II - BEISPIELE ISLAMISCHER ANDACHTSFORMEN


Während das rituelle Gebet immer wieder auf die Einheit der Muslime zurückführt, bringen die anderen Andachtsformen die Vielfalt der islamischen Welt zum Ausdruck. Sie bilden wie gesagt Bestandteile des rituellen Gebets, existieren aber darüberhinaus seit jeher auch eigenständig und haben sich zu unzähligen Formen entwickelt, die ich hier nicht alle erfassen kann. Ich kann nur versuchen, eine Übersicht und einige Beispiele zu geben, wobei ich mich weitgehend an die Reihenfolge halte, die im rituellen Gebet gegeben ist.

1. Rezitation bzw. Hören (Qirâ'a und Samâ')
Im Vordergrund steht hierbei der Qur'ân (wörtl. das zu Lesende), der aus islamischer Sicht Offenbarung im Sinne von Mitteilung Gottes ist; dementsprechend werden die einzelnen Verse als Âyât, Zeichen, bezeichnet (vgl. Schriftzeichen, Verkehrszeichen usw.), die eine Mitteilung ausdrücken sollen. Im Qur'an wird dieses Wort auch auf Phänomene und Gesetzmäßigkeiten der Natur, historische Erfahrungen, Stimmen und Regungen im eigenen Inneren u.dgl. verwendet, die wir aufgefordert sind zu studieren, daüber nachzudenken und für uns wichtige Mitteilungen herauszulesen. Die Heiligen Schriften, namentlich der Qur'an, gelten als Schlüssel dazu. Wir sollen Gottes Wort hören und verstehen:

Eine Schrift, die Wir zu dir hinabgesandt haben, voller Segen, damit sie ihre Zeichen begreifen, und damit die Verständigen ermahnt seien (Sura 38:30).

Rezitation und Hören sind also gottesdienstliche Handlungen und sollen bewußt geschehen, daher auch die Ratschläge für ein würdevolles äußeres Verhalten, das sie gegen andere Handlungen abgrenzt und die Aufmerksamkeit fördert, wie z.B. der respektvolle Umgang mit dem geschriebenen Text, langsames und deutliches Lesen, kurze Gebete vorher und nachher usw. Das Verstehen geschieht auf drei Ebenen:

  1. der Ebene des Herzens. Ausschließlich auf dieser Ebene liegt das Verständnis, wenn der sprachliche Zugang nicht vorhanden ist; die Rezitation wirkt dann auf die unbewußten Schichten des Zuhörers.
  2. die intellektuelle Ebene. Hier ist sprachliches Verstehen oder zumindest eine Übersetzung notwendig. Dabei kann der Qur'an, zumindest für das persönliche Verstehen, im Zusammenhang mit der unmittelbar eigenen Lebenserfahrung gelesen werden, während für den Umgang damit in der Theologie, Rechtswissenschaft u.dgl. darüberhinaus bestimmte wissenschaftliche Methoden angezeigt sind.
  3. der Ebene der Verwirklichung - denn was nützen die schönsten theoretischen Kenntnisse, wenn es an der Umsetzung mangelt?

Im Idealfall liest man den Qur'an auf allen drei Ebenen. Dabei werden wir vor Dingen gewarnt, die das Verständnis beein- trächtigen, z.B. (nach al-Ghazâli) Wortklauberei, Haarspalterei, blinder Glaube an Kommentatoren und bestehende Auslegungsweisen, Egoismus, Unaufrichtigkeit, Ungerechtigkeit, ein lasterhafter Lebenswandel und ideologische Voreingenommenheit.

In den Bereich des Vortragens und Hörens gehören aber auch - wenn auch nicht im gleichen Maße, andere Dinge als der Qur'an. Im Zusammenhang mit dem rituellen Gebet gehört dazu die Ansprache beim Freitags- und Festtagsgebet, ursprünglich eigentlich auch mit der intellektuellen Auseinandersetzung damit. Das Zuhören ist dabei ein Bestandteil des betreffenden Gebets.

