Zweite Lektion

Das erste, was die Anfänger lernen müssen, ist Rücksichtslosigkeit

2
Das bedeutet: Eintretendenfalls das gerade Gegenteil von dem tun, was die Umgebung für richtig hält.
Ich bin mir durchaus bewußt, was für einen gefährlichen Ratschlag ich hiermit erteile. Verbrecher und Narren können sich auf ihn ebenso berufen wie Heilige und Genies.
Aber die Mystik ist nun einmal eine gefährliche Angelegenheit, und jeder, der sich mit ihr einläßt, muß eindringlich gewarnt werden. Er (oder sie) begibt sich in eine sehr fragwürdige Gesellschaft, wenn er (oder sie) sich für Mystik interessiert. Schon hinter der nächsten Ecke steht beispielsweise Charles Manson, ein äußerst wilder kalifornischer Mystiker. Es ist noch gar nicht so lange her, daß Manson und seine Familie die Polizei beschäftigt haben, und der Staatsanwalt mußte sich eingehend mit dem letzten Buch der Bibel befassen, mit der Apokalypse, zum Zwecke der Aufhellung des Seelenlebens von Manson.
Charles Manson sitzt derzeit im Gefängnis.
Hinter einer anderen Ecke lauert Timothy Leary, vormals Drogenpapst. Auch diese mystische Karriere ist nicht gerade glanzvoll verlaufen. Es gab Höhepunkte, gewiß; eine Zeitlang hatte Leary einen hohen Nachrichtenwert, bewegte sich in den abenteuerlichsten Kreisen, hatte viel Geld und viele Schulden, wurde von der Geheimpolizei verfolgt. Nach seiner letzten Verhaftung aber ist es still geworden um Leary, und die Drogenszene ist um eine Hoffnung ärmer.
Trotzdem: Charles Manson und Timothy Leary waren beide rücksichtslos, jeder auf seine Weise.
Also Vorsicht!
Die Mystik kann sehr gefährlich sein.
Auch meine Tante Rosa war rücksichtslos, auf ihre Weise. Ihr Entschluß, zu den Adventisten zu gehen, im katholischen Salzburg, ist weitaus weniger spektakulär als die Unternehmungen des Charles Manson oder der Ulrike Meinhof.
Immerhin: Meine Tante Rosa hatte ihre Lottokollektur. Als kleine Geschäftsfrau hatte sie darauf zu achten, ein angepaßtes und unauffälliges Benehmen an den Tag zu legen. Außenseiterei ist schlecht für den Geschäftsgang. Eine Adventistin in Salzburg wirkt wie eine Giraffe in Grönland: falsch am Platz. Nicht, daß die Salzburger besonders fromme Katholiken wären. Aber das Katholischsein gehört in Salzburg zu den Selbstverständlichkeiten, und die Heftigkeit der adventistischen Hoffnung auf den Jüngsten Tag erweckt beim katholischen Salzburger einen absonderlichen Eindruck. Meine Tante Rosa hat daher ihr adventistisches Privatleben nie an die große Glocke gehängt, sie war diesbezüglich vorsichtig.
Aber sie wurde Adventistin. Eine sogenannte Sektiererin.
Die landläufige und etablierte Religion setzt sich gegen abweichlerische Gruppen zunächst einmal mit Hilfe abschätziger Vokabeln zur Wehr. Das Wort «Sekte» ist solch eine abschätzige Bezeichnung. Gleichzeitig gilt, daß die Mystik - solange sie geblüht hat - immer unter den Randgruppen geblüht hat, im alten römischen Imperium, im deutschen Mittelalter, im heutigen Kalifornien.
Meine Tante Rosa kam zwar nie ins Gefängnis wegen ihrer adventistischen Überzeugungen. Aber mit dem Stigma der Absonderlichkeit hatte sie durchaus zu leben, zur Strafe für ihre bescheidene Rücksichtslosigkeit.
Ein Bravo für meine Tante Rosa.
Die Anfänger werden hiermit gebeten, in ihrem Leben die eine oder andere kleine Weigerung ausfindig zu machen.
Ich sage absichtlich «kleine» Weigerung, und nicht «große» Weigerung wie Herbert Marcuse das tun würde. Herbert Marcuse ist ein berühmter Philosoph und hat den Ausdruck von der großen Weigerung geprägt.
Viele kleine Weigerungen sind meiner Ansicht nach besser als wenige große Weigerungen.
Ich bin schon zufrieden, wenn jemand einmal die Schule geschwänzt hat.
