II - Wir als Fremde


Muslime waren seit jeher reisefreudig. Dazu mag beigetragen haben, daß die Pilgerfahrt nach Mekka zu den Grundpfeilern der Religion gehört. Man reiste aber auch in politischen und geschäftlichen Anliegen und zu Studienzwecken. Eine Erleichterung innerhalb des islamischen Einflußgebiets war die, daß Arabisch als Sprache des Qur'an durchweg für religiöse Zwecke gepflegt wurde, so daß ein Reisender zwar einer großen sprachlichen und kulturellen Vielfalt (auch unter Muslimen) begegnete, sich aber nie wirklich fremd fühlen mußte, denn abgesehen von der selbstverständlichen Gastfreundschaft war der Kern der religiösen Alltagspraxis, z.B. das gemeinsame rituelle Gebet, das Fasten im Monat Ramadan usw., überall gleich, und Arabisch überbrückte einen großen Teil der sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten. Kulturschocks blieben auch hier nicht aus, wie aus Reiseberichten deutlich wird (z.B. bei Ibn Battûta Mitte des 14. Jahrhunderts, der von seiner Heimat Marokko aus Nordafrika, die arabischen Länder, Ostafrika, Kleinasien, den Kaukasus, Teile Zentralasiens, Indien, den malaiischen Archipel und Teile Chinas bereiste), waren aber relativ leicht zu bewältigen. Im großen und ganzen galt das nicht nur für muslimische Länder, sondern auch überall da, wo es muslimische Minderheiten gab. Trotz aller nationalistischen Anwandlungen sind Überreste davon bis heute erhalten. Was in bezug auf "Muslime als Fremde" oder "Muslime in der Minderheitssituation" geschrieben wurde, steht meist vor dem Hintergrund dieser Erfahrung.

Ibn Battûtas Reisen

Traditionell finden wir eine Unterteilung in Dârul-Islâm, das "Gebiet des Islam", wo islamische Rechtsnormen gelten, man sich als Muslim also sicher und zu Hause fühlen kann, auch wenn man mit Sprache und Kultur noch nicht vertraut ist; in Dârul-Harb, das "Kriegsgebiet", wo eine feindliche Haltung gegenüber Muslimen zu erwarten ist; und in Dârus-Sulh, das "Gebiet der Friedensordnung", wo eine Rechtsordnung herrscht, in der Muslime sicher leben können. Man sieht gleich, daß diese Unterteilung aus einem Umfeld stammt, wo Muslime die Mehrheit bilden oder jedenfalls in einer politischen Situation waren, in der man Sicherheit verwirklichen konnte, also im Dârul-Islam. Allerdings müßte sie insgesamt einmal neu überdacht werden, sowohl anhand der Prinzipien von Qur'an und Sunna als auch im Hinblick auf moderne Gegebenheiten. Ich möchte sie trotzdem als Gliederung für meinen Vortrag benutzen und hoffe, daß dabei auch meine Anfragen deutlich werden.

Dârul-Harb war wohl meist assoziiert mit etwas, das man auf Deutsch "feindliches Ausland" nennen würde, also ein Gebiet außerhalb der Grenzen eines muslimisch regierten Staates, mit dem kein Friedensvertrag bestand und wo, auch ohne daß tatsächlich Krieg herrschte, Muslime um ihre Sicherheit zu fürchten hatten. Insofern machte man es sich oft leicht: es wurde empfohlen, sich dort nicht ohne Notwendigkeit aufzuhalten, sondern auszuwandern oder zurückzukehren. Dabei dachte man offensichtlich an Einzelne oder kleinere Gruppen, die sich aus geschäftlichen oder anderen Gründen dort angesiedelt hatten, oder einzelne Konvertiten; und dann klingt diese Schlußfolgerung durchaus sinnvoll, denn es ist keine islamische Tugend, die eigene Sicherheit leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Inzwischen gibt es aber auch längst Erfahrungen, die von diesen Überlegungen nicht abgedeckt werden, nämlich Krieg im eigenen Land (z.B. Bosnien), die Besetzung durch eine fremde Macht (z.B. Afghanistan), religiöse Verfolgung in der angestammten Heimat (z.B. in der Sowjetunion oder in China) und dergleichen. Die Folge ist einmal Massenflucht. Und dabei geht es nicht so sehr um die Aufnahmebereitschaft muslimischer Nachbarländer: in Pakistan gibt es allein mehr Flüchtlinge als in ganz Europa und Nordamerika zusammen, dem Iran geht es kaum anders, und das ist längst nicht alles. Die Frage ist vielmehr die nach den Rückkehr- oder Integrationsmöglichkeiten - gewiß eine wirtschaftliche und soziopolitische Frage, aber die Frage von Flucht und Vertreibung muß auch innerlich aufgearbeitet werden, und da ist mehr nötig als der Hinweis auf Gottes Willen.

