Das Streben nach Wissen ist eine heilige Pflicht für jeden Muslim, Mann und Frau. (Hadith) |
Von Frauen in den Naturwissenschaften wissen wir heute noch weniger als von Frauen in anderen Bereichen der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens. Einer der Gründe liegt vielleicht darin, daß allem oberflächlichen Anschein nach Frauen auf diesem Gebiet weniger aktiv gewesen sind. Die Naturwissenschaften waren sehr oft mit militärischen Zielsetzungen verbunden wie z.B. der Entwicklung neuer Waffen und Strategien, und daran waren Frauen nur selten beteiligt. Andererseits gehörte eine gute Portion Mathematik, Physik und Astronomie (zur Berechnung von Gebetszeiten, Feiertagen, Erbanteilen, Zakatbeträgen usw.) so selbstverständlich zu jedem Theologiestudium und zur Allgemeinbildung, daß es nicht besonders erwähnt zu werden brauchte. Es wäre absurd anzunehmen, Frauen seien davon ausgeklammert gewesen. In Familien, in denen Gelehrsamkeit Tradition war, konnten - wie wir aus zeitgenössischen Berichten erfahren - Töchter nicht nur auf ähnliche Weise wie ihre Brüder eine gut fundierte Bildung erhalten, sondern hatten später auch die Möglichkeit, diese weiterzuvermitteln, beispielsweise als Hauslehrerinnen in ähnlichen Familien mit guter Bildungstradition oder an Schulen. Wir erfahren außerdem, daß auch Sklavinnen oft nicht nur in Literatur, Musik, Qur'anrezitation, Theologie und Philosophie ausgebildet wurden, sondern auch in Mathematik, Physik und Astronomie, so daß sich dadurch ihr Wert ins Unermeßliche steigerte. Ansonsten ist wohl in erster Linie die Religion Auslöser für das Interesse der Muslime an den Naturwissenschaften gewesen, nicht nur aus den oben erwähnten praktischen Gründen, sondern vor allem aufgrund der im Qur'an oft wiederholten Aufforderung, Gottes Zeichen in den Naturphänomenen und in unserem eigenen Inneren zu beobachten und daraus zu lernen. Ohne solche Kenntnisse hätte auch die islamische Philosophie keine wirkliche Grundlage.
Noch viel mühselige Kleinarbeit wird notwendig sein, um - abgesehen von berühmten Namen wie al-Biruni, al-Khwarizmi, Ibn al-Haitham (Alhazen) und anderen - feststellen zu können, welchen Beitrag Männer und Frauen tatsächlich zur Entwicklung der Naturwissenschaften geleistet haben.
Berühmtheit erlangte Ijliya, die Tochter des Astrolabienherstellers al-Ijli al-Asturlabi aus Aleppo. Ein Astrolabium ist ein vielseitiges Präzisionsgerät, mit dem man u.a. sowohl die genaue Ortszeit als auch (ähnlich wie mit einem Sextanten) den eigenen Standort, die Position der Gestirne, die Höhe von Bergen oder die Tiefe von Brunnen ermitteln kann. Verschiedene astronomische und astrologische Berechnungen wurden damit angestellt, und für die Navigation war es unentbehrlich. Etwa im 10. Jahrhundert übernahmen die Europäer von den Muslimen die Kenntnisse, die für die Herstellung dieser komplizierten Geräte notwendig waren, und bis ins 17. Jahrhundert hinein war das Astrolabium in der christlichen Seefahrt das wichtigste Navigationsinstrument. Ijliya erlernte den Beruf ihres Vaters und führte ihn nach dessen Tod fort. Offensichtlich mit Erfolg, denn sie erhielt als Astrolabienherstellerin eine Anstellung am Hof von Saif ad-Dawla, der von 944 bis 967 n.C. in Nordsyrien regierte und für die Sicherheit der Grenzen zum Byzantinischen Reich hin verantwortlich war.
