Siebte Lektion

Das vierte, was die Anfänger verlernen müssen, ist die Neigung zur Idealisierung der Vergangenheit

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Die Anfänger erinnern sich vielleicht noch an die Frage (oben Nr.6):
Was fängt ein junger Mann mit antiken Geheimgefühlen an? Der junge Mann war ich.
Für meine antiken Gefühle hatte ich nach dem Verlassen des Priesterseminars wenig Zeit. Als Kaplan und Religionslehrer hatte ich einen 14-Stunden-Tag, sechsmal in der Woche. Um ein virtuoser Mystiker zu werden, braucht man Muße, und die hatte ich nicht.
Es blieb mir die Erinnerung an die nächtlichen Betrachtungsstunden in der Seminarkapelle. Sehnsucht, Wehmut und ein vorwurfsvolles Gefühl mischten sich in dieser Erinnerung - als ob ich eine Geliebte verlassen hätte. Ich dachte:
Damals war ich noch fromm.
Solche Gedanken waren ohne nennenswerte Konsequenz für meinen Alltag. Es handelte sich sozusagen um Luxusgefühle, bezogen auf meine eigene Vergangenheit, verbunden mit der vagen Trauer wie um einen erlittenen Verlust.
Hätte ich 150 Jahre früher gelebt, dann wären meine Wehmutsgefühle weitaus bedeutender gewesen. Sie hätten einer Gefühlsmode unter den damaligen Aristokraten und gebildeten Bürgerschichten entsprochen. Als verhinderter Mystiker hätte ich in den Salons der romantischen Ära eine gute Figur gemacht.
Mancher empfindsamen Dame hätte ich den mitfühlenden Seufzer entlockt: Ach, Sie Ärmster!
Und früher oder später hätte ich sicher den Rat erhalten:
Sie müssen unbedingt den Böhme lesen!
In den romantischen Salons waren die Schriften des Jakob Böhme (1575-1624) eine Pflichtlektüre.
Böhme war einer der letzten prominenten Mystiker im christlichen Abendland, und seine Schriften wurden auch in Holland, England und Frankreich gelesen - meist von jenen, die für die bestehenden Verhältnisse und gegen die Revolution waren. (William Blake gehört zu den Ausnahmen.) Die Revolution passierte trotzdem, zunächst einmal in Frankreich.
In Deutschland und Österreich passierte die Romantik, in den gebildeten Kreisen. In den Kriegsjahren zwischen 1792 und 1815 schwärmte man in den deutschen Provinzstädten für die Mystik.
Am 2. Dezember 1798 schrieb Friedrich Schlegel in einem Brief an Novalis: «Tieck studiert den Jakob Böhme mit großer Liebe. Er ist da gewiß auf dem rechten Wege.»
Napoleon befand sich zu dieser Zeit in Ägypten.
Kurz nach dem Staatsstreich Napoleons im November 1799 begann sich Novalis in die Werke Böhmes zu vertiefen. So geriet die Mystik unterm Kanonendonner des revolutionären Zeitalters in die gehobene Literatur, und dort hält sie sich bis heute gar nicht ungern auf.
Tieck befand sich, wie wir soeben vernommen haben, mit seinen Böhme-Studien auf dem rechten Wege. Auf diesem Wege zogen viele Mystikliebhaber dahin, deutsche Pietisten und französische Quietisten, Rosenkreuzer und Swedenborgianer.
Der linke Weg wurde von diesen «Stillen im Lande» (so nannte man sie damals) nicht betreten.
Die revolutionäre Mystik befand sich, mit dem Ende der Bauernkriege und der rebellischen Wiedertäuferei, auf dem weltgeschichtlichen Friedhof. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts liegt sie dort. Ob sie wohl von den Toten auferstehen wird?
Der gute alte Lavater (Johann Caspar, 1741-1801), hochberühmter Pfarrer an der Zürcher Peterskirche und Bahnbrecher der rechten Innerlichkeit, hätte diese Frage entrüstet verneint. Für ihn war die Religion die einzig wirksame Arznei gegen die Revolution. In der Kreisen der Mystikliebhaber, Okkultisten und Theosophen von damals war die Auffassung verbreitet. Man befand sich diesbezüglich, in den gehobenen Kreisen und unter dem Eindruck der Revolutionsarmeen, gewiß auf dem rechten Wege.
Diese Marschrichtung hat sich bis heute nicht geändert.
Was also fängt ein junger Mann mit antiken Geheimgefühlen an?
Man könnte ihm vorschlagen, Metaphysik zu studieren.
Eben dies habe ich getan. Zwischen der rechten Metaphysik und der rechten Mystik gibt es mannigfache Beziehungen, und mit einigem Geschick hätte ich der Gefahr des Häretischwerdens ausweichen können. Vielleicht hätte ich es, wie der Freiherr Johann Joseph vor Görres (1776-1848), zu einer Lehrkanzel gebracht.
Görres gilt als einer der geistigen Väter des gemäßigten Konservativismus der katholischen Zentrumspartei Deutschlands. Ihm verdanken wir die erste ausführliche Geschichte der christlichen Mystik in deutscher Sprache.
Görres schrieb seine vierbändige «Christliche Mystik» als eine Art geistiges Testament, am Ende seines Lebens. Als Görres geboren wurde, war der Gebrauch des Hauptwortes «Mystik» so gut wie unbekannt. (Der früheste wortgeschichtliche Nachweis darf um 1760 angesetzt werden.)
Die Anfänger werden gebeten, an dieser Stelle meiner Ausführungen das Wort «Mystik» langsam und andächtig auszusprechen. Es ist 200 Jahre alt. Name und Begriff entstammen der Romantik. Vorher gab es - seit den Zeiten Jakob Böhmes - den Gebrauch des Eigenschaftswortes «mystisch», als Übersetzung des lateinischen «mysticus».
Diese bescheidene Information habe ich in keiner Abhandlung der Mystikspezialisten finden können. Sie alle tun so, als ob «die Mystik» menschheitsalt wäre.
In Wirklichkeit ist sie die mehr oder weniger schwärmerische Aneignung antiker und mittelalterlicher Geheimgefühle von seiten romantischer Literaten und Gelehrter.
Daß meine Mystik unromantisch ist, habe ich bereits in der Einleitung angedeutet.