Die Folge ist zum anderen das Leiden derer, die zurückbleiben mußten, vor allem dann, wenn die Besatzungsmacht Kontakte nach außen unterbindet und Gelehrte einsperrt bzw. ggf. ihr Leben bedroht. Es ist ja nicht so, daß gläubige Menschen diese Situation nicht irgendwie meistern und - notfalls im Untergrund - ihre Identität und einen Teil ihrer Werte bewahren können. Um so schlimmer ist es aber, wenn diese Erfahrungen nicht in die allgemeinen ethischen und theologischen Überlegungen einbezogen und vergessen werden, wenn sogar die Betroffenen selbst im Laufe der Generationen "abgeschrieben" werden (oder wer war z.B. in den 60er Jahren über die Lage religiöser Gruppierungen im Ostblock informiert? Das gilt bei weitem nicht nur für Muslime).

Dabei hat die Erfahrung, eine verfolgte Minderheit in der eigenen Heimat zu sein oder auswandern zu müssen, durchaus ihren Platz in den islamischen Quellen. Als dem Establishment in Mekka bewußt wurde, daß es dem Propheten (s) und seinen Gefährten um ernsthafte ethische Fragen und deren Konsequenzen ging, fürchtete es um den Fortbestand gewisser Privilegien und ergriff Maßnahmen gegen diese Bewegung, von Spott und Bestechungsversuchen über Erpressung und Boykott bis zu physischen Übergriffen, vor allem gegen Abhängige (z.B. Sklaven), manchmal mit Todesfolge. Die Qur'antexte, die in Mekka offenbart wurden, nehmen darauf Bezug. Sie trösten und ermutigen, bestätigen Gottes Verheißung und mahnen zu Geduld und Standhaftigkeit. Die Muslime waren in dieser Zeit politisch schwach und damit uninteressant für alle, die in der Geschichte nur einen Blick für machtpolitische Highlights haben, zeigten aber eine beachtliche Charakterstärke, die ihnen nicht nur das Überleben ermöglichte, sondern auch auf andere überzeugend wirkte. Wo diese innere Festigkeit und dieses grundlegende Vertrauen vorhanden ist, kann es auch vernünftiges Vorgehen geben wie das, die eigene Überzeugung nicht an die große Glocke zu hängen, sondern unauffällig und ohne Paranoia zu lernen, sich auszutauschen und das zu praktizieren, was ohne viel Aufsehen möglich ist - vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Dieser Teil der Sunna ist sträflich vernachlässigt worden, obwohl er zeitlich mehr Platz einnimmt als die medinensische Phase. Er würde wohl auch die entsprechenden Qur'antexte neu beleuchten und einige ungewohnte und vielleicht unbequeme Fragen aufwerfen.

Anders verhält es sich schon mit den Erfahrungen der Auswanderung, jedenfalls soweit es die Abläufe von Handlungen und Ereignissen betrifft. Einzelheiten, die heute interessant sein könnten, z.B. über die Beziehung der Auswanderer nach Äthiopien zu ihren christlichen Gastgebern und Nachbarn, müssen jedoch mühsam rekonstruiert werden. Und was die Auswanderung nach Medina betrifft, so ist den wenigsten Muslimen heute bewußt, daß nicht alle damals Mekka verlassen konnten: unter den Zurückgebliebenen befanden sich solche, denen Kraft und Mittel fehlten, und Freiwillige, die blieben, um ihnen eine geistige und moralische Stütze zu sein.