Irgendeine kleine Weigerung ist eine unerläßliche Aufnahmebedingung für die Mystik.

3
Meine verstorbene Tante Rosa Dojacek aus Salzburg und der inhaftierte Charles Manson aus Kalifornien haben - bei allen sonstigen Unterschieden - ein gemeinsames Merkmal: Beide glaubten sie -wenn auch in verschiedener Weise - an einen nahe bevorstehenden katastrophalen Zusammenbruch des gegenwärtigen Weltsystems inklusive anschließender Neuordnung der Dinge.
Was Charles Manson jetzt glaubt, weiß ich nicht.
Zur Zeit der Ermordung von Sharon Tate (1969) glaubte er der fünfte Engel aus dem 9. Kapitel der Apokalypse zu sein. Zu einer solchen Behauptung würde sich meine Tante Rosa nie verstiegen haben. Aber auch für sie war die Apokalypse das wichtigste Buch der Bibel, und der baldige Weltuntergang stand für sie fest, sowie für alle Adventisten.
Im übrigen stand der baldige Weltuntergang auch für Jesus Christus fest. Seine Sprüche zu diesem Thema sind zahlreich. Die Tante Rosa kannte sie alle auswendig.
Wenn ich das in meinem Besitz befindliche Foto meiner Tante Rosa betrachte, dann werde ich an einen Vogel erinnert. Auf dem Foto steht sie ganz allein vor einer Mauer des Mirabell-Gartens in Salzburg, im Sonnenlicht. Sie ist klein von Gestalt, und ihren Kopf hält sie ein wenig zur Seite, wie ein lauschendes Huhn. Ihr Kleid ist aus einem einfachen geblümten Stoff und reicht bis fast zu den Knöcheln. In ihrer linken Hand hält sie eine Handtasche, und auf dem Kopf trägt sie einen Hut. Sie wirkt etwas verlegen, wie Menschen, die selten fotografiert werden. Ihren rechten Arm läßt sie locker herabhängen, und er verrät mir das Selbstbewußtsein der Tante Rosa. So steht sie da, trotz Verlegenheit und blendender Sonne: durchaus fest auf ihren beiden Beinen.
Das Foto habe ich selbst gemacht, mit einer Box-Tengor.
Ich habe es lieber als alle mir bekannten Heiligenbilder.
Wodurch unterscheidet sich meine Tante Rosa von Charles Manson?
Charles Manson ist ein gutes und noch dazu modernes Beispiel für einen extrem realitätsfernen Mystiker der apokalyptischen Tradition.
Manson ein Mystiker?
Hat nicht Manson den Auftrag erteilt, die Filmschauspielerin Sharon Tate zu ermorden?
Kann man einen derart gewalttätigen Menschen zu den Mystikern zählen?
Man kann. In dem Buch des Staatsanwaltes Bugliosi über den Mordfall Sharon Tate steht folgende Passage:
«Etwas an Mansons Weltanschauung war mir besonders rätselhaft:
seine seltsame Einstellung zur Angst. Er verkündete ständig, Angst sei schön, und er riet seiner Family sogar, in einem ständigen Angstzustand zu leben. Ich fragte Watkins, was Manson damit gemeint habe. Manson habe unter Angst dasselbe verstanden wie Bewußtsein, sagte Watkins. Je mehr Angst man habe, desto stärker sei das Bewußtsein, desto mehr Liebe habe man. Wenn man sich wirklich ängstige, dann komme man zum <Jetzt>. Und wenn man im Jetzt sei, dann habe man das totale Bewußtsein.» (Watkins war ein Zeuge der Anklage. Er hatte zur Manson-Famihe gehört.)
Kein Mystikspezialist wird bestreiten können, daß die Rede vom «Jetzt» zur Mystik gehört wie das Amen zum Gebet. Daß für Manson Angstzustände als Vehikel zum Erleben des erfüllten Augenblicks dienten, ist nicht so wichtig. Wichtig ist der Wunsch, im Nun zu leben. Im Nun leben heißt, zeitlos leben, nach Auskunft der mittelalterlichen deutschen Mystik. Heißt intensiv leben (erleben), außerhalb von Raum und Zeit, in der Gegenwart.
Die Rede vom «Jetzt» ist ein deutliches Indiz für die mystische Ader Mansons.
Ferner findet sich im Arsenal Mansons die Ekstatik, in dionysischer Form, also mit Stimulantien und orgiastischen Veranstaltungen. Manson verwandte halluzinogene Pilze, Marihuana, Mescalin, LSD. Die Orgien begannen mit der Einnahme der Drogen, es gab rituelle Tänze, die Entkleidungszeremonie. Manson leitete die Orgien, arrangierte Leiber, Kombinationen, Positionen.
