FREMDE UND FREMDHEIT

Vortrag im Rahmen der "Arbeitsgemeinschaft Interreligiöser Dialog" am Fachbereich Evangelische Theologie der Universtität Hamburg

I - Fremde unter uns

Die gesellschaftlichen Beziehungen in einer islamischen Gemeinschaft


Wenn ich mir als Muslim Gedanken zu einer Sache mache, nehme ich über kurz oder lang Bezug auf die Quellen meiner Religion, den Qur'an und die Sunna (Lebenspraxis des Propheten (s) und der Urgemeinde), die mir Orientierung geben und deren Werte Maßstäbe für spätere Entwicklungen sind.

Wenn ich nun den Begriff Fremde, so wie wir ihn heute hier benutzen, im Qur'an suche, dann suche ich vergeblich. Zwar gibt es im Arabischen Wörter wie ajnabî, Ausländer, von der Wortwurzel her jemand, der neben mir lebt, ohne mit mir verwandt zu sein oder sonst in einer Beziehung zu stehen; oder gharîb, Fremder, jemand, der in einer fremden Umgebung lebt bzw. alleinsteht. Es gibt auch das Gegensatzpaar 'arabi, arabisch, auch im Sinne von sprachlich klar und verständlich benutzt, und 'ajami, fremdsprachig, unverständlich, speziell auch angewandt auf Persisch. In diesem Zusammenhang gibt es den Hinweis, daß der Qur'an in "arabischer", d.h. in klar verständlicher Sprache offenbart wurde, also weder unverständlich ist noch aus fremden Quellen stammt. Der Prophet (s) hat darüberhinaus betont, daß kein Unterschied zwischen Arabern und Nichtarabern gelten soll. Abgesehen davon spielen diese Begriffe im Qur'an keine Rolle. Der Qur'an wendet sich nicht an die Araber, ja nicht einmal an die Muslime als Gemeinschaft, sondern meist an die Menschen oder an die gläubigen Menschen. Unterschiede werden allerdings nicht geleugnet oder ignoriert, sondern als Teil der Vielfalt in der Schöpfung positiv und bereichernd gesehen; es ist ein Hauptanliegen des Qur'an, zum Umgang damit anzuleiten, so daß sie zur gegenseitigen Ergänzug genutzt, nicht zum Streit mißbraucht werden.

Die Vielfalt unter den Menschen ist ebenso vom Schöpfer gewollt und natürlich wie die Vielfalt unter den anderen Geschöpfen:

Siehst du nicht, daß Gott Wasser vom Himmel sendet? Dann bringen Wir damit Früchte von vielfachen Farben hervor. Auch in den Bergen sind weiße und rote Adern, bunte und rabenschwarze, und auch bei Mensch und Tier und Vieh gibt es verschiedene Farben. Nur die Wissenden unter Seinen Dienern leben in Ehrfurcht vor Gott. Gott ist mächtig, vergebend (Sura 35:28-29).

Vielfalt und Verschiedenheit gelten gerade als Zeichen des göttlichen Wirkens und als Anregung, darüber nachzudenken und zu begreifen:

Und zu Seinen Zeichen gehört dies, daß Er Lebensgefährten für euch schuf aus euch selber, auf daß ihr Frieden bei ihnen fändet, und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind Zeichen für Leute, die nachdenken. Und zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Hierin sind Zeichen für die Wissenden (Sura 30:22-23).

Der Qur'an betont ganz klar und deutlich, daß die Unterschiede der Geschlechter, Hautfarben, Sprachen, Volkszugehörigkeiten usw. nicht etwa einen Wertunterschied beinhalten oder Privilegien begründen:

Ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Vor Gott ist der Angesehenste von euch derjenige, der am meisten im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott lebt. Gott ist wissend und nimmt alles wahr (Sura 49:14).

Wir werden hier - wie in vielen anderen Texten im Qur'an - auf die Perspektive des Schöpfers verwiesen, der jeden Menschen, jedes Volk hervorgebracht und eine ganz eigene Beziehung zu ihm hat. Während in Qur'an und Sunna sowie im späteren islamischen Recht zwischenmenschliche und internationale Beziehungen konkret geregelt werden, also das Verhältnis "ich und mein Mitmensch" bzw. "wir und die anderen" durchaus eine Rolle spielt, werden uns auch immer wieder Ansätze gezeigt, diese Sichtweise zu transzendieren und besser in der Lage zu sein, gerechte Beziehungen zu verwirklichen. Ein Angehöriger eines anderen Volkes, den wir diesem Vers entsprechend kennelernen, bleibt kein "Fremder", denn es entsteht eine Beziehung und eine gewisse Vertrautheit. Das Wort "erkennen" oder "kennenlernen" beinhaltet auch den Aspekt des Anerkennens", somit auch des Respekts vor seinen spezifischen, auch andersartigen Lebensäußerungen.