Umstrittener ist das Hören von Gedichten und Musik. Der Prophet (s) sagte: "In Poesie kann viel Weisheit liegen;" gleichzeitig lehnte er jedoch Poesie ab, die Unrecht anpreist oder deren Spott andere verletzt oder Werte in den Schmutz zieht. Im islamischen Kulturbereich gibt es in allen Sprachen einen großen Schatz religiöser Dichtung. Sie hat ihren Platz allerdings nicht im rituellen Gebet und meist auch nicht in der Moschee, sondern in eigenen Zusammenkünften bei der Feier einer Hochzeit, der Geburt eines Kindes, eines Studienabschlusses, einer Einweihung, bei Trauer- oder Gedenkveranstaltungen, bei Zusammenkünften in Ordensgemeinschaften und dergleichen. Dazu gehören u.a.

Dichtung und Musik sind wie gesagt umstritten. Die Gegner berufen sich darauf, daß sie Zeitverschwendung und eine Ablenkung von der menschlichen Verantwortung darstellen; heutige Gegner lehnen gelegentlich Dichtung und Musik pauschal ab, nicht nur das, was ggf. Gleichgültigkeit und Aggressivität fördert oder als "Droge" mißbraucht wird, in Unkenntnis der islamischen Musiktradition und der damit verbundenen Erörterungen, die in der Regel auf einen differenzierten Umgang damit hinauslaufen. In den mystischen Traditionen wird Dichtung und Musik ganz gezielt eingesetzt, um Mut und Hoffnung zu wecken, Harmonie zu empfinden, die Gemeinschaft zu stärken und die Liebe zu Gott und den Mitmenschen anzuregen, gelegentlich sogar mit meditativem Tanz.

2. Lobpreisung (Tasbîh)
Während Tasbîh im heutigen Sprachgebrauch mehr ein terminus technicus für die Lobpreisungen im oder nach dem rituellen Gebet geworden ist, umfaßt er in der Sprache des Qur'an alle Aspekte der Verherrlichung:

In diesem Sinne wird im Qur'an darauf hingewiesen, daß alle Geschöpfe Gott preisen:

Was in den Himmeln ist und was auf Erden ist preist Gott, den König, den Heiligen, den Allmächtigen, den Weisen (Sura 62:2),

d.h. bewußt oder unbewußt, mit Worten oder im Lebensvollzug durch Entfaltung und Einsatz der Fähigkeiten.

3. Anrufung (Du'â)
Unter Anrufung (du'â) versteht man ein nicht an Sprache oder äußere Form gebundenes Gebet, obgleich es dabei meist üblich ist, die Handflächen zu heben, wie wenn man eine Gabe in Empfang nimmt, und es kann spontan formuliert werden, obwohl viele Muslime auch gern auf vorformulierte Gebete aus dem Qur'an oder aus Überlieferungen vom Propheten (s) oder anderen Gott nahestehenden Menschen zurückgreifen. Allgemein ausgedrückt heißt es im Qur'an:

Und wenn Meine Diener dich nach Mir fragen: Ich bin nahe. Ich antworte dem Ruf des Rufenden, wenn er Mich anruft. Darum sollen sie auch auf Mich hören und auf Mich vertrauen, damit sie rechtgeleitet werden (Sura 2:187).

Euer Herr spricht: "Rufet Mich an; Ich will euch erhören ... (Sura 40:61).

"Rufen" bedeutet hier nicht lautes Rufen, denn, wie der Prophet (s) sagte: "Gott ist nicht schwerhörig oder weit weg," und es wird darauf hingewiesen, daß Gott auch unausgesprochene Anliegen hört.

