Erste Lektion

Das erste, was die Anfänger verlernen müssen, ist das Fasziniertsein vom Pompösen, Gewaltigen, Bedeutenden und so weiter

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Ich sage absichtlich «verlernen».

In diesem Buch bin ich nämlich unter anderem bemüht, die Köpfe der Anfänger von überflüssigen und hinderlichen Bildungsinhalten zu befreien. Ein Lehrer, der leer macht.
Ein Leerer.
In der klassischen Mystik des europäischen Mittelalters wird dieser Prozeß «Reinigung» genannt.
Leser meiner früher erschienenen Bücher werden mir bestätigen, daß ich vorm Entrümpeln keine Angst habe. Deshalb habe ich auch öfter hören und lesen müssen, ich ließe in meinen Schriften das Positive vermissen - sozusagen die neuen Möbel, die in die leergeräumte Wohnung gestellt werden.
Eine typische Anfängerreaktion. Sie entspringt der Angst vor dem Leerwerden.
Nur keine Angst! Ich räume keineswegs das ganze Dachstübchen aus.
Bezüglich der Faszination vom Bedeutenden usw. muß ich jedoch unerbittlich sein. Deshalb habe ich mein Buch auch mit Erinnerungen an meine Mutter angefangen. Meine Mutter war unbedeutend.
Alles, was in den Geschichtsbüchern fett gedruckt ist: uninteressant für die Mystik. Alexander der Große, Konstantin der Große, Friedrich der Große - weg mit ihnen. In meiner Mystik ist nicht einmal Gott groß.
Der bewundernde Blick in die Höhe, zu den Geistesriesen, Kapazitäten, Pyramiden, Domspitzen, Wolkenkratzern usw. muß «umgebrochen» werden. Dieser Ausdruck stammt von Ernst Bloch, und ich darf die entsprechende Stelle (aus dem «Prinzip Hoffnung») zitieren:
«Zu einem Kind, das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden. »
Die Bewegungsrichtung für die zu erzeugende Achtsamkeit ist damit folgendermaßen bestimmt:
Nähe (und nicht: Ferne)
Niedrigkeit (und nicht: Größe)
Heimlichkeit (und nicht: Unheimlichkeit).
Das ist die Bewegungsrichtung der Bibel, jedenfalls in ihren für mich wichtigen Partien.
Ein Zug nach unten, zum Unscheinbaren, Geringfügigen.
Ein kleines Land zwischen den hochkulturellen Machtblöcken Ägyptens und Mesopotamiens, kaum erwähnt in deren Chroniken:
Israel.
Und dann der «wahre Israelit», Jesus aus Nazareth, dessen kurzer Lebenslauf in den damaligen Zentren des kulturellen und politischen Lebens ganz einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ein unbedeutender Schwärmer unter kleinen Leuten, am Rand des Imperiums.
Achtung, jetzt kommt ein Gedankensprung.
Ich springe aus dem Jahr 30 nach Christi Geburt in das Jahr 1939 nach Christi Geburt. (Solche Sprünge sind von mir kalkuliert, sie gehören zur Unterrichtstechnik, und ich werde sie nicht immer eigens ankündigen.)
Im Jahr 1939, während der Ferien, wohnte ich bei meiner Tante Rosa in Salzburg. Die Wohnung befand sich in der Wolf-Dietrich-Straße und bestand aus Zimmer, Küche und Kabinett. Ganz in der Nähe dieser Wohnung, in der Linzergasse, war das Geschäft der Tante Rosa. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Lotto-Kollektur. Ein kleines Gassenlokal, in welchem man die Einsätze für das «Kleine Lotto» - die staatliche Nummern-Lotterie - tätigen konnte. Im kleinen Lotto sind Einsätze und Gewinne verhältnismäßig geringfügig. Die Ziehung erfolgt wöchentlich. Welche Nummern man setzt, hängt unter anderem von den Träumen ab. Bestimmte Trauminhalte sind aufgrund einer uralten Überlieferung mit gewissen Zahlen verbunden, und die Tante Rosa wußte selbstverständlich in diesen Dingen Bescheid. Es gab ferner einen Behälter mit kleinen Holzplättchen, auf welchen die Zahlen von 1-90 standen. Wer sich über die zu setzenden Nummern nicht klarwerden konnte, zog aus dem Behälter die nötigen Zahlen.
Meine Tante Rosa war außerdem Adventistin, was im katholischen Salzburg nicht eben häufig vorkommt.