Von Frauen wird nirgends berichtet, sie hätten versucht, den "Stein der Weisen" zu finden, mit dem man unedles Metall in Gold verwandeln kann, oder das "Elixier", das Gesundheit und ein langes Leben bewirken soll. Die von ihnen berichteten Tätigkeiten in der Chemie waren realistischer und praktischer. Stillschweigende Zeugen davon sind Tausende von Rezepten zur Haltbarmachung und Veredlung von Nahrungsmitteln durch Kochen, Würzen, Trocknen, Einlegen, Kandieren, Gärung und anderes. So manches Material, manches Produkt und manches Verfahren ist, womöglich mitsamt der arabischen Bezeichnung, auch in die europäische Kulturgeschichte eingegangen und gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags, ohne daß man jemals daran gedacht hätte, nach dem Erfinder oder der Erfinderin zu fragen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Frauentätigkeit liegt seit eh und je auf der Herstellung von Kosmetika, nicht nur zum eigenen Gebrauch, sondern auch auf Bestellung und zum Verkauf. Die Frauen des Propheten und ihre Nachfahrinnen bildeten hierin keine Ausnahme. Besonders mit Parfümkompositionen waren die Herstellerinnen den Berichten zufolge sehr erfolgreich, ohne jedoch namentlich berühmt zu werden, denn Mode und Geschmack einer Zeit können sich schnell ändern. Lediglich von Nur Jahan, der Frau des Moghulkaisers Jahangir, wird berichtet, daß sie eine besonders wertvolle Rosenessenz erfunden hat. Wir erfahren auch, daß mit viel Erfolg versucht wurde, Imitationen besonders teurer Parfümöle herzustellen. Die jahrhundertelangen Erfahrungen auf diesem Gebiet und die zahllosen Beobachtungen, die zu einer eigenständigen Tradition verschmolzen sind, haben wichtige Erkenntnisse geliefert, von denen wir bis heute profitieren.
Ein anderer Bereich, der für Frauen fast zur selbstverständlichen Allgemeinbildung gehörte, war die Herstellung von Arzneimitteln. Fließend sind die Übergänge von der gesunden Ernährung und Kosmetik zur Medizin, und so manches Nahrungsmittel oder Gewürz dient nicht nur der Gaumenfreude, sondern auch der Behandlung verschiedener Krankheiten. Auch das, was wir heute als "Hausmittel" bezeichnen und leider viel zu oft zugunsten "moderner" Medikamente vernachlässigen, entstammt nicht der Theorie der Studierstuben und Labors, sondern der praktischen Erfahrung und Beobachtung von Generationen, vor allem von Frauen, die auf ihre eigene Gesundheit und die ihrer Männer und Kinder bedacht waren und untereinander Erfahrungen austauschten. In vielen islamischen Ländern gibt es bis heute Traditionen von heilkundigen Frauen, die vor allem in den ländlichen Gebieten oft noch eine weit wichtigere Rolle spielen als die vielleicht höchstens in größeren Städten erreichbare "westliche" Medizin, die überdies oft nur Reichen zugänglich ist. Ihre Rezepte reichen von einfachen Kräuteraufgüssen bis zu komplizierten Salben, Pulvern und Pillen, die nicht nur eine erstaunlich gute Wirkung haben, sondern auch Zeugnis von einem dahinterstehenden gründlichen Wissen um Körper und Seele der Patienten ablegen. Wenn dies heute manchmal unbesehen als "Aberglaube" abgetan wird, dann liegt das allerdings nicht nur am Konkurrenzverhalten westlicher Pharmafirmen, sondern auch daran, daß diese Traditionen oft nicht gründlich genug weitervermittelt werden können und Halbwissen und magisches Denken an ihre Stelle treten.
Aus biographischen Sammlungen und historischen Berichten erfahren wir von Frauen, die es auf dem Gebiet der Arzneimittelherstellung zu besonderer Meisterschaft gebracht haben, wie z.B. Ishi Nili, eine Schülerin des Mystikers Abu Said von Nishapur (10. Jhd. n.C.), die Salben gegen verschiedene Augenkrankheiten herstellte. Bei der Zubereitung von Medikamenten galt es übrigens immer als wichtig, eine harmonische Komposition herzustellen und einseitig starke Wirkungen auszugleichen. In der islamischen Welt wurde im Bereich der Medikamentenherstellung besonders intensiv geforscht, denn der Prophet (s) sagte: "Gott hat keine Krankheit geschaffen, ohne dafür ein Heilmittel zu bestimmen, mit Ausnahme des Todes."