Es muß die Mekka-Erfahrung gewesen sein, die den Propheten (s) zu der Aussage veranlaßte: "Der Islam hat fremd angefangen und wird einmal wieder ein Fremdendasein führen. Gesegnet sind darum die Fremden."

Mit Dârus-Sulh meinte man ein Land, das zwar nicht muslimisch regiert wurde, aber mit den Muslimen bzw. einem muslimischen Nachbarland in einem Vertragsverhältnis stand, so daß weder ein Krieg zu befürchten war noch Willkür gegen die dort ansässigen Muslime. Bemerkenswert ist, wieviele Autoren gerade heute einer Schwarz-Weiß-Malerei verfallen sind, die die Welt in ein "Gebiet des Islam" und ein "Kriegsgebiet" aufteilen und Dârus-Sulh ignorieren, damit aber auch alles, was im Zusammenhang damit gelehrt wurde.

Dazu gehört u.a., daß die Rechtsordnung dieses Landes grundsätzlich für die Muslime, die sich dort aufhalten, verbindlich ist (es sei denn, eine Handlung wäre erlaubt, die im Islam nicht erlaubt ist, z.B. der Alkoholkonsum). Ein Muslim, der sich in einem solchen Land aufhält, tut dies im Rahmen vertraglicher Abmachungen, und es ist ein qur'anisches Gebot, Verträge zu halten, ganz abgesehen davon, daß es ein Erfordernis der Vernunft ist, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen in der Gesellschaft gewahrt werden soll.

Aber auch in diesem Zusammenhang ist man eher von der Vorstellung ausgegangen, daß es sich bei den Muslimen um solche handelt, die sich mehr oder weniger vorübergehend in einem "Gastland" aufhalten, nicht um eine fest ansässige Bevölkerungsgruppe. Bis heute denkt man bei Muslimen als erstes an Araber und womöglich noch an Perser und Türken und übersieht, daß mindestens ebensoviele Muslime in anderen Teilen der Welt leben, teils als kleine Minderheit, teils als eine größere Religionsgruppe unter vielen. Für sie ist es der Normalfall, auf der Grundlage von Verträgen, Abmachungen und Gewohnheitsrecht mit nichtmuslimischen Nachbarn konstruktiv zusammenzuleben. Abgesehen davon, daß Ausnahmefälle wie Krisen und Konflikte in der Weltpresse ein weites Echo finden, werden ihre Erfahrungen im Normalfall und die Schlußfolgerungen ihrer Gelehrten viel zu wenig beachtet und genutzt.

Ein Beispiel in diesem Zusammenhang sind die Muslime in Europa. Vor einer Generation war die Vorstellung von Arbeitern, Kaufleuten und Studenten, die sich vorübergehend hier aufhielten, durchaus noch realistisch, abgesehen von ein paar exotischen Konvertiten, zu selten, um soziologisch relevant zu sein. Inzwischen ist sowohl die Anzahl derer gestiegen, von denen niemand weiß (nicht einmal sie selber), wie lange sie bleiben werden, als auch die Anzahl derer, die ansässig sind und die entsprechende europäische Staatsangehörigkeit haben. Der Islam ist augenblicklich die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach dem Christentum. Seit über zwanzig Jahren gibt es zunehmend Möglichkeiten zu Begegnung und Dialog. Als fremd werden wir allerdings von der Mehrheitsbevölkerung oft immer noch empfunden (auch "eingeborene" Muslime), und es gibt eine erstaunliche Unkenntnis über den Islam und die Muslime, beides wohl auch verstärkt durch das Bild, das die Medien oft geben, so daß jeder Einzelne sich ständig gefordert fühlt.