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Es wird höchste Zeit, daß ich den Anfängern die
Erste praktische Übung
empfehle. Sie ist leicht und kann in zwei bis drei Stunden absolviert werden - vorausgesetzt, man wohnt nicht allzu weit entfernt von einigen größeren Buchhandlungen. Berufstätige Anfänger werden für die Übung einen Samstagvormittag wählen, gelegentlich eines Stadtbummels. Jene Anfänger, die in ihrer Zeiteinteilung beweglicher sind (z. B. Hausfrauen, Schüler, Pensionäre), meiden tunlichst jene Zeiten, in denen die Buchhändler viel zu tun haben. Je leerer die Buchhandlung, desto besser die Voraussetzungen für die Übung. Alle Anfänger sollen wissen, daß die ungünstigste Zeit für unsere Übung die letzten 14 Tage vor Weihnachten sind. Während der Zeit des sogenannten Weihnachtsgeschäfts haben die Buchhändler meist viel zu tun und sind dann als notwendige Gesprächspartner weniger gut disponiert als beispielsweise im Hochsommer. Ein heißer Augustnachmittag oder ein trüber Februarvormittag sind für die Durenführung der Übung geradezu optimal.
Der Zweck der Übung besteht darin, den Anfängern eine grobe Orientierung über die Marktlage der mystischen Geisteswelt zu verschaffen.
Die Übung wird folgendermaßen durchgeführt:
Man betritt eine größere Buchhandlung, wendet sich an einen Verkäufer (eine Verkäuferin) und fragt:
Könnten Sie mir etwas über Mystik empfehlen?
Diese Frage wiederhole man in zwei oder drei anderen großen Buchhandlungen.
Wichtig ist, allen Gegenfragen des Verkaufspersonals auszuweichen. Wenn beispielsweise gefragt werden sollte, ob man sich für ein bestimmtes Gebiet der Mystik besonders interessiere, dann sage man:
Ich interessiere mich für alles, was irgendwie zur Mystik gehört.
Je unbestimmter die Anfänger ihre Wünsche formulieren, desto besser. Sollte der Buchhändler von sich aus bestimmte Sachgebiete zur Auswahl vorschlagen, dann zeige man sich mit allem einverstanden. Es kommt nämlich ausschließlich darauf an, die spontanen Assoziationen des Verkaufspersonals zum Wortsignal «Mystik» kennenzulernen. Sehr gut fährt man mit einem leicht gedehnt und fragend gesprochenen: Aha?
Nach dem Verlassen der Buchhandlung oder auch während des Besuches derselben notiere man sich alle Titel der vorgelegten oder empfohlenen Bücher. Auch die allfälligen Suchfragen seitens des Verkaufspersonals schreibe man sich auf.
Man braucht nichts zu kaufen.
Dann sortiere man das Material. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man ein kunterbuntes Gemisch aus Astrologie, Franz von Assisi, Teufelsglaube, fliegenden Untertassen, Okkultismus usw. vor sich haben.
Eine «Wunderwelt an den Grenzen unseres Wissens» - wie der Untertitel einer einschlägigen Zeitschrift lautet.
Aus derselben Zeitschrift (Esotera, Juni 1975) sei eine Kleinanzeige aus der Rubrik «Bekanntschaften» zitiert:
«Bin 32 J., schl., romantisch. Interessen: Reisen, Lesen, Buddhismus, Meditation, wünsche gleichgesinnten Geistfreund kennenzulernen zwecks gem. geist. Höherentwicklg. d. Yoga. Alter unwichtig. Garten erwünscht. Frdl. Zuschr. unter ... an die Redakt.»
Zum Abschluß der Übung sei empfohlen, sich in die schlanke, romantische Anfängerin ein wenig hineinzudenken. Welche Art von Beruf sie wohl ausüben mag? Wie sie die Abende und die Wochenenden verbringt. Warum sie Sehnsucht nach einem Garten hat. Weshalb ihr das Alter des gesuchten Geistfreundes gleichgültig ist. Warum sie nicht einfach schreibt: Ich bin so allein.

