Das dritte, was die
Anfänger lernen müssen, ist ein Mißtrauen gegenüber
letzten Wahrheiten
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Es könnte sein,
daß manche Anfänger beim Durcharbeiten der bisher
dargebotenen Lektionen vom Gefühl einer gewissen Ratlosigkeit
beschlichen wurden, wegen meines Hin und Her zwischen
autobiographischen Notizen, historischen Informationen und
theoretischen Überlegungen. Ordnungsliebende Anfänger
könnten sich versucht sehen, mir einen prinzipiellen Vorwurf zu
machen:
Warum geht der Autor
nicht der Reihe nach vor?
Warum schreibt er
nicht eine übersichtliche Geschichte der Mystik, beginnend mit
den Ekstasetechniken naturvölkischer Zauberer bis zu Jakob
Böhme?
Warum schildert der
Autor, wenn er meint, es sei notwendig, seine eigenen mystischen
Erlebnisse nicht in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens und
in zusammenhängender Form?
Warum sagt er nicht
klar und deutlich, worum es ihm geht und was er mit seinem Buch
erreichen will?
Warum hält er
sich nicht an die herkömmlichen Regeln für das Abfassen
eines Sachbuches?
Warum verwirrt er den
Leser?
Mein Freund Wolfgang
Haupt, Missionar in Korea, schrieb mir folgende Zeilen auf die erste
Seite eines Buches über Zen-Buddhismus:
Was suchst Du?
Das Licht der
Erleuchtung?
Wird es aus dem Osten
kommen?
Nein.
So wird es aus dem
Westen kommen?
Nein.
Wo wirst Du es also
suchen?
In mir.
Wirst Du es finden?
Niemals.
Solch verwirrenden
Redespiele heißen im Zen:
Koan.
Ein Koan muß man
so lange kauen, bis der Zahn, mit dem man kaut, von selber ausfällt.
Mein Buch muß
man so lange lesen, bis die Widerstände gegen meine
Verwirrungstechnik verschwinden
Der hauptsächliche
Widerstand, den ich bei den Anfängern überwinden muß,
liegt in deren Bedürfnis nach letzten Wahrheiten und ewigen
Werten.
Viele Anfänger
haben ein gutes Gefühl, wenn sie Sätze der folgenden Art
lesen:
Die Natur hat alles
sehr weise eingerichtet. Wir leben in einem materialistischen
Zeitalter. Ohne Gebet ist unser Leben sinnlos. Freiheit und
Menschenwürde werden heutzutage mit Füßen getreten.
Im Leben muß man viele Opfer bringen. Alle Neger stinken.
Meine Mutter, Jahrgang
1898, wuchs in den letzten Wahrheiten der österreichisch-ungarischen
Monarchie auf. In den Jahren 1914 bis 1918 mußten viele Männer
Kriegsdienst leisten, darunter auch der Bruder meiner Mutter, mein
Onkel Franz. Für viele Soldaten lautete die letzte Wahrheit:
Für Gott, Kaiser
und Vaterland.
Viele dieser Soldaten
wurden erschossen, und deshalb war diese Losung für sie die
letzte Wahrheit.
Mein Onkel Franz wurde
nicht erschossen. Er wurde auch im Zweiten Weltkrieg nicht
erschossen. Während des Zweiten Weltkrieges galt die Losung:
Ein Volk, ein Reich,
ein Führer.
Viele Menschen waren
damals von der Wahrheit dieser Parole überzeugt. Für jene
unter ihnen, die während des Krieges erschossen wurden, war sie
die letzte Wahrheit.
Meine Mutter war in
bezug auf letzte Wahrheiten eher skeptisch. Sie glaubte, wie bereits
erwähnt, nicht ans tausendjährige Reich. Die Frage, ob man
sich wegen letzter Wahrheiten erschießen lassen soll, würde
sie verneint haben.
Diese Frage habe ich
meiner Mutter nie gestellt. Ich glaubte nämlich selber an
letzte Wahrheiten.
