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"Wintermärchen" Januar 2000 in Moldavien
......wie kann man nur im Januar eine Reise nach Moldavien machen...., das bekommen wir, mein Bruder und ich, des öfteren in den Tagen vor
unserem Start zu hören. Aber, ob es kalt ist oder warm, ob es Strom gibt oder nicht, dieser Besuch hat schon seit Jahren seinen festen Platz im Kalender. Und so machen wir uns am Morgen des 15. Januars, beladen mit
allerlei Gepäckstücken, auf den Weg. Daß man sich warm anziehen muß, hat die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt. Aber, um nach Moldavien zu kommen, müssen n och ein paar Stunden im Zug, auf dem Flugplatz und im Flugzeug verbracht werden, und wir schwitzen ordentlich in
unserem warmen Wintermantel und den Stiefeln. Das sollte aber bis zu unserer Rückkehr das letzte mal sein. Pünktlich landet die Maschine in Chisinau, und die Freude ist groß, als uns Pater Joan auf dem Rollfeld
abholt. Auch im Flughafengebäude werden wir schon sehnsüchtig von unseren Freunden erwartet, doch so schnell sollte die Abfertigung nicht erledigt sein. Trotz
eines Schreibens vom Innenministerium, daß wir keine Visagebühren bezahlen müssen, will man uns 80 $ pro Kopf abnehmen. Pater Joan und Caritasdirektor Nadkrenitschny
bemühen sich mit aller Anstrengung, den Beamten davon zu überzeugen, daß wir nichts bezahlen müssen. Die ganze Prozedur dauert fast genau solange, wie der Flug von
Frankfurt nach Chisinau. Sehr schnell bekommen wir zu spüren, daß wir uns in einer anderen Welt befinden. Endlich können wir auch Gusti, unsere treue Seele aus Rumänien, die uns überall als
Dolmetscherin begleitet, in die Arme schließen. Auf der Fahrt nach Orhei, die uns bei der Dunkelheit (auf dem Land gibt es ab 17.00 Uhr keinen Strom mehr) besonders lange
vorkommt, haben wir uns unendlich viel zu erzählen. Müde von der Reise freuen wir uns auf das Nachtlager im Pfarrhaus von Orhei. Pater Joan gibt der Hoffnung Ausdruck, daß
wir vielleicht am nächsten Morgen warmes Wasser haben werden, aber bei der Hoffnung bleibt es dann auch. Es ist Sonntag, und wieder erwarten uns viele Leute in der Kirche zu einer gemeinsamen
Messfeier, die natürlich wie jedesmal sehr ergreifend ist. Eine junge Mutter wagt sich mit klopfendem Herzen an uns heranzutreten und um Hilfe zu bitten. Ihr vierjähriger Sohn ist an Krebs erkrankt, und sie kann die Medikamente nicht bezahlen, die sie für die turnusmäßige Therapie
braucht. Die ganze Verwandtschaft hat schon gegeben was möglich war, doch nun ist sie am Ende. Wir helfen mit einem Geldbetrag und werden im Mai sehen, wie wir weiter helfen können.
Beim anschließenden Essen werden wir vom Kirchenchor mit lustigen Liedern unterhalten, natürlich singen wir manchmal mit, denn inzwischen haben wir das eine oder andere Lied schon im Ohr. Nach dem
Essen brechen wir auf und fahren zum Kloster Curghi. Es ist eine wunderschöne Gegend mit Ländereien und einer prächtigen Kirche, die aber leider aus Geldmangel noch lange
nicht als Begegnungsstätte für Gläubige genutzt werden kann. Vor der Revolution 1991 war alles verstaatlicht, und die Kirche ist verfallen. In den Klostergebäuden hat man eine
psychiatrische Klinik eingerichtet, die schon von außen s ehr heruntergekommen und nicht
gerade einladend aussieht. Die Priesterschule und die Unterkünfte der Priesteranwärter machen einen ordentlichen Eindruck. Alles wurde mit eigenen Händen renoviert oder neu gebaut und wir sehen
immer wieder sehr viele Einrichtungsgegenstände, die wir in den letzten Jahren gebracht haben. Natürlich wird noch sehr viel benötigt, um diese Einrichtungen auf Dauer bewohnbar zu machen.