Für Insider sieht unsere Situation noch vielschichtiger aus. Wir sind schließlich kein monolithischer Block, sondern Einzelpersonen und Familien aus allen islamischen Ländern, mit allen denkbaren Sprachen und Kulturen, von allen Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen davon, daß die meisten von uns eingewandert sind, mußten wir uns auch erst einmal selbst untereinander kennelernen, und dieser Prozeß dauert noch an, nachdem Deutsch (bzw. analog andere europäische Sprachen) die Brücke geworden ist, Sprachbarrieren zu überwinden. Wir führen also nicht nur interreligiösen Dialog, sondern auch einen sehr intensiven innerislamischen Dialog, bei dem Kenntnisse, Erfahrungen, Meinungen ausgetauscht werden, und es gibt ein ständiges Ringen um Lösungen für die verschiedensten gegenwärtigen Probleme, vom Platz auf dem Friedhof bis zu Grundfragen von Zweifeln, Denken und Glauben. Bei eingewanderten Muslimen schwankt die innere Neigung meist zwischen den Problemen des Herkunftslandes, mit dem man durch Familienbeziehungen und alte Freundschaften natürlich weiterhin verbunden ist, und den Fragen, die hier für die Zukunft wichtig sind. Einige deutschstämmige Muslime verbinden ihr Muslimsein zwar auch mit einer gehörigen Portion Nationalgefühl, aber den meisten geht es eher ähnlich wie den Einwanderern. Zunächst orientieren sie sich oft an dem Land oder den Personen, durch die ihnen der Islam nahegekommen ist, in Verbindung mit hohen Idealvorstellungen und manchmal auch mit einer starken Ablehnung der Religionsgemeinschaft oder Gesellschaftsgruppe gegenüber, der sie zuvor angehört haben. Ich habe zuvor schon angedeutet, daß sie in der Mehrheitsgesellschaft als fremd empfunden werden, vor allem, wenn sie sich stark mit ihrer neuen Bezugsgruppe identifizieren. In der schwierigsten Situation sind junge Muslime, die hier aufwachsen. Ob sie aus eingewanderten Familien stammen, aus gemischten Ehen oder aus deutschen Familien, wie wachsen - meist ohne Hilfestellung - im Spannungsfeld zwischen den Religionen und Kulturen auf, so daß oft ein ganz gewöhnlicher Generationskonflikt zum Kulturkampf wird. Wege in diesem Spannungsfeld schwanken zwischen entweder, oder, sowohl-als-auch, und weder-noch. Sowohl als auch auf der Ebene der Religion bedeutet Synkretismus und stößt auf beiden Seiten nicht auf viel Gegenliebe, während auf einer anderen Ebene jemand, der sich in zwei Kulturen bewegen kann, womöglich in der Lage ist, Brücken zu bauen und zu neuen Formen des Zusammenlebens beizutragen. Das Weder-Noch ist ein harter, individualistischer Weg, an dem man leicht zerbrechen kann, es sei denn, man hätte eine mystische Veranlagung.

Ich werde gelegentlich gefragt, ob es einen "europäischen Islam" geben kann. Nicht immer ist mir ganz klar, was sich der Fragesteller darunter vorstellt. Durch die Dynamik allein dieser verschiedenen Faktoren wird aber allerdings im Laufe der Zeit eine muslimische Gemeinschaft in Europa entstehen, die ebenso ihre eigene Kultur entwickeln wird wie die Gemeinschaften in anderen Ländern, wo Muslime in der Minderheit sind. Wie diese Kultur aussehehen wird, ist nicht vorauszusehen. Ein wichtiger Bestandteil ist jedoch der Austausch mit anderen religiösen und weltanschaulichen Gruppen.

Es ist m.E. für unsere Erziehung und Selbsterziehung notwendig, nicht nur die Gedanken von Einheit aufzunehmen, wie sie im Qur'an gelehrt, in der Urgemeinde vorgelebt und später in der Theologie, Philosophie und Mystik weiter ausgeführt wurden, sondern wir müssen auch die ethisch-praktischen Schlußfolgerungen daraus für unseren aktuellen Kontext formulieren und umsetzen.