Gebete aus dem Qur'an und aus den Überlieferungen sind oft, nach verschiedenen Anlässen und mit Erläuterungen versehen, in Handbüchern gesammelt. Dort finden wir kurze Gebete vor und nach dem Essen, vor dem Einschlafen, beim Aufstehen, beim Verlassen des Hauses und vor einer Reise, beim Fastenbrechen, bei Gewitter, bei Sturm und Wind, beim Anblick der ersten Früchte einer Jahreszeit, beim Betreten und Verlassen der Moschee, beim Anziehen eines neuen Kleidungsstückes und beim Blick in den Spiegel, beim Besteigen eines Reittieres, Fahrzeuges oder Flugzeuges, bei störenden schlechten Gedanken, Zorngefühlen oder Angst, um Schutz vor Krankheit und Heilung, um Klarheit und innere Ruhe beim Reden usw., aber auch ganz allgemeine Bitten um Vergebung, um Gutes in dieser Welt und im zukünftigen Leben, um Wissen und Weisheit oder um innere Führung. Solche Gebete sind oft sehr kurz, werden aber bei verschiedenen Anlässen miteinander und/ oder mit Qur'anrezitiation, Gedichten und Gesängen, einer kurzen Ansprache usw. verbunden. Einige Beispiele:

Darüberhinaus gibt es Sammlungen von Gebeten bekannter islamischer Persönlichkeiten, z.B. As-Sahîfat as-Sajjâdîya des Prophetenurenkels Ali Zainul-'Âbidîn mit Gebeten für die verschiedenen Tage der Woche, spezielle Monate und Feiertage usw., und Sammlungen von anderen Familienangehörigen des Propheten (s); von Abdul-Qâdir al-Jilâni, Ibn al-Arabi und vielen anderen.

Besonders empfohlen wird die Fürbitte für andere. Es wird gesagt, daß hinter jedem, der Fürbitte für einen anderen einlegt, ein Engel steht und sagt: "Amen; und dasselbe noch einmal für diesen Betenden," d.h. die Fürbite bringt jedenfalls auch Segen für den Betenden selbst. Es hat allerdings wenig Sinn, für jemanden um Vergebung zu bitten, der selbst gar nicht daran interessiert ist oder nicht daran glaubt. Insofern ist es umstritten, ob ein Muslim für nicht- oder andersgläubige Menschen beten darf. Gegner berufen sich auf einen Text in Sura 9:113-114 (Hinweis auf die Sinnlosigkeit der Bitte um Vergebung für Nichtinteressierte), den sie verallgemeinern. Demgegenüber heißt es in einem Gedicht von Rumi (Übers. Annemarie Schimmel):

Ein Prediger, sobald er vorgetreten,
begann, für alle Räuber nur zu beten.
Er hob die Hände: "Herr, hab doch Erbarmen
mit jenen bösen, widerspenst'gen Armen,
mit jenem Volk, durch das die Guten leiden,
mit Christenmönchen und mit allen Heiden."...
"Ich sah von ihnen so viel Haß und Zwang,
daß ich vom Bösen hin zum Guten drang;
denn immer, wenn ich mich zur Welt gewandt,
da traf mich Schlag und Schmerz von ihrer Hand,
und hilfesuchend bin ich Gott genaht -
die Wölfe wiesen mir den rechten Pfad.
So wurden sie zur Quelle für mein Heil,
und mein Gebet wird ihnen drum zuteil."

Vom Propheten (s) selbst und zahlreichen Gelehrten und Mystikern wird berichtet, daß sie durchaus auch für ihre Feinde und Verfolger beteten.

Eine besondere Stellung hat das Gebet um Segen für den Propheten (s) und seine Angehörigen. Die bekannteste Form ist wohl die, die auch im rituellen Gebet vorkommt:

O Gott, schenke Muhammad und seinen Angehörigen Heil, so wie Du Abraham und den Seinen Heil geschenkt hast, und segne Muhammad und seine Angehörigen, so wie Du Abraham und die Seinen gesegnet hast. Du bist der Gelobte, der Erhabene.