Zur menschlichen Vielfalt gehört offensichtlich auch die Vielfalt der Religionen, die der Islam als jüngste Weltreligion selbstverständlich nicht ignorieren kann. So setzt sich denn der Qur'an auch mit theologischen und ethisch- praktischen Entwicklungen kritisch auseinander, darunter auch mit einigen christlichen Positionen. Grundsätzlich wird aber gesagt, daß Gott allen Völkern Offenbarungen und inspirierte Lehrer geschickt hat, die Religionen also aus derselben Quelle stammen, auch wenn sie durch kulturell bedingte verschiedene Akzente in der Lehre und verschiedene Entwicklungen der späteren Tradition voneinander abweichen. Letzteres soll aber kein Grund zum Streit sein, sondern eine Herausforderung zum konstruktiven Miteinander:

... Einem jeden von euch haben Wir einen ethisch-rechtlichen Rahmen und einen Weg gegeben. Hätte Gott gewollt, Er hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Er will euch jedoch prüfen durch das, was Er euch gegeben hat. Wetteifert also miteinandern in guten Handlungen. Zu Gott ist euer aller Heimkehr, dann wird Er euch aufklären über das, worin ihr uneinig wart (Sura 5:49).

Das Bild, das sich aus dem Qur'an ergibt, ist also keinesfalls das Bild einer homogenen Gesellschaft, weder im nationalen noch im religiösen Sinne. Um dies besser verstehen zu können, müssen wir einen Blick auf den historischen und sozialen Zusammenhang werfen, in dem der Qur'an entstanden ist. Die arabische Gesellschaft war zur Zeit des Propheten (s) eine Stammesgesellschaft. Ob städtische Kaufleute wie in Mekka, ob Bauern und Handwerker in Dörfern und Oasenstädten wie Medina, oder ob Nomaden in der Wüste, die Gesellschaft bestand aus Stämmen mit verschiedenen Sippen- und Familienstrukturen und sonstigen kulturellen und religiösen Lebensäußerungen, und es gab weder eine zentrale Koordination noch ein einheitliches Gefüge, obwohl ungeschriebene Gesetze für die gegenseitigen Beziehungen galten.

Den Kern eines Stammes bildeten Familien, die sich auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückführten. Innerhalb und zwischen diesen Familien gab es gegenseitige selbstverständliche Verpflichtungen. Es gab aber auch durchaus darüberhinaus Vernetzungen durch Bündnisse zwischen Einzelnen und Gruppen. Sklaven zählten mit zur Familie, und zwar mit einem ähnlichen Status wie Minderjährige (im Gegensatz zu anderen Rechtssystemen zählten sie immer als Personen). Auch mit der Freilassung (die durch den Islam systematisch gefördert wurde) war ein Sklave/eine Sklavin nicht sich selbst überlassen, sondern galt sozusagen als eine Art Adoptivkind dessen, der ihn/sie freigelassen oder freigekauft hatte, und war somit in den Stammesverband integriert. Eine ähnliche Verbindung konnte man auch als Einzelperson oder schwache Familie vertraglich mit dem Oberhaupt einer starken Sippe eingehen. Eine ganze Anzahl von bekannten Persönlichkeiten der islamischen Geschichte sind solche "Klienten" eines arabischen Stammes.

Allerdings gab es auch Einzelpersonen und kleine Familiengruppen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht in einen Stamm integriert waren. Sie waren die Schwächsten der Gesellschaft und dementsprechend arm und rechtlos, obwohl es für die einflußreiche Sippe, in deren Nähe sie sich niederließen und ihre Dienste anboten, Ehrensache war, für ihre Grundbedürfnisse zu sorgen. Der Islam stellte dieser "Ehrensache" ein konkretes Recht dieser Armen auf Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Schutz gegenüber. Das Wort miskîn, das in qur'anischer Zeit für diese Menschen benutzt wurde, wurde schon bald aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen nicht mehr verstanden und als Synonym zu faqîr, arm, erklärt, so daß die relevanten Stellen im Qur'an dann übersetzt werden "Die Armen und die Bedürftigen ...". Ein Echo der ursprünglichen Bedeutung finden wir bei den Kommentatoren, die erläutern: "Faqîr ist der Arme innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, und miskîn ist der nichtmuslimische Arme, der in einer muslimischen Nachbarschaft angesiedelt ist." Beide haben einen Rechtsanspruch auf Unterstützung.