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Hier ist meine Interpretation der soeben zitierten Suchanzeige:
Die schlanke Romantikerin wehrt sich mit ihren Interessen (Reisen, Lesen, Buddhismus, Meditation) gegen die sachliche Eintönigkeit ihrer trivialen Lebensumstände. Sie sucht eine Außeralltäglichkeit - in fremden Ländern, ungewöhnlichen Seelenzuständen, neuen Gefühlen. Ihre Wertschätzung des Geistigen («geistige Höherentwicklung», «Geistfreund») deutet auf eine enttäuschte Sinnlichkeit. Letztere regt sich im Wunsch nach einem Garten, nach kultivierter Natur; Blumen und Bäume werden ihr nicht weh tun können. Dort möchte sie sein, entzogen dem aggressiven Wettbewerb der Arbeitswelt und Liebesleistung, an der Seite eines freundlichen Herrn, der darf älter sein als sie selbst.
In der nonnenhaften Gedämpftheit dieser Wunschinhalte ist das Bedürfnis nach Ruhe, Einkehr, Statik unüberhörbar. Die Motorik, sublimiert genug, meldet sich in der Reiselust und im Hinaufwollen der «Höherentwicklung».
Daß unsere Romantikerin tagsüber an einem Fließband arbeitet, ist unwahrscheinlich. Eher darf man in ihr eine Arztgehilfin, Lehrerin, Sekretärin, Telefonistin vermuten. Es ist anzunehmen, daß sie politisch enthaltsam ist und bei Wahlen konservative oder liberale Parteien bevorzugt.
Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie am Badestrand einen Bikini trägt. Sie gehört zu den Stillen im Lande.
Die Anfänger mögen sich fragen:
Kann ihr geholfen werden?

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Ich habe die schlanke Romantikerin erstens deshalb herausgegriffen, weil sie unter den Anfängern durchaus kein Einzelfall ist. An ihr und an ihrer Lage läßt sich manches verdeutlichen, was nicht nur für sie von Belang ist.
Zweitens wurde sie von mir zitiert, weil sie für mich ein Problem darstellt.
Nehmen wir an, sie findet keinen gleichgesinnten Geistfreund und bleibt mit dem Buddhismus usw. allein.
Helfe ich ihr mit meinem Unterrichtsprogramm, wie es in der ersten Lektion erläutert wurde? Raube ich ihr nicht auch noch jene Illusionen, ohne die sie vielleicht nicht leben kann?
Nützt es ihr, wenn ich ihr erkläre, daß ihre Gefühle keine Originalgefühle sind, sondern Gefühle aus zweiter, dritter oder vierter Hand, übertragene Gefühle sozusagen, Romanhaftigkeiten, Versatzstücke aus der kulturellen Pfandleihe, Antiquitäten aus der romantischen Ära? Mache ich ihr Leben durch solche Hinweise erträglicher?
Eines ist sicher: Mein Buch kann ihr weder den Geistfreund noch den erwünschten Garten ersetzen.
Aber vielleicht macht ihr die Art meines Schreibens dazu Mut, die interessierten Blicke eines (vielleicht gleichgesinnten und daher schüchternen) Herrn während eines Vortrags über Telepathie mutiger zu erwidern, als sie es gewohnt ist. Vielleicht faßt dann der betreffende Herr sich ein Herz und spricht sie an nach dem Vortrag und sie wendet sich nicht ab und geht mit dem Herrn ein Glas Wein trinken und trifft sich in der Folge öfter mit ihm.
Vielleicht hat der betreffende Herr sogar einen schönen Garten.
Wenn dann die beiden im Garten sitzen und der betreffende Herr greift das erste Mal schüchtern nach der Hand der Romantikerin, dann kommt für einen Augenblick meine Mystik ins Spiel.
Für telepathische Phänomene und sonstige Wunderwelten an den Grenzen unseres Wissens besteht dann bis auf weiteres kein gesteigerter Bedarf; sie sind dann - allenfalls - Gesprächsgegenstände zwischen der Romantikerin und dem gleichgesinnten Herrn. Nicht aber Ersatz für ein nicht gelebtes Leben.