Eine der ewigen
Wahrheiten, die ich während meines Theologiestudiums
kennenlernte, lautete:
Die göttliche
Offenbarung ist mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen. Das
bedeutete, daß Gott nach dem Tod des letzten Apostels keine
neuen Offenbarungen mehr geben wollte; mit dem letzten Apostel starb
der letzte Mensch, der Jesus Christus persönlich gekannt hatte
und der zum Weitersagen der göttlichen Offenbarungen berechtigt
war. (Nur die Apostel waren zum Weitersagen der göttlichen
Offenbarungen berechtigt.) Nach dem Tod des letzten Apostels gab es
niemand mehr auf der Welt, der aufgrund seiner persönlichen
Beziehung zu Jesus Christus darüber entscheiden konnte, ob es
sich bei einer Wahrheit um eine göttlich geoffenbarte handelte
oder nicht.
Ferner lernte ich, daß
die durch Jesus Christus verlautbarten Wahrheiten «unüberbietbar»
seien. Mit anderen Worten:
Etwas Besseres kommt
nicht nach.
Die Gesamtheit der
göttlichen Offenbarungen hatte ich mir als «depositum
fidei» vorzustellen, als Glaubensdepot. Dieses Depot mußte
bewacht werden, damit keine Wahrheiten daraus entwendet werden
konnten. Als Priester gehörte ich zur Wachmannschaft. Die zu
bewachenden Wahrheiten galten als unveränderlich. Es handelte
sich um ewige und letzte Wahrheiten, abgeschlossen mit dem Tod des
letzten Apostels.
Wie bewacht man letzte
Wahrheiten?
Indem man jede
Abweichung von ihnen bei sich selbst und bei anderen unnachsichtig
bekämpft.
Von dieser strengen
Regel ist nicht einmal die eigene Mutter ausgenommen. Eines Tages
zerriß ich daher die Wahrsagekarten meiner Mutter, wie bereits
erwähnt.
Ich war damals ein
frommer Priesterkandidat.
Hätte mich der
Zufall in ein anderes Glaubensdepot verschlagen, dann hätte ich
mich nicht durch Frömmigkeit, sondern durch Linientreue
auszeichnen müssen. Oder durch besondere Zuverlässigkeit
im Dienst.
Das Glaubensdepot, in
dem ich meinen Dienst verrichtete, war mustergültig geordnet.
Alle vorhandenen Glaubenswahrheiten waren als solche seit langer
Zeit registriert, in eine Reihenfolge gebracht und untereinander in
Beziehung gesetzt. Das Glaubensdepot besaß jene Eigenschaften,
die manche Anfänger in meinem Buch vielleicht vermissen. Es
hatte System.
Das Glaubensdepot
befand sich in meinem Kopf.
Dorthin war es im Lauf
meiner theologischen Studien gekommen, durch die Bemühungen
meiner Lehrer. Jeder Lehrer der Theologie hatte ebenfalls ein
Glaubensdepot in seinem Kopf. Diese Glaubensdepots waren sozusagen
gleichgeschaltet. Die Glaubenswächter konnten sich daher
mühelos untereinander über Glaubensfragen verständigen.
Sie befanden sich gewissermaßen auf derselben Wellenlänge.
Die Wellenlänge wurde gelegentlich nachgeprüft.
Kurz vor meiner
Promotion zum Doktor der Theologie im Jahr 1954 wurde ich zu einem
alten Prälaten vorgeladen. Er hieß Wagner, war klein,
dick und ein wenig asthmatisch, hatte Hausschuhe an und war befugt,
mein Glaubensbekenntnis anläßlich meiner bevorstehenden
Promotion zum Doktor der Theologie entgegenzunehmen. Er wies mich
freundlich zu einem Betschemel, auf diesem lag das gedruckte
Glaubensbekenntnis. Der Prälat Wagner zündete zwei Kerzen
an und ging aus dem Zimmer. Ich kniete auf dem Betschemel nieder.
Beim Verlassen des Zimmers sagte der alte Prälat:
Fangens bitte
inzwischen an.
Das Glaubensbekenntnis
war in lateinischer Sprache abgefaßt und hieß «Schwur
gegen die Irrtümer des Modernismus». Es stammte a dem
Jahr 1910 und begann mit der Feststellung:
Ich umarme fest und
nehme an alles und jedes, was vom irrtumsl sen Lehramt der Kirche
definiert worden ist.