Es ist ein schöner, aber kalter Wintertag und wir fahren in einen nahegelegenen Wald, wo uns einige Priester, die im letzten Herbst mit dem Chor bei uns in Todtnau waren, mit ihren
Familien zu einem kleinen Picknick erwarten. Abgesehen von den kalten Füßen ist es sehr gemütlich. Doch allzu lange kann man sich trotz dickem Wintermantel und Wodka nicht im
Freien aufhalten. Im Pfarrhaus ist es doch um einiges wärmer. Früh am nächsten Morgen holt uns Dr. Siman zu einem Besuch im Kreiskrankenhaus ab.
Dr. Siman ist nicht mehr Direktor der Klinik, sondern nur noch Arzt (und bester Chirurg). Es gibt viele Neider, wenn man einen Direktorenposten hat und Hilfsgüter verwaltet. So hat er
innerhalb eines Jahres über 80 Kontrollen von vorgesetzten Stellen und dem Gesundheitsministerium gehabt, die letzte in der dritten Januarwoche. Es wurde nie etwas
Belastendes gefunden, auch was unsere Lieferungen anbelangt. Dr. Siman muß zu einer Operation und wir unterhalten uns währenddessen mit seiner Frau
(Gynäkologin) und der reizenden Augenärztin, die wir schon seit Jahren kennen. Natürlich nutzen wir die Zeit, um einiges über die derzeitige Situation zu erfahren. Obwohl beide
ständig lachen und Tränen in den Augen haben, habe ich das Gefühl, daß ihnen eher zum Weinen zumute ist. Alles sprudelt nur so aus ihnen heraus, als könnten sie damit ihre
schweren Seelen erleichtern. Hier auf dem Land ist alles noch viel schwerer, weil die Hauptstadt weit weg ist. Lehrer haben ihren Gehalt bis letzten Juni ausbezahlt bekommen,
Ärzte bis einschließlich letzten März. Ärzte in gehobener Position haben Anspruch auf einen Gehalt von 200 Moldovalei = 33,00 DM pro Monat. Ärzte in Polikliniken bekommen die
Hälfte dieses Gehaltes. Es gibt nach wie vor keine Krankenversicherung aber eine Pensionskasse. Die Rente liegt derzeit bei 17,50 DM/Monat. Familien bekommen einen
Kinderzuschlag von 6,50 DM im Monat. Alles ist aber nur realisierbar unter der Voraussetzung, daß gerade Geld da ist. Ein Patient muß in der Poliklinik etwa 1,00 DM
bezahlen, die Medikamente hat er selbst zu kaufen. Ein Liter Benzin kostet 0,60 DM. Wie kann man überleben, so lautet unsere Frage. Man kann nur von einem Tag zum
anderen denken und planen. Ein Überleben ist nur möglich, wenn man Eingemachtes aus dem eigenen Garten hat. Seife wird selbst aus Fett, Öl und Laugeflocken hergestellt.
Kleidung wird selbstgenäht oder gestrickt. Wenn man mal was besonderes will und ein wenig Geld ges part hat, geht man in den Second-Hand-Shop. Aber das kommt äußerst selten vor. Was ganz furchtbar ist, krank zu werden oder einen Unfall zu haben.
Wir machen einen Rundgang durch die Frauenabteilung. Viele Betten sind leer, weil es immer weniger Patienten gibt, die sich einen Krankenhausaufenthalt leisten können. Im Lager ist außer
den von uns gebrachten Lampen alles weg. Man wartet auf die dazugehörigen Leuchtstoffröhren, die wir im Mai bringen werden. Gleich hinter dem Lager sehen wir ein Gebäude welches klaffende
Risse in der Wand zeigt. Auch die Mauer ist schon stark in Mitleidenschaft gezogen durch einen Bergrutsch, der das ganze Klinikgelände bedroht. Am Nachmittag haben wir die Gelegenheit unsere lieben
Chorsänger wiederzusehen und zu hören, allerdings nur von Weitem. Sie singen bei einer Feierstunde in der Militärakademie anläßlich der Einweihung
eines Militärmuseums und damit verbundenen Ehrungen von verschiedenen Persönlichkeiten. Bei Dunkelheit fahren wir auf eisglatter Straße und bei dichtem
Schneetreiben zurück nach Orhei, wo uns schon der Bürgermeister und Präfekt des Kreises erwarten. Am Mittwochmorgen beziehen wir unser bekanntes Quartier in einem Wohnblock für
Studenten in Chisinau. Vorsorglich haben wir uns zwei kleine Heizlüfter in der Klinik ausgeliehen, die uns sehr gute Dienste leisten. Endlich ist die Körperpflege mal mit
warmem Wasser möglich. Nicht, daß es hier warmes Wasser gibt, es kommt genau so eiskalt aus der Leitung wie überall, aber Gunther hat für den Morgenkaffee einen kleinen