Aber nicht nur die Herstellung von Arzneimitteln war ein Gebiet, an dem Frauen einen großen Anteil hatten, sondern auch die Behandlung von Kranken und Verwundeten an sich. So erfahren wir z.B. aus der Zeit des Propheten (s), daß Frauen ihn auf Reisen und Feldzügen begleiteten, um Kranke und Verwundete zu behandeln, u.a. seine Tochter Fatima und die "Mütter der Gläubigen". Nach islamischer Vorstellung bilden Körper und Seele eine Einheit, und so wie diese Frauen ihre theologischen und rechtlichen Kenntnisse weiterüberliefert haben, so auch ihre medizinischen. Bei Verletzungen, wie sie z.B. bei Kampfhandlungen vorkommen, ist es besonders wichtig, den gefürchteten Infektionen vorzubeugen oder Maßnahmen dagegen zu ergreifen, wenn sie eingetreten sind. Dafür waren die Muslime berühmt. Große Stich- oder Schnittwunden mußten genäht oder geklammert werden; letzteres geschah damals, indem man Ameisen ansetzte und tötete, nachdem sie durch ihren Biß die Wundränder aneinandergeklammert hatten, wobei die ausgeschiedene Ameisensäure als Desinfektionsmittel diente. Auch ätherische Öle und Harze dienten der Desinfektion und Wundheilung. Erst durch die Kreuzzüge lernten die Europäer die aseptische Wundbehandlung und die Behandlung von Wundfieber kennen.
Nach der Entstehung der Herrscherdynastien und damit auch des Berufsmilitärs in der islamischen Welt scheinen diese Dienste immer mehr von Männern geleistet worden zu sein. Übrigens haben spätere Gelehrte die diesbezüglichen Überlieferungen aus der Prophetenzeit kommentiert und ausführlich erörtert, daß Ärztinnen und Pflegerinnen, die kranke oder verletzte Männer behandeln, selbstverständlich bei diesen die entsprechenden Körperteile sehen und anfassen können, auch wenn körperliche Berührungen von Männern und Frauen außerhalb des Familienlebens sonst in der Gesellschaft verpönt sind.
Über besondere Kenntnisse der weiblichen Anatomie und Physiologie verfügten seit jeher die Hebammen. Meist waren diese Frauen schon älter und hatten selbst mehrere Kinder zur Welt gebracht, abgesehen davon, daß sie die überlieferten theoretischen und praktischen Kenntnisse von ihren Lehrerinnen erworben hatten. Sie leisteten nicht nur fachkundig Hilfe selbst bei schwierigen Geburten, sondern man fragte sie bei Unregelmäßigkeiten und krankhaften Veränderungen aller Art um Rat, sei es bei Kinderlosigkeit, Problemen der Wechseljahre, Eheproblemen oder anderem. Die Hebammen waren in der Regel auch mit den ortsüblichen Methoden der Empfängnisverhütung vertraut. Leider kam es aber auch vor, daß sie ihr Wissen und die damit verbundene Machtposition mißbrauchten, und in den letzten Jahrhunderten erging es ihnen ähnlich wie den heilkundigen Frauen im allgemeinen, indem Kenntnisse verlorengingen und Überlieferungsketten abgebrochen wurden, so daß Halbwissen und Aberglauben das Bild entstellen.
Übrigens gab es ja in der Rechtsgeschichte verschiedene Regelungen für Gutachten und Zeugenanhörungen, bei denen Frauen nicht selten benachteiligt scheinen. Gutachten und Aussagen in Verbindung mit Frauenkrankheiten, Schwangerschaft, Menstruation und ähnlichem sind jedoch immer nur von Frauen angenommen worden, denn selbst wenn ein Mann über gute theoretische Kenntnisse verfügt, so fehlt ihm doch die entsprechende praktische Erfahrung, die ihn als Zeugen oder Gutachter qualifiziert. Gutachterin war in solchen Fällen meist die Hebamme.