Zu den Armen der damaligen Zeit gehörte auch oft genug jemand, der auf Reisen seine Mittel verloren hatte, meist durch geschäftliche Verluste oder durch einen Raubüberfall. Im allgemeinen hatten Reisende Anspruch auf Schutz und Gastrecht. Letzteres war in der arabischen Gesellschaft als Selbstver- ständlichkeit und Ehrensache so tief verwurzelt, daß es im Qur'an gar nicht mehr als ethische Forderung erwähnt, sondern als gegeben vorausgesetzt wird. Das Gastrecht gilt ohne Rücksicht auf den sozioökonomischen Hintergrund. Der mittellose Reisende wird allerdings im Qur'an besonders bedacht, indem er einen Rechtsanspruch auf Unterstützung bekommt. Dabei spielt es keine Rolle, ob er sein Vermögen unterwegs verloren hat oder ob sich eine mittellose Person auf den Weg macht, um z.B. Wissen zu erwerben.

Der Islam hat niemals eine Gesellschaft radikal umstrukturiert. Aus den Beispielen, die hier erwähnt wurden, wird vielleicht schon deutlich, wie bewährte Strukturen bewahrt, ergänzt und verbessert wurden. 'Urf, eine vorhandene Volkssitte, wird in das islamische Rechtssystem des betreffenden Volkes integriert und nur dann geändert oder abgeschafft, wenn sie den ethischen Prinzipien widerspricht. Dazu gehörte z.B. zu Lebzeiten des Propheten (s) der Brauch, unerwünschte Töchter zu töten, oder ungerechte Formen von Eheschließung und Scheidung. Infolgedessen gab und gibt es in der islamischen Welt eine Vielzehl gesellschaftlicher Strukturen (trotz gewaltsamer Veränderungen in der Kolonialzeit).

Von einer islamischen Gesellschaft spricht man erst seit der Auswanderung des Propheten (s) und seiner Anhänger von Mekka nach Medina. Während nun dieses entscheidende Ereignis unter Muslimen und Nichtmuslimen mitsamt der Jahreszahl bekannt ist, kennen die wenigsten die Einzelheiten dieses Prozesses. In einigen Lehrbüchern wird die Auswanderung sogar noch als "Flucht" bezeichnet. Ein Aspekt ist sicher der, daß der Prophet (s) und die Muslime aufgrund der unerträglichen Verfolgungssituation ihre Heimat Mekka verlassen mußten. Dem gegenüber steht aber die Situation in Yathrib, dem späteren Medina. Dort herrschte nämlich seit Generationen eine Fehde zwischen den ansäassigen Stämmen, und man hoffte, daß der Islam eine Lösungsmöglichkeit aufzeigen und der Prophet (s) als Friedensstifter fungieren könnte; im Gegenzug wollte man die Auswanderer aufnehmen und ihnen Schutz bieten.

Auf zwei Ebenen gab es dann Maßnahmen der Aussühnung und Integration, die das islamische Denken und Fühlen bis heute prägen:

In den ersten Generationen nach dem Propheten (s) erweiterte sich die politische Macht und das Einflußgebiet der Muslime. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen, und zwar einmal islamische Werte und Ideale, die eine große Anziehungskraft ausübten, sei es, daß man sich selbst damit identifizierte und den Islam als Weg für sich selbst und die Gemeinschaft als neue Heimat empfand, sei es, daß man sich als Angehöriger einer anderen Religion unter dem Schutz der Muslime größere Freiheit erhoffte. Letzteres war jedenfalls der Grund dafür, daß viele Gruppen von orientalischen Christen, die sich unter byzantinischer Herrschaft unterdrückt fühlten, Schutzverträge mit den Muslimen abschlossen und ihnen Zugang zu ihren Städten verschafften; Muslime haben also durchaus Kriege geführt, um christliche und jüdische Gruppen in diesem Sinne zu schützen. Nichtmuslimische Schutzbürger waren in der Regel vom Kriegsdienst befreit und zahlten stattdessen die Jizya, eine Wehrersatzsteuer (die Übersetzung "Kopfsteuer" ist irreführend, denn die Jizya war nur von wehrfähigen Männern zu zahlen, und auch da mit Ausnahme von Priestern, Mönchen u.dgl.), die ggf. zurückerstattet wurde, wenn der Schutz nicht gewährleistet werden konnte.