Aber im Laufe der Zeit sind zahlreiche weitere kürzere oder längere Formen entstanden. Man sagt, daß die Bitte um Segen für den Propheten (s) immer auf den Betenden selbst reflektiert und Trost, Kraft und innere Ruhe gibt; sie wird daher auch bei starken emotionalen Regungen empfohlen oder zur Bewältigung einer kritischen Situation.

Diese Fülle vorformulierter Anrufungen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das ganz persönliche, frei formulierte Gebet für den Einzelnen in seiner speziellen Situation und seiner eigenen Sprache von großer Bedeutung ist. Dabei kommen mit eigenen Worten alle menschenmöglichen Anliegen zum Ausdruck und in einer Sprache, die genau dem jeweiligen inneren Zustand des Betenden entspricht. Es kann also durchaus vorkommen, daß solche Gebete, wenn sie den Bereich des Privaten verlassen, einen Skandal auslösen, wie z.B. Iqbals berühmtes Gedicht Shikwa (Klage), in dem er Gott vorwirft, die Muslime - speziell des indischen Subkontinents - im Stich gelassen zu haben:

... Gott, leihe unserer Klage ein Ohr,
wo wir erprobte und aufrichtige Diener sind.
Du bist an Loblieder gewöhnt;
nun aber höre auch einmal Protest ....

... Alles, was uns geblieben ist,
ist Spott von Fremden, Schande und Armut -
ist diese Schmach unser Lohn dafür,
daß wir unser Leben für Dich gegeben haben? ...

... Es mag ja sein, daß vielleicht die sanften Umgangsformen der Liebe nicht mehr gepflegt werden,
und daß der Pfad der Hingabe
nicht mehr zum Herzensfrieden führt;
vielleicht wurde auch der Herzenskompaß
aus der Gebetsrichtung abgelenkt,
und das alte Gesetz der Treue
hat seine Verbindlichkeit verloren.
Aber, o weh! Auch Du veränderst Dich
und schenkst mal uns, mal jenen Deine Gunst.
Entsetzlich, es sagen zu müssen,
aber Deine Liebe ist eine unzuverlässige Angelegenheit ...

Eine Reihe von solchen Klagegebeten wird vor allem auch aus der Mystik überliefert und dort bis auf Abrahams Diskussion mit Gott über das Schicksal der "lasterhaften Städte" (Sodom und Gomorrha) zurückgeführt.

4. Das Gottgedenken (Dhikr)
Das arabische Wort Dhikr bedeutet soviel wie Erinnerung, Gedenken, aber auch Erwähnen, als Gegenmittel zur menschlichen Achtlosigkeit und Vergeßlichkeit, die im engen Zusammenhang mit der Ichbezogenheit steht, durch die der Blick auf personenübergreifende Zusammenhänge und damit auf Vernunft, Gerechtigkeit und Gotteserkenntnis verstellt wird. Durch Dhikr, in welcher Form auch immer, soll das Herz von solchen Einflüssen gereinigt werden. Dabei werden auch verdrängte Regungen wie Ängste, Habgier u.dgl. bewußt gemacht und bisher nicht erkannte gute innere Anlagen entdeckt. Darum hat Dhikr einen zentralen Platz im Hinblick auf die Selbsterziehung und den mystischen Weg, denn, wie der Prophet (s) sagte: "Wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn."

Die Erinnerung geschieht durch verinnerlichtes Gebet, durch Nachdenken, durch Rezitation und Studium des Qur'an und im engeren Sinne durch verschiedene Meditationsformen. Im allgemeinen unterscheidet man

