Erste
Lektion
Das erste, was die
Anfänger verlernen müssen, ist das Fasziniertsein vom
Pompösen, Gewaltigen, Bedeutenden und so weiter
- 1
- Ich sage
absichtlich «verlernen».
- In diesem Buch bin ich
nämlich unter anderem bemüht, die Köpfe der Anfänger
von überflüssigen und hinderlichen Bildungsinhalten zu
befreien. Ein Lehrer, der leer macht.
- Ein Leerer.
- In der klassischen
Mystik des europäischen Mittelalters wird dieser Prozeß
«Reinigung» genannt.
- Leser meiner früher
erschienenen Bücher werden mir bestätigen, daß ich
vorm Entrümpeln keine Angst habe. Deshalb habe ich auch öfter
hören und lesen müssen, ich ließe in meinen
Schriften das Positive vermissen - sozusagen die neuen Möbel,
die in die leergeräumte Wohnung gestellt werden.
- Eine typische
Anfängerreaktion. Sie entspringt der Angst vor dem Leerwerden.
- Nur keine Angst! Ich
räume keineswegs das ganze Dachstübchen aus.
- Bezüglich der
Faszination vom Bedeutenden usw. muß ich jedoch unerbittlich
sein. Deshalb habe ich mein Buch auch mit Erinnerungen an meine
Mutter angefangen. Meine Mutter war unbedeutend.
- Alles, was in den
Geschichtsbüchern fett gedruckt ist: uninteressant für die
Mystik. Alexander der Große, Konstantin der Große,
Friedrich der Große - weg mit ihnen. In meiner Mystik ist
nicht einmal Gott groß.
- Der bewundernde Blick
in die Höhe, zu den Geistesriesen, Kapazitäten, Pyramiden,
Domspitzen, Wolkenkratzern usw. muß «umgebrochen»
werden. Dieser Ausdruck stammt von Ernst Bloch, und ich darf die
entsprechende Stelle (aus dem «Prinzip Hoffnung»)
zitieren:
- «Zu einem Kind,
das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger,
heimlicher kann kein Blick in die Höhe umgebrochen werden. »
- Die Bewegungsrichtung
für die zu erzeugende Achtsamkeit ist damit folgendermaßen
bestimmt:
- Nähe (und
nicht: Ferne)
- Niedrigkeit (und
nicht: Größe)
- Heimlichkeit (und
nicht: Unheimlichkeit).
- Das ist die
Bewegungsrichtung der Bibel, jedenfalls in ihren für mich
wichtigen Partien.
- Ein Zug nach unten,
zum Unscheinbaren, Geringfügigen.
- Ein kleines Land
zwischen den hochkulturellen Machtblöcken Ägyptens und
Mesopotamiens, kaum erwähnt in deren Chroniken:
- Israel.
- Und dann der «wahre
Israelit», Jesus aus Nazareth, dessen kurzer Lebenslauf in den
damaligen Zentren des kulturellen und politischen Lebens ganz
einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde. Ein unbedeutender
Schwärmer unter kleinen Leuten, am Rand des Imperiums.
- Achtung, jetzt kommt
ein Gedankensprung.
- Ich springe aus dem
Jahr 30 nach Christi Geburt in das Jahr 1939 nach Christi Geburt.
(Solche Sprünge sind von mir kalkuliert, sie gehören zur
Unterrichtstechnik, und ich werde sie nicht immer eigens
ankündigen.)
- Im Jahr 1939, während
der Ferien, wohnte ich bei meiner Tante Rosa in Salzburg. Die
Wohnung befand sich in der Wolf-Dietrich-Straße und bestand
aus Zimmer, Küche und Kabinett. Ganz in der Nähe dieser
Wohnung, in der Linzergasse, war das Geschäft der Tante Rosa.
Es handelte sich dabei um eine sogenannte Lotto-Kollektur. Ein
kleines Gassenlokal, in welchem man die Einsätze für das
«Kleine Lotto» - die staatliche Nummern-Lotterie -
tätigen konnte. Im kleinen Lotto sind Einsätze und Gewinne
verhältnismäßig geringfügig. Die Ziehung
erfolgt wöchentlich. Welche Nummern man setzt, hängt unter
anderem von den Träumen ab. Bestimmte Trauminhalte sind
aufgrund einer uralten Überlieferung mit gewissen Zahlen
verbunden, und die Tante Rosa wußte selbstverständlich in
diesen Dingen Bescheid. Es gab ferner einen Behälter mit
kleinen Holzplättchen, auf welchen die Zahlen von 1-90 standen.
Wer sich über die zu setzenden Nummern nicht klarwerden konnte,
zog aus dem Behälter die nötigen Zahlen.