Sinn und Zweck solcher Übungen. Heraus aus dem Normalbewußtsein. Das griechische «ek-» im Worte Ekstasis bedeutet «heraus».
Beste mystische Tradition.
Die apokalyptische Komponente in Mansons System drückt die Art und Weise seiner Auseinandersetzung mit der realen Außenwelt aus.
Diese Außenwelt ist die kalifornische des Jahres 1969. Sie entsprach den Vorstellungen Mansons überhaupt nicht.
Manson erwartete, mit Hinweis auf die Apokalypse, einen allgemeinen Negeraufstand, ein Schlachtfest größten Ausmaßes, mit dem Ziel der Vertilgung der Weißen.
Während dieses Blutbades wollte sich Manson mit den Seinen in eine unterirdische Höhle begeben. Dort würde die Familie auf 144000 Auserwählte anwachsen, und nach Beendigung des allgemeinen Mordens würden die Auserwählten hervortreten und von den Negern die Weltherrschaft übernehmen, mit Manson als Heiland an der Spitze.
Manson wußte auch, wo die unterirdische Höhle lag. unter dem «Death Valley» in Kalifornien. In diesem Tal lebte Manson mit seiner Familie, auf einem abgelegenen Anwesen, der Barker-Ranch. Der ausbleibende Negeraufstand ließ ihn auf den Gedanken kommen, den Negern zu zeigen, wie man es macht. Er befahl die Ermordung Sharon Tates, und die Art der Durchführung sollte den Eindruck erwecken, radikale Neger hätten das Blutbad veranstaltet. Manson hoffte auf den Ausbruch einer wilden Massenhystene im Gefolge des Mordes. Der Mord an der Filmschauspielerin sollte das allgemeine Morden sozusagen in Gang bringen.
Diese Überlegung erwies sich als falsch.
Manson wurde von der Polizei festgenommen, zusammen mit 24 Familienmitgliedern, Anfang Oktober 1969, im Zuge einer Razzia.
Die Neger hatten sich nicht erhoben. Nur die Polizei war gekommen.
Hierbei handelt es sich um einen typischen Fall von Parusieverzögerung.
Die Parusieverzögerung war das Grundproblem der Urchristen.
Parusie (ein altgriechischer Ausdruck) bezeichnete zunächst den feierlichen Staatsbesuch eines Herrschers in der Provinz. Den frühen Christen bedeutete er die festliche Ankunft des Messias, im Zusammenhang mit dem Weltuntergang und der Neuordnung der Dinge. Die Wiederkunft Christi, auf den Wolken des Himmels, in Pracht und Herrlichkeit. Dieses Ereignis trat bekanntlich nicht ein, und deshalb der Ausdruck Parusieverzögerung.
Urchristliches Gedankengut bei Charles Manson, ganz ohne Zweifel.
Manson war allerdings ungeduldiger als die alten Christen und meine Tante Rosa.
Am 15. Juni 1970 begann der Prozeß «Das Volk (Kaliforniens) gegen Charles Manson alias Jesus Christus alias Gott». (Manson hatte von sich behauptet, Jesus Christus und Gott zu sein.)
Der Prozeß wurde einer der längsten und teuersten in der Geschichte der USA. Er dauerte neuneinhalb Monate und kostete 1 Million Dollar. Wenig andere Prozesse haben so viel öffentlicher Beachtung gefunden wie dieser. Er endete mit dem Todesurteil für Manson. Dieses Urteil konnte nicht vollstreckt werden, weil das Oberste Gericht von Kalifornien im Februar 1972 die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte. Charles Manson bekam lebenslänglich Gefängnis.
Sollte er jemals freikommen, dann frühestens nach 25 Jahren. Das wäre um das Jahr 2000 nach Christi Geburt.
Der Fehler Mansons. Er wollte bedeutend sein. Er hat vernachlässigt, was jeder Anfänger wissen müßte. Er hat nicht verlernt, vorr Bedeutenden, Gewaltigen usw. fasziniert zu sein. Deshalb wurde aus ihm ein gescheiterter Mystiker. Er hat die zweite Lektion (Rücksichtslosigkeit) vor der ersten durchgenommen.
Meine Tante Rosa hielt sich hingegen an die richtige Reihenfolge.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Etwas an Mansons Weltanschauung: Der Spiegel 52/1974.

1