Warmwasserkocher dabei, und mit Kochtopf, Schüssel und Tasse gelingt es sogar die Haare zu waschen. In der Clinik Repu blican treffen wir die Direktoren und Dr. Manolache, den Herzchirurgen. Wir sprechen über die immer größer werdenden Probleme für Ärzte und Patienten. Das Personal und die Ärzte haben erst
jetzt den Gehalt vom Monat September bekommen. Das Budget des Staates für das Krankenhaus wird immer geringer. Im Jahre 1990 wurde sechsmal so viel Geld zur Verfügung gestellt wie
heute. Die Behandlung von Kindern bis zu fünf Jahren und für Invalide ist frei. Andere Patienten müssen bezahlen. Der Aufenthalt (Essen und Bett) beläuft sich, je nach
Vermögenslage, auf 10 bis 30 Lei pro Tag, das ist 1,60 DM bis 4,80 DM. Medikamente müssen selbst gekauft werden, wenn nicht gerade aus Hilfstransporten etwas vorhanden ist. Früher
wurden den Patienten bei ihrer Entlassung Medikamente mitgegeben, das ist heute nicht mehr möglich. Auch hier sieht man sehr viele leere Betten. Viele Kranke sterben qualvoll Zuhause, weil sie kein Geld
haben, erzählt man uns. Wir besuchen einige Patienten, die dringend auf eine lebensrettende Herzklappe warten. Eine Frau ist schon seit Monaten hier, sie kann wegen
der Schwere ihres Krankheitsbildes nicht mehr nach Hause. In der kommenden Woche wird sie operiert werden, wir haben wieder 15.000,00 DM dabei, und morgen kommt Regina
von der Firma Rosinvest aus Moskau und bringt 19 Herzklappen. Bei unserer Visite weint
die Patientin und kann es nicht begreifen, daß ihr nun geholfen wird. Im Jahre 1999 wurden insgesamt 61 Herzklappen eingesetzt, davon war die Hälfte eine Spende von HFO. Von jedem Patienten bekommen wir eine
unterschriebene Empfangsbestätigung. Wir machen noch einen Rundgang durch die Klinik, auf allen Stationen sieht es gleich erbärmlich aus. Man bittet uns dringend um
Bettwäsche, da alles durch die aggressiven Waschmittel kaputt geht, und die Patienten meist nichts haben. Die von uns gebrachte Wanne für
Unterwassermassagen ist eingebaut, kann derzeit aber nicht benutzt werden, da es kein warmes Wasser gibt. Alles in allem ist die Situation sehr bedrückend.
Heute, am Mittwoch ist ein sehr umfangreiches Programm vorgesehen. Dr. Seremet, der Onkologe und Präsident der Hilfsorganisation "Helft den Armen und Alten", holt uns früh
am Morgen in unserem Quartier ab, und wir fahren zu einem Altenheim am Ra nde der Stadt.
Wir betreten ein ziemlich heruntergekommenes Gebäude mit Spuren von Wasserschäden, die nie behoben wurden. Der Parkettboden löst sich in Einzelteile auf, Stromleitungen hängen
lose an den Decken. Hier werden Alte und Invalide untergebracht, die keine Angehörigen mehr haben. Zur Zeit gibt es 182 Bewohner. Überall fehlt Geld. Allein für Lebensmittel werden im
Moment 3.200,00 DM Schulden pro Monat gemacht. Von 100 %, die der Staat als Budget genehmigt, werden 50% auf die Bank überwiesen. Auf dem Weg von der Bank zum Heim gehen
unterwegs nochmals 25% "verloren" (Verdunstung??), so daß noch 25% der ursprünglichen Summe zur Verfügung stehen. Für Medikamente ist die Norm 1,20 Lei pro Tag = 0,25 DM pro Person,
vom Staat ausbezahlt wird jedoch nur 0,85 Lei. Von den hier Beschäftigten haben 80% einen Lohn von knapp 20,00 DM. Man bittet uns dringend um Inkontinenzartikel wie Krankenbettunterlagen und Pampers für Erwachsene,
Toilettenstü hle, Rollstühle, Kleidung, Wäsche, Pflegemittel, Medikamente und vor allen
Dingen um Lebensmittel. Herr Dr. Seremet hat viele Hilfsgüter von uns hier abgegeben, wofür man sich herzlich bedankt. Wir besichtigen einige Zimmer, die Bewohner liegen meist bekleidet
mit Mütze oder Kopftuch im Bett, weil sie frieren. Die Küche ist sauber, aber zwischen einer Altenheimküche bei uns und dieser liegen ca. 70 Jahre. In ganz Moldavien gibt es 11 solch spezieller
Altenheime, dieses hier ist das einzige mit einer Kirche. Nun geht es zu einem Amt für Sozialfürsorge, das für den Stadtbereich zuständig ist und etwa 20 000 Bedürftige betreut.
