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Leseprobe
Ein Nashorn für den Papst
___________________________ Lawrence Norfolk
Kapitän Alfredo...
"Kapitän Alfredo di Ragusa! Wacht auf, Ihr Trunkenbold!"
Fast eine ganze Stunde lang hatte er jetzt auf ihn eingeschrien, so schien
es ihm jedenfalls. Diego spürte,
wie er allmählich heiser wurde. Erste vorsichtige Stöße waren
zu energischen Tritten in die Rippen geworden, bevor ein Arm erschien und
in der unmittelbaren Umgebung des Decks herumtastete. Ein kräftiger
Hagel von Schlägen bewirkte, daß der Kopf flüchtig
auftauchte, obwohl sich keines der Augen öffnete. Dann war der Kopf
schon wieder verschwunden. der Arm wurde zurückgezogen. Und der
Rest sah immer noch aus wie ein Sack.
Diego verdoppelte seine Bemühungen, worauf sich ein Bein sehen ließ,
das sich zögernd seitlich herausschob, als suche der Fuß nach
festem Grund, damit er Halt finden und das längere, aber schüchternere
Glied folgen konnte. Ein zweiter Fuß folgte seinem Kundschafterzwilling
und kam neben ihm zur Ruhe. Der Sack, der Kapitän Alfredo war, hielt
inne, um seine Kräfte zu sammeln. Dann kam, tastend, sich nur zögernd
dem tyrrhenischen Licht aussetzend - als sei diese wolkig-diffuse
Helle ein vulkanischer Ausbruch hautzerfetzenden Feuers -, dann also kam,
sich dem Wachzustand mit der Vorsicht eines der Schläfer von Ephesus
nähernd, um sogleich hastig über die mit Wasser vollgesogenen,
moosigen Planken zu krabbeln - dann kam eine Hand. Die andere Hand folgte
und fiel neben ihrer Kameradin mit einem fleischig-dumpfen Plumps auf
den Boden. Dicke behaarte Finger tasteten anfangs schwächlich,
dann immer dringlicher umher.
"Ich glaube, er sucht was", sagte Salvestro. Die anderen Besatzungsmitglieder
sahen aufmerksam zu.
"Flasche", keuchte der Haufen zu ihren Füßen, der, obzwar noch
immer sackähnlich, als Reaktion auf diese unangenehmen Belebungsversuche
jedoch immer Kapitän-Alfredo-ähnlicher wurde. Ein leichtes
Stöhnen folgte, dann begann sich der Kopf wieder zu heben. Schütteres,
graulockiges Haar teilte den Kopf des Kapitäns in Parzellen ledriger
Haut, unterbrochen durch Büschel von Stahlwolle, unter denen die Haut
braunfleckig und von geplatzten Äderchen durchzogen war. Die Röte
vertiefte sich in der Umgebung der Nase -eines überdimensionalen,
purpurroten Riechers, dessen Pickel vor langer Zeit ausgebrochen waren und
einen Karnickelbau von Löchern um die Nüstern hinterlassen hatten,
die wie mit Haaren dicht bewachsene Höhlen wirkten. Eine Anzahl von
Zähnen war in seinem Mund begraben worden; ihre Grabsteine neigten sich
in unterschiedlichen Winkeln einander zu. Nachdem er seine Klage
hervorgestoßen hatte, blieb dieser Mund ganz einfach offen - entweder
zur Inspektion oder in Erwartung der geforderten "Flasche". Als er merkte,
daß sie nicht kam, öffnete er die Augen.
Kapitän Alfredos Augen wurden gehalten durch dicke Wülste aus rosigem
Augenlidfleisch, Wülste, die sich in Falten und Runzeln legten, als
sie sich hoben, um die Augen selbst freizugeben. Die Pupillen waren von jenem
Blau, das im Grau der Gewitterwolken darauf wartet, daß die Sonne es
erlöst und über einen wolkenlosen Himmel verteilt, einem
verblüffenden Kobaltblau, in seinem Fall umgeben von einem ebenso
verblüffenden Scharlachrot dort, wo daß Weiß der Augäpfel
schimmern sollte. Diese Augen spähten zu den Gesichtern empor, die auf
sie herabblickten. Der Mund murmelte irgendetwas, merkte, daß er noch
offenstand, und schloß sich. Etwa eine Minute lang war nichts mehr
zu hören oder zu sehen. Diego dachte an einen Eimer Wasser,
aber bevor er seinen Gedanken ausführen konnte, begann irgendwo inmitten
dieses menschlichen Haufens, der Kapitän Alfredo war, ganz langsam eine
Eruption, eine Folge von Gebrummel, Geächz und Gestöhn, das Knirschen
erodierter Sehnen und das Knarzen alter Knochen, als sich die steifen Muskeln
beugten und streckten, schnapsverkleisterte Blutgefäße venöse
und arterielle Flüssigkeit in schlafende Extremitäten pumpten und
lebenswichtige Organe sich an ihre Funktionen zu erinnern suchten.
Speicheldrüsen sonderten eine schleimige Paste ab, vor der die Zunge
zurückzuckte, und Verdauungssäfte tröpfelten zu einem
Präventivschlag gegen den erwarteten "Ersten Schluck des Tages" in einen
leeren Magen. Ein Furz ließ seinen müden Trompetenton hören,
und dann begann der Kampf gegen die Schwerkraft. Die Glieder begannen sich
zu regen: ein Bein, ein zweites Bein, ein Arm, ein zweiter Arm...Eine von
Stöhnen erfüllte Minute später war Kapitän Alfredos Kopf
oben und seine Füße unten. Technisch gesehen stand er aufrecht.
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G!G 6.7.97
Lese!zeichen
Lawrence Norfolk: Ein Nashorn für den Papst. Roman
aus dem Englischen von Gisbert Haefs, Hanswilhelm Haefs,
Gerald Jung und Gisela Stege
Albrecht Knaus Verlag, München 1996, 815 Seiten,
49,80 DM
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