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Daß im Kopf der schlanken Geistfreundin auch Fernöstliches (Buddhismus, Yoga, Meditation) anzutreffen ist, als kulturelles Interesse, verdankt sie der Romantik. Ihr Entschluß, sich in der Suchanzeige als «romantisch » zu bezeichnen, ist berechtigt.
Religions- und Mythengeschichte, als wissenschaftliche Disziplinen, wurden (neben der Germanistik, der Literaturwissenschaft, der Rechtsgeschichte, der Romanistik und der Volkskunde) in der Romantik begründet. Diese Information kann man jedem Konversationslexikon entnehmen, unter dem Stichwort «Romantik».
In meinem Konversationslexikon (Brockhaus) findet sich ein nützlicher Hinweis auf die Seelenverfassung jener gelehrten Männer, deren Forschungen den Buddhismus in die bürgerlichen Haushalte brachten (neben den Volksmärchen der Gebrüder Grimm, der Übersetzungen Shakespeares, den Reiseführern für die Flitterwochen in Venedig). Der nützliche Hinweis lautet folgendermaßen:
«Ihr sensibles Einfühlungsvermögen sowie das Ungenügen an der Gegenwart verwies sie in die Geschichte und ließ sie das Vollkommene nicht in der Zukunft, sondern in einer poetisch verklärten Vergangenheit suchen.»
Der Baustil jener Ära war neben anderen Nachempfindungen alter Stilformen - die Neu-Gotik.
Der Präfekt von Paris, Graf Rambuteau, ließ Anfang 1845 den Baumeister Franz Christian Gau kommen und lud ihn ein, im Viertel zwischen dem Boulevard St. Germain und dem Hotel des Invalides eine neue Kirche zu bauen.
«Aber etwas anderes als Griechisch oder Römisch», sagte der Graf.
Die Antwort des Architekten: «Ich bin entzückt, Herr Präfekt, von unserer Übereinstimmung. Ich möchte auf der Place Bellechasse eine gotische Kirche bauen.»
Der Präfekt war einverstanden, und am 30. November 1857 wurde die Kirche auf den Namen der heiligen Clothilde geweiht. Die Academie Francaise hatte gegen die Verwendung des gotischen Stils scharf (und vergeblich) in einem langen Gutachten protestiert. Dessen Verfasser, Desire' Raoul-Rochette (Literat und Archäologe), hielt den Bewunderern der Gotik entgegen, daß diese Baukunst nicht mehr den wissenschaftlichen Grundsätzen der modernen Architektur entspräche. Diejenigen, so der Gutachter, die sich in den gotischen Kirchen «von frommer Träumerei und einer mystischen Verfassung» ergreifen ließen, sollten nicht vergessen, daß ein modernes öffentliches Gebäude zuerst einmal «solide» zu sein habe.
Moderne Bauwissenschaft gegen romantische Träumerei.
Mystische Gefühle gehören, nach Ansicht der Academie Franaise, in die original gotischen Kirchen.
Ein bedenkenswerter Standpunkt.
Im Jahr 1845, in der Architektur-Ära des sogenannten Historismus, hat er sich nicht durchzusetzen vermocht. Heute, im Zeitalter es Betons und der Sachlichkeit, hat die Auffassung der Academie gesiegt. Neugotische Kirchen werden nicht mehr gebaut.
Dem Historismus der Baukunst entsprach das Interesse der romanischen «Geisteswissenschaften» (der Ausdruck entstammt ebenfalls jener Zeit) für allerlei Altes und Fernes. Man übersetzte Sanskrittexte, Hieroglyphen und germanische Altertümer In der ersten Begeisterung überschritt mancher Gelehrte die Grenzen zur Poesie; die Schriftsteller begannen historische Romane zu schreiben.
So ist das entstanden, was die Anfänger auf ihren Zettelchen finden, wenn sie die erste praktische Übung absolviert haben: ein reicher Schatz von mehr oder weniger poetisch verklärten Vergangenheiten, quer durch Zeiten und Räume. Pharaonen und Alchimisten, Päpste und Tempeldirnen, afrikanische Zauberer und römische Staatsmänner, Mönche und Zigeuner, dieses und jenes, alles und nichts.
Nach 1830 begann sich das Lesepublikum rapide zu vermehren. Konversationslexika, Zeitschriften und Zeitungen wurden in rasch steigenden Auflagenhöhen verbreitet und zielten nicht mehr, wie noch am Beginn des Jahrhunderts, in das Spannungsfeld zwischen Hof und höherem Bildungsbürgertum. Vielmehr richtete sich das Gedruckte zunehmend an alle Bürger, und die staatliche Zensur kam dagegen nicht an.
Die Haltung, die der Leser gegenüber dem Vergangenheitsfundus einzunehmen lernte, wurde «Interesse» genannt. Die Kategorie des Interessanten stammt aus dem 19. Jahrhundert. Daß jemand, wie unsere schlanke Romantikerin, überhaupt «Interessen» hat, ist der Romantik zu verdanken.
So entstand ein neuer Typ Mensch, den hatte es in dieser Auflagenhöhe und Qualität noch nie gegeben. Wir nennen ihn: Den Kulturmenschen.
Er sitzt in Konzerten, besichtigt Ausstellungen und Museen, geht mit dem Reiseführer in der Hand durch fremde Städte. (Auch der Reiseverkehr ist ein Kind des 19. Jhdts.)
Die Anfänger sollen wissen, daß sie Kulturmenschen sind, daß ihr Interesse für «die Mystik» ein Kulturprodukt des 19. Jahrhunderts ist, wie die Denkmalpflege und die Eisenbahn. Meine Mutter war auch ein Kulturmensch, sie ist in Konzerte und in die Oper gegangen, und - einmal in ihrem Leben - hat sie eine zehntägige Italienreise gemacht (Rom, Padua, Venedig). Das war 1950, und ein Foto von damals zeigt sie auf dem Markusplatz, mit vergnügtem Gesichtsausdruck. Sie hat einen Feldstecher um den Hals und schaut munter in die Welt. Das Foto hat mein Onkel Franz gemacht. Die beiden sind mit einem Pilgerzug gereist, und sie haben jeden Tag genossen. Vom vielen Herumgehen taten meiner Mutter abends die Füße weh, und dann verschaffte sie ihnen Erleichterung durch ein Bad in kaltem Wasser.
Was meiner Mutter abging, war der Sinn für Romantik.
Ich halte das für keinen schweren Fehler.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Schlegel an Novalis: Vgl. Gerhard Wehr, Jakob Böhme, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1971, Seite 128.