Während die Gelehrten nie ein Hindernis dafür sahen, daß ggf. Ärztinnen auch männliche und Ärzte auch weibliche Patienten behandelten, war manchmal die öffentliche Meinung dagegen, daß sich Frauen von männlichen Ärzten untersuchen und behandeln ließen. Als sich vor allem in den "oberen" Gesellschaftsschichten eine immer strengere Geschlechtertrennung einbürgerte, ging dies so weit, daß nicht einmal mehr dem Arzt Zutritt zu den Frauengemächern erlaubt wurde. In solchen Gesellschaften entstand eine bemerkenswerte Zusammenarbeit von Arzt und Ärztin. Ein angehender Arzt achtete darauf, daß er bei der Wahl seiner zukünftigen Ehefrau ein Mädchen fand, das eine ähnliche Ausbildung abgeschlossen hatte wie er oder zumindest daran interessiert war. Dies war relativ leicht, denn unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen heiratete man meist unter Verwandten oder zumindest unter Familien mit der gleichen Berufstradition, wobei Kinder oft ganz selbstverständlich dem Beruf ihrer Eltern folgten. Sodann behandelte der Arzt die männlichen Patienten und seine Frau entsprechend die weiblichen; darüberhinaus tauschte das Ehepaar untereinander seine Erfahrungen aus. Wenn ein berühmter muslimischer Arzt ein Buch über Frauenkrankheiten geschrieben hat, dann können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß er die dort niedergelegten Erkenntnisse zum größten Teil seiner Frau verdankt. Allerdings haben auch Frauen Bücher zu medizinischen Theman verfaßt, wie z.B. eine gewisse Rusa aus Indien, deren Werk uns erhalten geblieben ist.
In der Zeit der islamischen Großreiche gab es in allen wichtigen Städten vorbildlich geführte Krankenhäuser, die dem ganzen Volk offenstanden, beispielsweise in Baghdad, Damaskus, Kairo und Cordoba. Wir erfahren aus zeitgenössischen Berichten, wie ihr Standort sorgfältig ausgesucht und ihre Ausstattung bereitgestellt wurde. Die Behandlung der Patienten war - ähnlich wie das Studium an den Hochschulen - kostenlos, denn zur Kostendeckung stand eine Grundlage in Form von Landbesitz und Stiftungen zur Verfügung. Wir erfahren in diesem Zusammenhang von einer luxuriösen Unterbringung der Patienten und einer Verpflegung, die manchen veranlaßte, sich kränker zu stellen als er war, besonders dann, wenn er aus einer ärmlichen Umgebung stammte - die Ärzte bgegneten diesem Phänomen mit viel Humor. In der Regel gab es in jedem Krankenhaus eine Männer- und eine Frauenabteilung, je mit dem entsprechenden Personal. Da gab es Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen, Badewärter und Badewärterinnen mit der jeweils entsprechenden Ausbildung. Ärzte und Ärztinnen wurden an Ort und Stelle ausgebildet und hatten schließlich auch die Möglichkeit, sich zu spezialisieren. Staatliche Prüfungen sollten verhindern, daß sich Leute ohne die notwendige Ausbildung als Ärzte betätigten und womöglich Schaden anrichteten. Im Krankenhaus wurden die Studenten von Anfang an mit der Praxis vertraut gemacht. Aus verschiedenen Berichten erfahren wir, wie Fachärzte zusammenarbeiteten, z.B. bei einer Operation, und wie ausführliche Krankenberichte geschrieben wurden. Der berühmte Arzt Razi hinterließ bei seinem Tod 925 n.C. seiner Schwester Khadija eine ganze Truhe voll solcher Protokolle und wissenschaftlicher Abhandlungen, die diese dann dem Wesir des Sultans zur Verfügung stellte; in dessen Auftrag entstand daraus schließlich ein Werk, das bis in die Gegenwart hinein in der Medizin von Bedeutung geblieben ist.
Mit dem Zerfall der islamischen Reiche wurde auch die finanzielle Förderung solcher Projekte unmöglich, so daß es in der Medizin und in den Naturwissenschaften nur mehr auf die Initiative einzelner ankam, was schließlich auf eine Verarmung hinauslief. Die ganzheitliche Sichtweise der Naturwissenschaften wurde allmählich weltweit durch westliche analytische, auf Technologie ausgerichtete Methoden abgelöst, die erst in jüngster Zeit wieder größere Zusammenhänge mit einbeziehen, nachdem die Umweltzerstörung gefährliche Ausmaße angenommen hat. Es ist dringend erforderlich, daß wir Menschen die ganzheitliche Perspektive wiederherstellen, um unsere Verantwortung für die Schöpfung wahrnehmen zu können. Dabei werden auch die Frauen ihren berechtigten Platz finden.