Auch diese Einrichtung wird durch Herrn Dr. Seremet unterstützt. Sozialarbeiter und ein Arzt besuchen die Bettlägerigen Zuhause und werden von der Stadt bezahlt. Kurz vor Neujahr bekamen sie
den Gehalt für die letzten drei Monate. Die Renten werden von diesem Amt berechnet und in der Regel pünktlich ausbezahlt (Image der Hauptstadt). Auf
dem Dorf ist es keine Seltenheit, daß man ein oder sogar drei bis vier Jahre mit der Bezahlung im Rückstand ist. Manches erledigt sich dann in der Zwischenzeit von selbst.
Auch hier bittet man uns um die gängigsten Dinge für das tägliche Leben. Nun folgt noch ein kurzer Besuch im Schwesternkollegium, das auch um unsere Unterstützung bittet und für die bisherige Hilfe dankt.
Nun heißt es sich beeilen, Regina kommt um die Mittagszeit mit den Herzklappen aus Moskau und wir müssen in der Stadt noch Paßbilder machen lassen für das Jahresvisum,
welches der Bürgermeister, der Präfekt und Bischof Joan Vulpe für uns beantragt hat. Nach langen Überlegungen findet sich ein Fotolabor, das in der Lage ist Sofortbilder anzufertigen. In der Klinikkantine treffen wir unsre liebe Regina, die Wiedersehensfreude ist groß und die Begrüßung
herzlich. Obwohl wir uns nur auf englisch unterhalten können, verstehen wir uns ausgezeichnet. Nach der offiziellen Übergabe der Herzklappen überreichen wir zwei Patienten symbolisch je ein Päckchen mit
Herzklappen, um ein passendes Foto zu machen. Die Tränen lassen sich nicht zurückhalten, man spürt eine unbeschreibliche Dankbarkeit.
Leider muß Regina schon wieder zum Flughafen, wir nehmen Abschied und begeben uns zur Klinik Nr.4. Es ist schon spät und dunkel, so daß wir keinen Rundgang mehr durch die
Klinik machen. Wir haben diese im letzten Jahr ausgiebig besichtigt, viel wird sich nicht geändert haben. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit Klinikdirektor Dr. Norok und Dr.
Seremet sprechen wir viel über früher, über die schlechten und die guten Zeiten, über den 2. Weltkrieg, den die beiden als Kinder noch erlebt haben und über die Zukunft. Eine
gewisse Angst ist zu spüren. Angst vor der Rückkehr der Russen. Man hat die Befürchtung, daß sich hier Tschetschenien wiederholen könnte. Mit viel Witz und
humorvollen Zwiegesprächen versucht man an diesem Abend die gespenstische Wand der Zukunftsangst zu überspielen. Gusti leistet erstklassige Arbeit, um uns alles zu übersetzen.
Heute, Donnerstag ist Termin in der Kinderklinik. Nelia, die Kinderärztin, holt uns pünktlich ab und bringt uns an ihren Arbeitsplatz. Irgend etwas fehlt in ihrem Büro, man hat
eingebrochen und das Faxgerät gestohlen. Auch im Lagerraum wurde eingebrochen, es war aber sowieso nicht mehr viel darin. Dr. Rosu, Klinikdirektor, begrüßt uns herzlich und
begleitet uns zu dem nachfolgenden Termin im Gesundheitsministerium. Wir treffen uns mit Herrn Dr. Rusu, Vizegesundheitsminister, den wir schon vor einigen Jahren in der
Klinik Republican kennengelernt haben. Es werden alle Probleme auf den Tisch gelegt und besprochen, in der Hoffnung auf einen reibungslosen Hilfsgütertransport Mai 2000. Hier
alle Besprechungspunkte anzuführen, würde den Rahmen sprengen, man hat uns aber die notwendige Unterstützung zugesagt .