Den Morgenkaffee bereitete die Tante Rosa auf einem Spirituskocher. Heute werden solche Kocher im Haushalt kaum mehr verwendet; auf Campingplätzen kann man sie jedoch noch antreffen.
Ich erinnere mich an eine Morgenstunde in der Wohnung der Tante Rosa. Die Sonne schien und warf schräge Schatten in die Wolf-Dietrich-Straße. Ich stand am offenen Fenster, und der Geruch der frischen Luft vermischte sich in meiner Nase mit dem des Spirituskochers und dem Aroma des Kaffees.
In diesem Augenblick fühlte ich mich glücklich, und das ist der Grund, warum ich mich an ihn erinnere. Ich war neun Jahre alt.
Heute würde ich sagen: Ich hatte damals mein erstes mystisches Erlebnis.
darf ich bitten, den theologischen Stellenwert dieser kleinen Erinnerung zu beachten?
Größe und Dauer, die immer noch wichtigsten theologischen Kategorien, kommen in dieser Erinnerung nicht vor. Bestimmend sind vielmehr: Kleinigkeit und Flüchtigkeit.
In ihnen blüht für mich die lebendige Blume. Die geheimnisvolle Rose: rosa mystica.
Ferner ist anzumerken, daß der besondere Duft jener Morgenstunde selbstverständlich für mich allein da war. Weder weiß ich, warum jener Augenblick für mich zu einem glückhaften wurde, noch kann ich dieses Glücksgefühl anderen Menschen vermitteln. Nicht einmal für mich ist es wiederholbar.
Ich kann lediglich davon erzählen, und andere Menschen werden beim Lesen vielleicht angeregt, sich ihrer eigenen (vergessenen) mystischen Augenblicke zu erinnern.
Diese Vorgangsweise gehört ebenfalls zu meiner Unterrichtsmethode. Die meisten mir bekannten Mystikbücher gehen von der folgenden Voraussetzung aus: Die Leser verstehen von Mystik überhaupt nichts, und anhand von Berichten über bedeutende Mystiker und Mystikerinnen werden sie über das Wesen der Mystik unterrichtet.
Das ist falsch.
Ich glaube, daß jedermann seine kleinen mystischen erfahrungen mit sich herumträgt - allerdings sind diese meist verschüttet und vergessen.
Meine Aufgabe besteht darin, solche Vergeßlichkeiten aufzubrechen.
Zu diesem Zweck muß ich als Kulturkämpfer auftreten.
Das ist eine ziemlich komische Rolle, und ich darf sie erklären.
Vom zartesten Kindesalter an gibt es in unserem Leben die belehrenden Zeigefinger. Sie weisen auf allerlei Bedeutendes, Großartiges, Gewaltiges. Sie wollen in uns Respekt, Ehrfurcht, Bewunderung erzeugen, in jedem einzelnen Fachgebiet, von der Religion bis zur Mathematik.
Nach acht oder zwölf Schuljahren ist dann die Kategorie der Bedeutsamkeit fest verankert:
Ein Millionär ist bedeutender als ein Altersrentner. Ein Fußballstar wichtiger als ein Postbote. Eine Schlagersängerin faszinierender als eine Friseuse.
Und so weiter.
Das ist schlecht für die Mystik, deren Blumen im verborgenen blühen.
Komisch ist meine Rolle deshalb, weil ich mit meiner Mystik auf völlig verlorenem Posten stehe. Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Politik, Wirtschaft - alle diese höheren Wesen werden von Bedeutsamkeit getragen. Und ich schlage vor, ausgerechnet dem Unbedeutenden und Unscheinbaren die Aufmerksamkeit zuzuwenden!
Eine komische Rolle, wie gesagt.
Meine einzige Chance, ein Publikum zu finden, liegt in den gelegentlichen Anwandlungen von Langeweile bei eben diesem Publikum. Es gibt Menschen, die trotz ihrem mit Bedeutsamkeiten angefüllten Kopf die Frage stellen: Was ist der Sinn des Lebens?
Das ist der Augenblick für meinen Auftritt.
Ich zaubere dann das längst Vergessene hervor, das von Geschichtsprofessoren und Theologen mehr oder weniger absichtlich Vergessene, Beiseitegeschobene, Unterdrückte, Ketzerische, Seltsame, Wunderliche.
Zum Beispiel meine Tante Rosa, die Adventistin mit ihrer Lottokollektur.
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