Der Schwur umfaßte
mehrere gedruckte Seiten.
Ich las ihn laut vor.
Niemand hörte zu.
Gegen Ende kam der
Prälat Wagner wieder ins Zimmer.
Immer habe ich mir
vorgestellt, daß er während seiner Abwese heit eine
Buttersemmel gegessen hat.
Vor den Fenstern des
Prälatenzimmers befand sich der Wier Stephansdom. Er befindet
sich noch immer dort.
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Ich
stelle mir vor, daß sich die Glaubenswächter (in den
Großkirchen, den politischen Parteien, den Militärverwaltungen
usw.) so benehmen, als ob sie eine kleine Antenne
in ihr Gehirn eingepflanzt bekommen hätten. Über die
Antenne kommen die Glaubensbefehle. Immer dann, wenn ein
Glaubenswächter sich versucht sieht, von der Parteilinie
(Rechtgläubigkeit, militärischen Disziplin usw.)
abzuweichen, hält er durch die Antenne einen Schmerzimpuls.
Wer die
Glaubensbefehle aussendet, weiß man nicht.
Einmal, im November
1956, traf ich einen Glaubenswächter der Wiener Kärntnerstraße.
Es handelte sich um Prof. Loidl, einen meiner Lehrer. Prof. Loidl
unterrichtete Kirchengeschichte an Universität, und ich hatte
seine Vorlesungen gehört. Als Prof. Loidl hörte, daß
ich das Studium der Philosophie begonnen hätte, sagte zu mir:
Daß Sie nur
nicht überschnappen oder häretisch werden!
(Überschnappen
ist ein österreichischer Ausdruck für Verrücktwerden.)
Diese Warnung verursachte in mir eine kaum merkliche Angst. Ich
wollte damals weder überschnappen noch häretisch werden.
Überschnappen
möchte ich auch heute nicht. Vor dem Häretischwerden habe
ich keine Angst mehr. Ich bin es längst geworden und fühle
mich ganz wohl dabei.
Ein Häretiker ist
ein Irrlehrer. Viele Mystiker waren ebenfalls Irrlehrer. Sie haben
letzte Wahrheiten bezweifelt, ihre Zweifel haben ihnen Schmerz
bereitet und meist auch Unannehmlichkeiten. Manche Mystiker sind von
den Glaubenswächtern getötet worden.
Ich stelle mir vor,
daß Prof. Loidl einen kleinen Sender in rechten Hosentasche
hat. Nachdem er gehört hat, daß ich Philosophie studiere,
läßt er seine rechte Hand in der Hosentasche
verschwinden. Er drückt einen Knopf, und sofort spüre ich
einen leichten Schmerz im Kopf.
Auf Wiedersehen, sagte
Prof. Loidl und gab mir die Hand. Er ging weiter, Richtung
Stephansdom.
Ich schrieb in mein
Tagebuch:
Wie werde ich das
alles aushalten?
Niemand hatte mich
aufgefordert, das Studium der Philosophie aufzunehmen. In meinem
Tagebuch findet sich kein Hinweis auf meine Beweggründe zu
diesem Entschluß. Lediglich zwei Eintragungen aus dieser Zeit
scheinen erwähnenswert:
«Ich habe eine
Zigarre geraucht.»
«Die Manneskraft
wird stärker.»
Heute würde ich
sagen, daß damals meine Revolte gegen die letzten Wahrheiten
begonnen hat. Prof. Loidl hatte für diese Entwicklung ein
feines Gespür, wie alle Glaubenswächter, und warnte mich.
Er erkannte meine Anlagen zum Ketzer.
Meine mystische Ader
als solche ist nie zum Gegenstand der Besorgnis von seiten der
Glaubenswächter geworden. Mystik ohne ketzerischen Einschlag
ist so ungefährlich wie die Gedichte von Rilke.