Gelegentlich ist noch die Rede davon, ob die "ausländischen" Muslime nicht doch in ihre Heimat zurückkehren wollen. Einige werden dies tun. Viele Angehörige der ersten Einwanderergeneration träumen auch noch davon, aber es gibt drei Haupthindernisse. Erstens sind die Kinder hier aufgewachsen, womöglich schon die Enkelkinder hier geboren; sie sind mit dem hiesigen Kontext vertraut, und es wäre nicht sinnvoll, ihn einer Auswanderung in eine ungewisse ehemalige Heimat wegen zu verlassen. Zweitens ist, wenn man sich eine zeitlang in einem anderen Land aufgehalten hat, die Rückkehr in die alte Heimat eine erneute Auswanderung, denn dort hat sich inzwischen vieles verändert, und auch man selbst hat sich verändert, wenn auch vielleicht unmerklich. Drittens sind viele denkende und praktizierende Muslime in ihren muslimischen Ursprungsländern politischen Schwierigkeiten ausgesetzt; einige haben gerade deswegen den Weg ins Exil gewählt.

Oft werde ich auch selbst gefragt, ob ich nicht lieber in einem islamischen Land leben würde. Die Frage ist durchaus berechtigt, schließlich fühle ich mich in meinem "Schwiegervaterland" Pakistan mindestens genauso zu Hause wie hier, kenne also auch sehr gut den "Spagat zwischen den Kulturen". Ich könnte auch in fast jedem anderen islamischen Land leben und in meinem Beruf eine befriedigende Tätigkeit finden. Die Sprache müßte ich womöglich lernen, an Sitten und Gebräuche müßte ich mich gewöhnen, die menschlichen Probleme wären mehr mit wirtschaftlichen Überlebensfragen verbunden, aber die Frage nach der islamischen Identität, mit der ich hier arbeite, gilt auch dort in unverminderter Aktualität.

Wo ist dann also das Dârul-Islam?

Wenn die rein persönliche Ebene ausschlaggebend ist, daß man z.B. gemeinsam beten, fasten, Feste feiern und mit Gleichgesinnten über die schönen Dinge des Glaubens sprechen kann, dann ist Dârul-Islam überall dort, wo eine Gruppe von Muslimen zusammenkommen kann. Das gilt selbstverständlich für das Gebiet, in denen Muslime die Mehrheit bilden, und das religiöse Leben ist insofern leichter, als man Teil der Mehrheit ist und an den Lebensgewohnheiten teilnimmt, von ihnen mitgetragen wird. Da braucht man also morgens nicht einen lauten Wecker und viel Selbstüberwindung, sondern wird rechtzeitig vom Gebetsruf geweckt und tut das, was viele andere tun. Ein Gefühl von Dârul-Islam zu vermitteln ist auch eine zusätzliche Funktion der Moschee in der Diaspora, selbst wenn es nur ein Hinterhofgebetsraum oder ein umfunktionierter Lagerschuppen ist. Je fremder sich die betreffende Gemeinschaft in ihrer Umgebung fühlt, um so wichtiger ist ihr dieser Ort als Rückzugsmöglkichkeit, und je heimischer sie sich fühlt, um so offener ist diese Moschee für Besuche und Begegnungen.

Der Islam umfaßt aber, wie wir gesehen haben, auch andere Lebensbereiche, die die Beziehungen des Menschen nicht nur zu Gott, sondern auch zu seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen betreffen, also seine spezifische Verantwortung in dieser Welt. Abgesehen von kleinen Gruppen sind die damit verbundenen Werte aber gegenwärtig nirgends in der Welt verwirklicht, auch nicht in Staaten, die islamische Zielsetzungen in ihrer Verfassung festgeschrieben haben. Im Gegenteil, wirtschafts- und sozialethische Werte sind der Masse der Muslime oft gar nicht mehr bekannt, und in den meisten Ländern muß man - trotz muslimischer Bevölkerungsmehrheit - mit Strafverfolgung rechnen, wenn man gemeinsam darüber spricht oder gar an Kritik oder Alternativen zum bestehenden System denkt. Wenn also Dârul-Islam definiert wird als Gebiet, wo eine gerechte Gesellschaft im Sinne der islamischen Ethik verwirklicht ist, dann haben wir hier ein Problem.