  2. Der Zweck der Übung: Für gründliche Anfänger mit sehr viel Freizeil kann die Übung beliebig erweitert werden. Man begebe sich in die nächste öffentliche Bibliothek und beginne mit der Lektüre des Stichwortes «Mystik» in einem der theologischen Fachlexika (der Bibliothekar wird gerne behilflich sein). Am Ende des Artikels wird man ein Literaturverzeichnis finden. Jedes der dort angeführten Bücher nofiere man auf einen kleinen Zettel. Dann suche man in der Stichwortkartei dei Bibliothek alle dort unter «Mystik» angegebenen Titel und notiere sie ebenfalls. Falls in der Bibliothek eine Fachzeitschrift für mystische Theologie eingestellt ist, blättere man die letzten zehn Jahrgänge dieser Zeitschrift durch und notiere alle darin angeführten Neuerscheinungen Auf diese Weise wird man ziemlich rasch auf 50 oder 100 Zettel kom men, womit ein erster Überblick über die wissenschaftliche Mystikliteratur gewonnen ist. Sollte man der Versuchung nicht widerstehen können, sich in diese Literatur ein wenig einzulesen, dann beginne man mit R. C Zaehner, Mystik religiös und profan, Stuttgart: Klett, 1957.

  3. Ihr sensibles Einfühlungsvermögen: dtv-Lexikon, Band 15. München Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969, Seite 234.

  4. Der Präfekt von Paris: Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Band 15. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1971, Seite 182.

  5. Der Gutachter: a. a. O.187.

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