Zum anderen war da die Tatsache, daß das persische Sassanidenreich von innen her im Zerfall begriffen war und nur noch vorübergehend durch diktatorische Maßnahmen zusammengehalten wurde. Zuerst sahen die Völker im Grenzgebiet in der "islamischen Alternative" einen Weg zu mehr eigner Freiheit. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die darauf folgten, waren unbedeutend, gaben aber dem Reich den Anstoß, der noch fehlte, um auseinanderzubrechen. Abgesehen von Verträgen, die Steuern und Sonderrechte regelten, behielt die Bevölkerung ihr eigenes Verwaltungssystem, und die Muslime mischten sich nicht in ihre kulturellen und religiösen Belange ein. Tatsächlich war es lange so, daß die Mehrheit der Bevölkerung ihre alte Religion beibehielt und erst allmählich zum Islam kam, u.a. durch vorbildliche Persönlichkeiten, die dort wirkten und lehrten, also islamische Werte vorlebten.

Und schließlich gab es auch Faktoren, die nichts mit islamischen Werten und Idealen zu tun hatten, sondern eher mit Opportunismus, strategischen Überlegungen und den Ambitionen von Machthabern. Hier sind damals schon kriegerische Aktionen durchgeführt worden, die in keinem Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit standen. Trotzdem ist das Klischee von "Feuer und Schwert" verfehlt. Kriegerische Erfolge waren nur ein Faktor unter vielen. Selbst wenn alle arabischen Stämme in der Begeisterung des neuen Glaubens aufgebrochen wären, sie wären schon rein quantitativ nicht in der Lage gewesen, Gebiete von dieser Größenordnung zu erobern und gegen den Willen der Bevölkerung zu halten. Die Geschichte ist vielschichtiger.

Viele politische Ideen der islamischen Geschichte, z.B. die des erblichen Kalifats oder eines islamischen Großreiches, sollten einmal kritisch unter die Lupe genommen werden, auch und gerade im Licht von Qur'an und Sunna. Muslimische Staaten waren allerdings nie homogene Gebilde, sondern bestanden immer aus verschiedenen Völkern und sprachlichen, kulturellen und religiösen Grupierungen. Erst in jüngster Zeit gibt es Tendenzen, Einheit und Uniformität zu verwechseln, mit den bekannten totalitären Ansätzen in der Politik. Die Erfahrungen der Vielfalt aus der Geschichte (auch aus anderen außereuropäischen Kulturkreisen) sollten m.E. mit in die Überlegungen zu einer "multikulturellen Gesellschaft" einbezogen werden.

Nicht nur in soziopolitische Überlegungen, sondern auch in psychologische, ethische und theologische.

Auf der psychologischen Ebene ist heute oft von Angst die Rede: Angst vor Fremdem, Angst vor Fremden - und gelegentlich wird gesagt, Fremdenangst und die entsprechende Ablehnung sei "natürlich".

Ich möchte hier differenzieren: natürlich ist Furcht vor einer tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahr; sie hat ihren Sinn darin, daß sie dazu veranlaßt, der Gefahr aus dem Weg zu gehen, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, vor ihr zu fliehen oder sich auf einen Abwehrkampf einzustellen. Somit gehört sie zu den Selbsterhaltungsmechanismen bei Mensch und Tier. Das Objekt ist dabei als gefährlich bekannt oder erweckt einen solchen Eindruck. Natürlich ist auch eine gewisse Vorsicht und Scheu gegenüber Unbekanntem, von dem potentiell eine Gefahr ausgeht, während die Begegnung damit auch nützlich und erfreulich sein kann. Diese Vorsicht ist ein Gegengewicht zur Neugier, und auch diese beiden gehören zu den Selbsterhaltungsmechanismen bei Mensch und Tier. Aus dem Verhältnis zwischen ihnen ergibt sich, wie gründlich man das Unbekannte beobachtet und erkundet, bevor man vorläufig entscheidet, welche Beziehung man zu ihm aufnimmt.

Dies gilt selbstverständlich auch ür die zwischenmenschliche Begegnung, und die verschiedenen Gesten der Höflichkeit in den Kulturen dienen sowohl dazu, dem Gegenüber die eigenen guten Absichten auszudrücken, als auch dazu, Zeit zum gegenseitigen Beobachten zu schaffen, ein gegenseitiges vorläufiges Kennenlernen zu ermöglichen. Haupthindernisse an dieser Stelle liegen wohl heute da,