Tatsache ist, daß in der islamischen Welt eine Entfremdung von den religiösen (sowohl spirituellen als auch ethischen) Wurzeln stattgefunden hat.

Ein Faktor liegt sicherlich in den machtpolitischen Schachzügen muslimischer Herrscher in der Geschichte - sie standen unter einem ständigen Legitimationszwang, da bereits ihre Existenz dem egalitären Menschenbild der Quellentexte widersprach, und sorgten deshalb mit verschiedenen Mitteln für einen entsprechenden Einfluß auf Recht und Theologie. Dem gegenüber stand jedoch der Widerstand gewissenhafter Gelehrter, deren Einfluß nicht zu unterschätzen ist. Tatsächlich standen so gut wie alle Gelehrten, deren Namen bis heute berühmt sind, in einem Spannungsverhältnis zu den Machthabern ihrer Zeit, gleichgültig welcher Schule man sie heute zuordnet und auf welche Weise man ihre Namen für eigene Zwecke vereinnahmt hat.

Ein anderer Faktor liegt sicher auch in eingefahrenen Traditionen, sowohl in Volkstraditionen, die sich von islamischen Werten entfernt und oft auch die soziopolitischen Gegebenheiten überdauert haben, in denen sie vielleicht einen Sinn hatten, als auch in erstarrten Denkstrukturen in Recht und Theologie. Tatsächlich gab es in den letzten Jahrhunderten immer wieder Stimmen, die eine Widerbelebung des Ijtihâd (Rechtsfindung auf der Grundlage islamischer Quellen und Methoden) forderten, die aber gegenüber dem vom Machthaber kontrollierten Rechtssystem und den konservativen Strömungen kaum zum Zuge kamen - und ähnliches geschah im Bereich von Theologie und Philosophie.

Einen besonders radikalen Einschnitt bildete die Kolonialzeit, die oft mit einer gewaltsamen Umstrukturierung der Wirtschaft, des Bildungssystems und der Gesellschaftsordnung verbunden war (auch dort, wo ein Land nicht unter direkter Kolonialherrschaft stand). Man baute ein Hochschulsystem nach europäischem Vorbild auf und ein Schulsystem, das darauf vorgbereitete, beides mit importiertem Lehrplan und mit der Unterrichtssprache der jeweiligen Kolonialmacht. Nun war ja die Aufnahme und Verarbeitung fremder Ideen in der islamischen Welt ursprünglich ebensowenig ein Problem wie Mehrsprachigkeit. Durch diese Art von Umstrukturierung entstand jedoch eine gewaltige Kluft in der Bevölkerung zwischen Ungebildeten (die die breite Mehrheit bilden und oft leicht zu manipulieren sind), Gebildeten des einheimischen Systems (die manchmal ein Schattendasein führen) und Gebildeten des westlichen Systems (die "international anerkannt" sind). Ein Absolvent einer modernen Universität in einem solchen Land spricht meist seit der Grundschulzeit Englisch oder Französisch; er hat in dieser Sprach Denkstrukturen kennengelernt, für die er keine Brücke in die eigene Muttersprache findet, und in dieser wiederum fehlt ihm oft genug das Vokabular, das ihm Zugang zu anspruchsvollerer Literatur und darüber auch zu Gesprächen mit Angehörigen des traditionellen Bildungssystems verschaffen könnte. In seiner Schule stand wohl Geschichte auf dem Stundenplan, dann aber europäische Geschichte, mit der er dementsprechend vertraut ist, nicht aber die Geschichte seines eigenen Landes und Kulturkreises. Islam steht nicht auf dem Programm oder höchstens durch die Brille westlicher Orientalisten - abgesehen von vielen Schulen, die bis heute von christlichen Missionsgesellschaften betrieben werden und daher die Gelegenheit bieten, das Christentum intensiv kennenzulernen. So gilt es jedenfalls für meine Generation, und seither hat sich zwar vieles geändert, aber die Kluft ist unvermindert bestehengeblieben, ebenso die Entfremdung. Ich sagte bereits, daß die Frage nach der islamischen Identität, die hier im Vordergrund meines Arbeitsalltags steht, auch dort in unverminderter Aktualität präsent ist. Hinzu kommen Probleme, die durch die weltweiten postkolonialen Wirtschafts- und Machtstrukturen verursacht werden (in Europa lebende Muslime aus islamischen Ländern sehen sich oft einer doppelten Entfremdung ausgesetzt).