  1. Dhikr jalli, das laut und oft in der Gruppe geübt wird. Meist wird dabei das Glaubenszeugnis, ein kurzes Gebet, eine Lobpreisung, die Bitte um Segen für den Propheten (s) oder die Anrufung eines oder mehrerer Gottesnamen (von den überlieferten "99 Schönsten Namen Gottes") wiederholt oder gemeinsam eine bestimmte Zusammenstellung aus Qur'antexten und anderen solchen Bestandteilen (wird) rezitiert, wobei die Abfolge innerhalb einer Ordenstradition oder ähnlichen Gruppierungen überliefert bzw. auch von kompetenten Lehrern der Tradition modifiziert oder den Umständen entsprechend neu zusammengstellt wird.
  2. Dhikr khafi, eine stille Meditation, die meist individuell geübt wird. Dhikr jalli gilt als Vorstufe hierzu, indem lautes Aussprechen der Texte es erleichtert, die Aufmerksamkeit immer wieder zurückzuholen, wenn die Gedanken abschweifen, während Dhikr khafi schon mehr Übung und Disziplin erfordert, andererseits aber auch eine Vertiefung ermöglicht. Auch hier bilden kurze Qur'antexte, das Glaubenszeugnis, ein Gottesname usw. den Inhalt, oft verbunden mit einer bestimmten Atemtechnik oder der Beobachtung des Atems oder des Herzschlages. Die Übungen sind dann meist individuell auf die betreffende Person abgestimmt und werden ggf. ihrer Entwicklung entsprechend verändert, sind daher also nicht übertragbar.
  3. Dhikr Qalbi, das "Dhikr des Herzens", ist eine weitere Verinnerlichung, wenn unabhängig von äußeren Übungen und absichtlichen Bemühungen ständig das Bewußtsein vorhanden ist, in Gottes Gegenwart zu leben und in allen Gedanken, Worten und Handlungen mit Ihm verbunden zu sein. Diese Erkenntnis beschreibt Rumi in folgendem Gedicht (Übers. Annemarie Schimmel):

    "O Gott!" rief einer viele Nächte lang,
    und süß ward ihm der Mund von diesem Klang.
    "Viel rufst du wohl," sprach Satan voller Spott.
    "Wo bleibt die Antwort 'Hier bin Ich!' von Gott?
    Nein, keine Antwort kommt vom Thron herab!
    Wie lange schreist du noch 'O Gott!'? Laß ab!"
    Als er betrübt, gesenkten Hauptes, schwieg,
    sah er im Traum, wie Khidr niederstieg
    und sprach: "Warum nennst du Ihn denn nicht mehr?
    Was du ersehnt - bereust du es so sehr?"
    Er sprach: "Nie kommt die Antwort: 'Ich bin hier!'
    So fürchte ich, Er weist die Türe mir."
    "Dein Ruf 'O Gott!' ist Mein Ruf: 'Ich bin hier!'
    Dein Schmerz und Flehn ist Botschaft doch von Mir,
    und all dein Streben, um Mich zu erreichen -
    daß Ich zu Mir dich ziehe, ist's ein Zeichen!
    Dein Liebesschmerz ist Meine Huld für dich -
    im Ruf 'O Gott!' sind hundert 'Hier bin Ich!'"

Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Traditionen und Theorien herausgebildet, je nach dem kulturellen Hintergrund und den Erfordernissen der Zeit. Sicherlich hat auch eine gegenseitige Beeinflussung mit Gebets- und Meditationsformen anderer Religionen stattgefunden, etwa mit dem christlichen Herzensgebet oder mit indischen Yoga-Praktiken. Muslimische Kritiker kommen meist mit zwei Einwänden:

  1. "Dhikr ist eine Flucht vor der Alltagsrealität." In der Tat können dadurch bisweilen ekstatische Zustände ausgelöst werden, ebenso wie beim Musikhören (s.o.) und beim meditativen Tanz, wie er in einigen Traditionen gepflegt wird. Man spricht dann vom "Geschmack" eines außergewöhnlichen Zustandes, und ein kompetenter Leiter wird Hilfestellung geben können, mit dieser Erfahrung umzugehen, und dafür sorgen, daß sie nicht zum Selbstzweck oder gar zum Ärgernis wird. Wenn Dhikr benutzt wird, um eine bestimmte Stimmung zu schaffen, ohne jede Beziehung zum Alltag, zur ethischen Orientierung, zur Selbstkritikfähigkeit oder zur intellektuellen und spirituellen Entwicklung des Menschen, dann liegt eindeutig ein Mißbrauch vor. Der Mensch ist eine Einheit, und Dhikr soll gerade diese Einheit fördern und zur Verbindung mit dem transzendenten Einen beitragen.
  2. "Dhikr ist eine Neuerung (bid'a), die keine Grundlage in Qur'an und Sunna hat." In der Tat ist, wie gesagt, die heutige Vielfalt der Formen das Ergebnis einer langen Entwicklung. Der Begriff "Dhikr" ist jedenfalls qur'anisch, auch wenn er sich nicht auf äußere Formen und "Techniken" bezieht:

    In der Schöpfung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Nacht und Tag sind in der Tat Zeichen für die Verständigen, die Gottes gedenken im Stehen und Sitzen und wenn sie auf der Seite liegen und nachsinnen über die Schöpfung der Himmel und der Erde: "Unser Herr, Du hast dies alles nicht sinnlos erschaffen; heilig bist Du ....." (Sura 3:191-192).

    Darum gedenket Mein, Ich will euer gedenken, und danket Mir und seid nicht undankbar (Sura 2:153).

    Ihr, die ihr glaubt, gedenket Gottes in häufigem Gedenken und lobpreist Ihn früh und spät ... (Sura 33:42-44; vgl. auch oben die Ausführungen zum Begriff "Gebet").

    ... Sie, die glauben und deren Herzen Trost finden im Gedenken Gottes. Ja, im Gedenken Gottes finden die Herzen Trost (Sura 13:29).

    Dies ist ganz allgemein gehalten und bezieht sich auf alles, was die Erinnerung an Gottes Gegenwart wachruft und vertieft. Gelegentlich hat der Prophet (s) auch Anweisungen gegeben, bestimmte Qur'antexte oder Anrufungen zu wiederholen, jedoch nicht als allgemeinverbindliche Praxis. Dies war wahrscheinlich auch deswegen nicht notwendig, weil der Eindruck der neuen Offenbarung und seiner Anwesenheit noch frisch war und die Aufmerksamkeit der Menschen seiner Zeit auf ganz andere Weise anzog als die Lehren einer etablierten Religion. In dem Maße, wie einerseits die islamische Praxis zur Gewohnheit und die Lehre zur intellektuellen Struktur oder gar zur Ideologie wird, während andererseits kulturelles Wachstum auf jedem Gebiet stattfindet, ist es nur legitim, Mittel und Wege zu entwickeln, die eine Vergegenwäritigung und Wiederbelebung der unmittelbaren religiösen Erfahrung bewirken können. Die traditionellen Formen des Dhikr unterliegen nicht derselben Beständigkeit wie das rituelle Gebet und sind nicht verbindlich wie dieses, und es werden sicher noch viele Wege entdeckt werden, dasselbe Ziel zu erreichen.


Aus den Bereichen Rezitation, Lobpreisung, Anrufung und Gottgedenken werden in der Regel die Beiträge von Muslimen zu multireligiösen Andachten kommen, wie etwa beim Friedensgebet von Assisi, bei Kirchentagen, im Zusammenhang mit Dialogveranstaltungen, in Krisenzeiten usw. Wie gesagt wird dadurch nicht das rituelle Gebet ersetzt, das für Muslime eine religiöse Pflicht ist. Es ist auch zu überlegen, ob man hier von einem "multireligiösen Gottesdienst" sprechen kann, denn in jeder Religion hat der Begriff "Gottesdienst" im engeren Sinne womöglich seine eigene spezifische Bedeutung. Ein Gottesdienst im weiteren Sinne ist eine multireligiöse Andacht jedoch m.E sehr wohl, denn sie entspricht unserer realen Erfahrung, als Angehörige verschiedener Religionen vor Gott zu stehen und unsere menschliche Verantwortung tragen zu müssen, gemeinsam oder in konstruktiver Konkurrenz.
Das Gebet I
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