Und hier liegt beim Nicht-Kennenlernen auch schon der Übergang zur Angst: Was, wenn er so bleibt, wie er ist, und nicht wieder weggeht, sondern womöglich noch mehr von Seinesgleichen mitbringt? Es ist dann wohl eine Frage des eigenen Identitätsgefühls, ob man dies als Bereicherung begrüßen kann, sich über die Störung der eigenen Gewohnheiten ärgert oder Angst vor einer Herausforderung des eigenen Selbstverständnisses bekommt. Letzteres liegt wohl auch daran, daß ich mich selbst nicht genug kenne und mir der Wurzeln, die mich tragen, nicht so sicher bin. Sonst könnte der "Fremde" doch einfach mein Nachbar sein. Und hier liegt der Nährboden für Feindbilder aller Art. Es braucht nur noch suggeriert zu werden, daß diese Fremden "uns" verdrängen/überfremden/ entwurzeln/vereinnahmen wollen, und schon entsteht zweierlei: die Angst schlägt um in Ablehnung und Kampfbereitschaft; und das Feindbild errichtet eine psychische Barriere, die ein unmittelbares Kennenlernen weiter erschwert und mit ggf. eine Brille aufsetzt, die alle Äußerungen des "Fremden" als "feindlich" und "bedrohlich" interpretiert.

Das schließt nicht aus, daß es echte Interessenkonflikte zwischen Menschen und Gemeinschaften gibt, und daß man tatsächlich gelegentlich bei einem Mitmenschen oder einer Gruppe Antipathie und feindliche Absichten feststellen kann und womöglich Konsequenzen daraus ziehen muß. Auf Unkenntnis beruhende Angst und Desinformation verhindern jedoch, daß das eine vom anderen unterschieden wird und man bei tatsächlichen Interessenkonflikten eine Lösung anstrebt.

In diesem Zusammenhang sind m.E. die folgenden ethischen Forderungen in den islamischen Quellen besonders wichtig:

Offensichtlich sind alle diese ethischen Forderungen mit dem menschlichen Selbstwertgefühl verbunden, und daraus ergeben sich anthropologische und theologische Fragen. Die Religionen befassen sich mit diesen Fragen in ihrer jeweiligen Sprache, und hier soll es nun darum gehen, in welcher Richtung im Islam die Antworten zu suchen sind. Natürlich hat es auch hier in der Theologiegeschichte verschiedene Positionen gegeben; ich möchte diese jedoch beiseitelassen und versuchen, eine Gesamtübersicht über das zu umreißen, was im Qur'an dazu ausgesagt wird und offensichtlich die Zeitgenossen des Propheten (s) bewegt hat.

Da sind einmal ethisch-rechtliche Aussagen, die sich an den Menschen richten, und zwar als Individuum, das in ein Netz aus Beziehungen zu sich selbst, den Mitmenschen, anderen Lebensformen der Schöpfung insbesamt und Gott eingebettet ist. Er wird als ein Wesen gesehen, das Verantwortung für die Gestaltung dieser Beziehungen entsprechend seinen Fähigkeiten trägt. Dabei ist das Leben ein Lernprozeß; Fehler werden eher als Erfahrungen und Lernmöglichkeiten gesehen, nicht als grundsätzlicher Mangel. Zwar ist der Mensch in seiner Freiheit ambivalent, aber mit einem gottgegebenen positiven Potential.

Wie wir anfangs gesehen haben, transzendiert der Qur'an aber auch diese Sichtweise, in der der Mensch auf diese Weise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Die qur'anische Sichtweise ist ganz eindeutig theozentrisch. Sie macht weder einen Hehl daraus, daß alles Geschaffene einschließlich des Menschen vergänglich ist, noch daraus, daß jedes einzelne Geschöpf unmittelbar mit Gott verbunden ist und Seine Schöpferkraft offenbart. Sowohl der Wert des Menschen als "Statthalter Gottes", der im Idealfall zum "Freund Gottes" werden kann, wird bestätigt, als auch die Tatsache, daß er, wenn er sich selbst verabsolutiert, Schaden anrichten und seinen eigenen Untergang verursachen kann. Abgesehen davon ist ein Individuum ein unter den vielen seiner Gruppe, die Gruppe eine unter vielen in der Menschheit, die Menschheit eingebettet in die ökologischen Zusammenhänge der Geschöpfe dieser Welt. Sowohl eine Haltung, die von einer grundsätzlichen Nichtigkeit und Zufälligkeit des Menschen ausgeht, als auch anthropozentrische Hybris sind aus dieser Perspektive Extreme, gegenüber denen der Qur'an auf den Weg der Mitte verweist.

Dementsprechend gestaltet sich die Praxis der spirituellen Disziplinen. Hier geht es gleichermaßen um die menschliche Verantwortung, indem wir Gott als dem Ganz Anderen, Unverfügbaren, gegenüberstehen, als auch um die immer tiefere Selbstentdeckung bis hin zu dem Funken des göttlichen Lichts, das sich in jedem von uns offenbaren will.


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