Zu den Entwicklungen der postkolonialen Zeit gehört eben gerade die Frage nach der islamischen Identität und eine entsprechende Rückbesinnung, die verschiedene Formen hat und zu verschiedenen Schlußfolgerungen führt. Die konservative Reaktion auf westliche Erneuerungen hat offensichtlich die Entfremdung nicht verhindern können. "Modernistische" Versuche, die Neuerungen aufzunehmen und ggf. islamische Formen und sogar einige Prinzipien dementsprechend zu modifizieren, brachten kurzfristige Verbesserungen für die Betroffenen, aber keine Lösung für die Grundprobleme der wirtschaftlich-politischen Abhängigkeit und der Entfremdung, abgesehen davon, daß die erhoffte Anerkennung ausblieb. Heute gibt es eine Reihe von weiteren Ansätzen, die mit dem Begriff "Reislamisierung" zusammengefaßt werden.

Bei einem Ansatz steht die Befreiung aus wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten im Vordergrund, um dadurch Raum zu schaffen, in dem Gerechtigkeitsideale verwirklicht werden können und Zeit für geistig-kulturelle Aktivitäten zur Verfügung steht. Diese Abwehrhaltung gegen wirtschaftliche Abhängigkeit und strukturelle Gewalt, ob der "Westen" als Gegner gesehen wird oder das jeweilige eigene Regime, und der Entwurf von Alternativkonzepten und Plänen zur Umsetzung stößt bei den Mächtigen auf wenig Gegenliebe. Sie reagieren mit der Unterdrückung solcher Ideen und ihrer Vertreter, die ihrerseits zur Gegenwehr greifen. Im Iran kam es auf diese Weise zur Revolution. Anderswo besteht das Spannungsverhältnis weiter und eskaliert. Die Unterdrückten werden womöglich radikalisiert und greifen zu Maßnahmen, die vielleicht menschlich verständlich, aber in keiner Weise mit islamischen Prinzipien vereinbar sind.

Ein anderer Ansatz ist die Wiederbelebung des spirituellen und ethischen Bereiches, um durch Erziehung und Selbsterziehung Menschen hervorzubringen, die überhaupt erst in der Lage sind, gesellschaftliche Veränderungen mitzutragen und Werte umzusetzen, ohne selbst den Versuchungen der Macht zu erliegen. Da bei diesem Ansatz nur selten spektakuläre äußere Erfolge zu sehen sind, wirkt er auf ungeduldige junge Leute nicht besonders anziehend und auf akute Not leidende Menschen irrelevant.

Dennoch ist sowohl die geistige Wiederbelebung als auch die Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen notwendig. Das gilt nicht nur für die islamischen Länder. Viele Völker in Afrika, Asien, Amerika und Australien haben in der Kolonialzeit größeren Schaden erlitten als die Muslime, sowohl im Hinblick auf Menschenleben als auch im Hinblick auf ihre kulturellen und religiösen Wurzeln, und auch sie leiden nach wie vor unter dem globalen Machtgefälle. Darum sollten Menschen, die noch andere Werte kennen als materielle Vorteile und Machtpositionen, einander nicht fremd bleiben, sondern mit ihrer natürlichen Verschiedenheit umgehen lernen und sich darüber verständigen, wie sie gemeinsam zu einer menschenwürdigen, gerechten und friedlichen Welt beitragen können.


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