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Eine für die
Anfänger wichtige Unterscheidung ist die zwischen
Glaubenswächtern und Laien. Die Mystik ist nämlich eine
Laienangelegenheit; nur in seltenen Fällen haben sich
Glaubenswächter mystisch betätigt, wobei dann entweder das
Wächteramt oder die Mystik zu kurz gekommen ist. Ein berühmter
Mystiker aus dem Mittelalter, Meister Eckehart, gehörte als
Dominikanermönch zu den Glaubenswächtern. Aber seine
mystische Ader war stärker als seine Begabung zum
Glaubenswächter, und so geriet er in den Verdacht des
Häretischseins. Zu seinem Glück starb er vor seiner
offiziellen Verurteilung eines natürlichen Todes.
Für die
Glaubenswächter stellt die Mystik nicht selten eine
Geschäftsstörung dar. Sobald nämlich von seiten der
Mystik eine direkte Beziehung zwischen Gott und der Seele
hergestellt wird, ohne Vermittlungstätigkeit der amtlichen
Gnadenverwaltungen, müssen sich die Glaubensverwalter zur Wehr
setzen. Sie sagen dann zum Beispiel:
Außerhalb der
Kirche gibt es kein Heil!
Und so weiter.
Viele hundert Jahre
lang haben sich die Ketzer gegen die Bevormundung durch die
Glaubenswächter gewehrt, und viele von ihnen wurden deshalb
getötet.
Seit ich selbst kein
Glaubenswächter mehr bin, interessiere ich mich mehr für
die Ketzer als für die Glaubenswächter.
Meine
Laufbahn als Glaubenswächter wurde im Jahr 1973 beendet durch
die für mich zuständige Kirchenbehörde. Letztere hat
mir die kirchliche Lehrbefugnis entzogen, und seither gehöre
ich zu den Unbefugten. In meinem Buch
Tod und Teufel schrieb ich den Satz «Mit
sehr viel Glück findet sich der eine oder andere Befugte
gelegentlich bei den Unbefugten wieder.» Das Buch erschien
Anfang Mai 1973. Einen Monat später erhielt ich die amtliche
Benachrichtigung über den Entzug der kirchlichen Lehrbefugnis.
Weil ich selber 20
Jahre lang ein Glaubenswächter war, habe ich ein gewisses
Verständnis für die Probleme von Glaubenswächtern.
Ich stelle mir die kleinen Antennen in den Köpfen der
Glaubenswächter vor und bin froh darüber, daß meine
Antenne fast keine Signal mehr sendet.
Die meisten Anfänger
gehören irgendeiner Glaubensgemeinschaft an, und deshalb ist
die Frage nach ihrer Einstellung zu den Glaubenswächtern nicht
ganz unwichtig. Die Skala der in den Industriegesellschaften
vorhandenen Einstellungen zu den Glaubenswächtern reicht von
scharfer Ablehnung bis zu blinder Ergebenheit. In der Skalenmitte
befindet sich die Gleichgültigkeit. Sie dürfte am
häufigsten vorhanden sein. Die Art der Einstellung hängt
mit dem Grad der Beeinflussung durch die Glaubenswächter
zusammen. Wer einer starken erzieherischen Beeinflussung durch die
Glaubenswächter ausgesetzt war, neigt zu extremen
Einstellungen, sei es in positiv zustimmender oder negativ
ablehnender Weise.
Die Einstellung zu den
Glaubenswächtern kann sich im Lauf der Zeit sehr wohl ändern.
Als ich 20 Jahre alt war, befand ich mich im Zustand der Fügsamkeit
gegenüber den Glaubenswächtern. Mit 40 revoltierte ich
gegen sie. Heute würde ich meine Einstellung zu den
Glaubenswächtern als kritische Distanziertheit beschreiben.
Meinem Schulfreund
Fedor ist es ähnlich ergangen. Er hat in einem anderen
Glaubensdepot gearbeitet, in dem der kommunistischen Partei. Als die
Sowjetunion im Jahre 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierte,
verließ er die Partei..
Mein Rat für die
Anfänger:
Fügsamkeit
gegenüber Glaubenswächtern ist für die Mystik
schädlich.
Anmerkungen zu diesem Kapitel
Eine
kleine Antenne: Kurt Vonnegut Jr., The Sirens of Titan, New
York: Dell, 1971, Seite 97-105.
Mit
sehr viel Glück: Adolf Holl, Tod und Teufel, Stuttgart:
Deutsche Verlags-Anstalt, 1973, Seite 244.