- Meine Tante Rosa war
außerdem Adventistin, was im katholischen Salzburg nicht eben
häufig vorkommt.
- Den Morgenkaffee
bereitete die Tante Rosa auf einem Spirituskocher. Heute werden
solche Kocher im Haushalt kaum mehr verwendet; auf Campingplätzen
kann man sie jedoch noch antreffen.
- Ich erinnere mich an
eine Morgenstunde in der Wohnung der Tante Rosa. Die Sonne schien
und warf schräge Schatten in die Wolf-Dietrich-Straße.
Ich stand am offenen Fenster, und der Geruch der frischen Luft
vermischte sich in meiner Nase mit dem des Spirituskochers und dem
Aroma des Kaffees.
- In diesem Augenblick
fühlte ich mich glücklich, und das ist der Grund, warum
ich mich an ihn erinnere. Ich war neun Jahre alt.
- Heute würde ich
sagen: Ich hatte damals mein erstes mystisches Erlebnis.
- darf ich bitten, den
theologischen Stellenwert dieser kleinen Erinnerung zu beachten?
- Größe und
Dauer, die immer noch wichtigsten theologischen Kategorien, kommen
in dieser Erinnerung nicht vor. Bestimmend sind vielmehr:
Kleinigkeit und Flüchtigkeit.
- In ihnen blüht
für mich die lebendige Blume. Die geheimnisvolle Rose: rosa
mystica.
- Ferner ist anzumerken,
daß der besondere Duft jener Morgenstunde selbstverständlich
für mich allein da war. Weder weiß ich, warum jener
Augenblick für mich zu einem glückhaften wurde, noch kann
ich dieses Glücksgefühl anderen Menschen vermitteln. Nicht
einmal für mich ist es wiederholbar.
- Ich kann lediglich
davon erzählen, und andere Menschen werden beim Lesen
vielleicht angeregt, sich ihrer eigenen (vergessenen) mystischen
Augenblicke zu erinnern.
- Diese Vorgangsweise
gehört ebenfalls zu meiner Unterrichtsmethode. Die meisten mir
bekannten Mystikbücher gehen von der folgenden Voraussetzung
aus: Die Leser verstehen von Mystik überhaupt nichts, und
anhand von Berichten über bedeutende Mystiker und Mystikerinnen
werden sie über das Wesen der Mystik unterrichtet.
- Das ist falsch.
- Ich glaube, daß
jedermann seine kleinen mystischen erfahrungen mit sich herumträgt
- allerdings sind diese meist verschüttet und vergessen.
- Meine Aufgabe besteht
darin, solche Vergeßlichkeiten aufzubrechen.
- Zu diesem Zweck muß
ich als Kulturkämpfer auftreten.
- Das ist eine ziemlich
komische Rolle, und ich darf sie erklären.
- Vom zartesten
Kindesalter an gibt es in unserem Leben die belehrenden Zeigefinger.
Sie weisen auf allerlei Bedeutendes, Großartiges, Gewaltiges.
Sie wollen in uns Respekt, Ehrfurcht, Bewunderung erzeugen, in jedem
einzelnen Fachgebiet, von der Religion bis zur Mathematik.
- Nach acht oder zwölf
Schuljahren ist dann die Kategorie der Bedeutsamkeit fest verankert:
- Ein Millionär ist
bedeutender als ein Altersrentner. Ein Fußballstar wichtiger
als ein Postbote. Eine Schlagersängerin faszinierender als eine
Friseuse.
- Und so weiter.
- Das ist schlecht für
die Mystik, deren Blumen im verborgenen blühen.
- Komisch ist meine
Rolle deshalb, weil ich mit meiner Mystik auf völlig verlorenem
Posten stehe. Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Politik,
Wirtschaft - alle diese höheren Wesen werden von Bedeutsamkeit
getragen. Und ich schlage vor, ausgerechnet dem Unbedeutenden und
Unscheinbaren die Aufmerksamkeit zuzuwenden!
- Eine komische Rolle,
wie gesagt.
- Meine einzige Chance,
ein Publikum zu finden, liegt in den gelegentlichen Anwandlungen von
Langeweile bei eben diesem Publikum. Es gibt Menschen, die trotz
ihrem mit Bedeutsamkeiten angefüllten Kopf die Frage stellen:
Was ist der Sinn des Lebens?
- Das ist der Augenblick
für meinen Auftritt.
- Ich zaubere dann das
längst Vergessene hervor, das von Geschichtsprofessoren und
Theologen mehr oder weniger absichtlich Vergessene,
Beiseitegeschobene, Unterdrückte, Ketzerische, Seltsame,
Wunderliche.
- Zum Beispiel meine
Tante Rosa, die Adventistin mit ihrer Lottokollektur.