich wird oft mit Gold verglichen, das eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt und geschmiedet werden muß. Der Mensch lernt den Umgang mit sich selbst und kommt mit sich selbst ins Reine - und erst dann wird es ihm möglich, über sich selbst hinauszuschauen und uneigennützig auf andere zuzugehen. Diesen Zustand nennt man Nafs zakiya, das gereinigte oder geläuterte Ich, und es ist der innere Zustand der Propheten und Gottesfreunde. Ein solcher Mensch steht sich nicht mehr selbst im Weg, ist aber noch Prüfungen und Versuchungen von außen ausgesetzt, in denen er sich bewähren muß, und er leidet durchaus gelegentlich noch an Selbstzweifeln, Ungewißheit und Unruhe.

Erst schrittweise erlangt eine Person in ihrer äßeren und inneren Auseinandersetzung einen Grad der Gewißheit, der sie beruhigt und ihr Zuversicht gibt, indem sie Gottes Wirken an sich selbst und anderen unmittelbar und ohne Selbsttäuschung erleben konnte. Dieser Zustand, der außer innerer Reinheit und Klarheit auch Erfahrung voraussetzt, heißt Nafs mutma'inna, beruhigtes Ich, und er ist genau zu unterscheiden von Gleichgültigkeit und einer Losgelöstheit, die Unrecht, Leiden, die Zerstörung anderer Daseinsformen und alle Disharmonie einfach ignoriert, denn dies wäre ein Zustand tiefster Unwissenheit und Illusion. Ein Mensch hingegen, der diese innere Ruhe wirklich erreicht hat, setzt sich in allen Lebenslagen geduldig und sachlich mit reiner Absicht für Gottes Sache ein und läßt sich weder durch Erfolge noch durch Mißerfolge aus dem Gleichgewicht bringen.

Von zwei weiteren Schritten ist nicht sicher, ob sie in diesem Leben als Dauerzustand verwirklicht werden können oder nur vorübergehende "Kostproben" für das zukünftige Leben sind. Das eine ist Nafs radîya, die zufriedene Nafs, in dem Sinne zufrieden, daß sie über Gewißheit und Zuversicht hinaus bejaht, was sie als von Gott kommend erfährt, ob es für sie gerade angenehm oder unangenehm ist, in Verbindung mit einer tiefen Einsicht. Dies wird meist als Voraussetzung für den anderen Zustand gesehen: Nafs mardîya, die Nafs, mit der Gott zufrieden ist:

Du beruhigte Seele, kehre zu deinem Herrn zurück, befriedigt und mit Seiner Zufriedenheit. Tritt also ein unter Meine Diener; tritt ein in Meinen Garten (Sura 89:28-31).

In Texten zur Mystik fallen gelegentlich Redewendungen wie "das Fleisch abtöten" oder "das Ego ablegen". Subjektiv werden notwendige Disziplinübungen vielleicht manchmal so empfunden, aber es geht letztendlich um Selbsterkenntnis und Harmonisierung der eigenen Fähigkeiten im Dienste dessen, der sie erschaffen hat, nicht um ihre Vernichtung. Deswegen wird übertriebene Askese wie ununterbrochenes Fasten oder der absichtliche dauerhafte Verzichtauf Ehe und Familie nicht positiv gewertet. Solche Radikalmaßnahmen können im Gegenteil zu einer enormen Selbsttäuschung und spiritueller Arroganz führen. Geistige Lehrer, die Menschen bei ihrer Selbsterziehung begleiten und anleiten können, sind sich dessen durchaus bewußt und raten zu einem gesunden Mittelmaß. Insgesamt ist der Weg der Selbsterziehung der Große Jihâd.

Die dritte Ebene wird als "Ebene von Haqîqa bezeichnet, die Ebene der unmittelbaren Begegnung mit der letztendlichen Realität. In der mystischen Literatur wird auf vielerlei Art und Weise versucht, diese Begegnung in Wortenauszudrücken, die allerdings auch wiederum wegen ihrer Mißverständlichkeit und Unzulänglichkeit kritisiert werden. So stehen in diesem Zusammenhang beispielsweise Begriffe wie Fanâ fi-llâh, Entwerden in Gott, und Baqâ bi-llâh, Fortbestehen durch Gott, die der Einfachheit halber oft mit "Vereinigung" oder "Unio mystica" übersetzt werden. In diesem Stadium erlebt der Mensch nicht mehr sich selbst, sondern nur Gott und Seine Manifestationen, sowohl in seiner Umgebung als auch in sich selbst. Überwältigt von dieser Erfahrung hatte al-Hallâj seinerzeit gesagt: "Anal-Haqq (Ich bin die Wahrheit)." Ontologisch kann es hier jedoch nicht um eine Verschmelzung oder Vermischung von Mensch und Gott gehen und schon gar nicht von einer Vergöttlichung des Menschen. Der erkenntnistheoretische Aspekt ist der, daß der betreffende Mensch die letztendliche Realität so sieht, wie sie ist, und ein weiterer Aspekt ist der, daß er Gott nahesteht, ein "Freund Gottes" geworden ist.

So wäre es auch eine folgenschwere Anmaßung, zu behaupten, der Mensch wäre auf dieser Ebene über Sharî'a und Tarîqa "hinausgewachsen". Im Gegenteil, er sieht erst jetzt alle Dimensionen der Sharî'a als eines Teils der kosmischen Ordnung und alle Implikationen von Tarîqa, so daß er selbst ein zuverlässiger Führer auf diesem Weg sein kann. Er erkennt sich selbst und seinen Platz im Gesamtgefüge der Schöpfung, derern Sinn es ist, dem Schöpfer zu dienen und Ihn zu verherrlichen:

Siehst du nicht, daß es Gott ist, den alle verherrlichen, die in den Himmeln und auf Erden sind, und auch die Vögel mit ausgebreiteten Schwingen? Jedes kennt sein Gebet und seine Lobpreisung, und Gott weiß sehr wohl, was sie tun (Sura 24:42).

Gott nahezustehen bedeutet nicht, daß man ein mystischer Philosoph sein muß, und mystische Philosophie ist nicht zu verwechseln mit weltabgewandter Spekulation. Es gibt viele Ebenen, auf denen ein Mensch Gott nahe sein und Sein Freund werden kann:

Wer Gott und dem Gesandten gehorcht, gehört zu denen, denen Gott Seine Gnade erweist, nämlich zu den Propheten, den Wahrhaftigen, den Zeugen und den Gerechten, und das sind die besten Gefährten (Sura 4:7).

Gemeinsam ist allen diesen verschiedenen Menschen, daß sich ihr innerer Glaube in Harmonie mit dem äußeren Wirken befindet: bei einem Propheten, indem er seine Botschaft übermittelt und geduldig vorlebt; bei einem Wahrhaftigen, indem seine innere Klarheit auch anderen ein Licht sein kann; bei einem Zeugen (shahîd), indem er sein Leben und Sterben für die Werte einsetzt, die er als wahr erkannt hat; bei einem Gerechten, indem er in aller Aufrichtigkeit um Gerechtigkeit und Frieden bemüht ist. Von denen, die Gott nahestehen, wird im Qur'an gesagt:

Über Gottes Freunde wird keine Furcht kommen, noch werden sie trauern (Sura 10:63).


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