In der Kinderklinik besichtigen wir noch einige Stationen und freuen uns, daß die Sektion für Verbrennungsopfer durch die Hilfe aus Amerika in bestem Zustand ist.
Altbekannte Gesichter erwarten uns mit Tränen in den Augen. Vor zwei Jahren haben wir eine Mutter kennengelernt, die zwei ihrer Kinder in kurzer Zeit verloren hat, und der wir geholfen haben. Seither wartet
sie im Januar und im Mai auf unser Kommen. Auch Nelia möchte uns ein paar schöne Stunden bereiten und entführt uns aufs Land zu einer Freundin.
Müde kehren wir in unser Quartier zurück und rüsten uns für die kommende Nacht mit warmer Wäsche, Socken und Heizöfchen. Kaum schlafen wir ein, klopft es auch schon an
die Tür. Wer mag das wohl sein zu später Stunde? Dr. Manolache möchte uns einen wichtigen Te rmin mitteilen. Morgen um 11.00 Uhr sind wir zu einem Empfang beim Oberbürgermeister im Rathaus eingeladen, bei welchem eine Ehrenurkunde der Stadt Chisinau
überreicht werden soll. Das Fernsehen und die Presse sind auch vertreten. Wie bringen wir das nur in die Reihe? Morgen ist Termin beim Metropoliten Vladimir und anschließend stehen wir Caritas
Moldova den ganzen Tag zur Verfügung. Herr Nadkrenitschny hatte Patenfamilien, die durch einen Todtnauer Bürger unterstützt werden, einbestellt, auch war ein Termin bei der Deutschen Botschaft mit
Herrn Ahlbrecht vereinbart, und Ana und Olga, die beiden an den Rollstuhl gefesselten Mädchen, wollten wir auch noch besuchen. Ruhe bewahren und telefonieren (letzteres ist
in Moldavien nicht so einfach). Herr Nadkrenitschny ist mit dem über den Haufen geworfenen Plan nicht sehr glücklich, hat aber keine Wahl. Der Empfang zum "Tee" bei
Hochwürden Metropolit Vladimir zieht sich etwas in die Länge, aber unseren Termin beim Oberbürgermeister im Rathaus können wir pünktlich einhalten. Nach Überreichung einer
Ehrenurkunde der Stadt Chisinau und einem schönen Strauß Blumen beeilen wir uns, zu Caritas Moldova zu kommen. Keiner ist böse, daß wir uns um eine Stunde verspäten. Alle
sind glücklich, uns zu sehen und einen Brief aus Todtnau zu erhalten. Nun besuchen wir noch Ana und Olga und einen Nachbarn von Herrn Nadkrenitschny, bei dem wir zum
Abendessen eingeladen sind. Er hat eine schwere Hauterkrankung und wir bringen ihm regelmäßig dringend benötigte Salben. Es ist schade, daß Herr Nadkrenitschny so gut wie
keine Zeit für uns hat, gerne hätten wir mit ihm einige Dinge besprochen. Dankenswerterweise stellt er uns sein Auto und Fahrer zu Verfügung. Den Besuchstermin
bei Herrn Ahlbrecht hat er auf Montagvormittag 9.00 Uhr verschoben. Heute ist schon Samstag, viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Um neun Uhr ist ein Treffen, organisiert von Dr. Seremet, im Vorlesungssaal der Haematologie mit Hilfsgüterempfängern vereinbart,
die uns unbedingt persönlich kennenlernen wollen. Der ganze Saal ist voll besetzt und die Rührung ist auf beiden Seiten. Krankenschwestern, Arbeiter, Dorfbewohner und Ärzte sind anwesend, um sich bei
uns zu bedanken. Ein Arbeiter bemerkt, als ein Foto gemacht wird, während er in unserer Mitte steht, "wenigstens ein schöner Augenblick in meinem
Leben". Glückliche Momente auf beiden Seiten, ja das erleben wir täglich. 0hne diese gäbe es keine Existenzmöglichkeit in diesem Leben.
Ein Rundgang durch die Krebsklinik mit den vielen ausdrucksvollen, nach Hilfe suchenden Gesichtern deprimieren und beeindrucken uns. Gedanken wie diese, wie gering doch
unsere Hilfe ist, gemessen an dem großen Leid, das den Menschen widerfährt, beschäftigen uns die ganze Zeit. Auch eine leibliche Schwester von Dr. Sermet liegt auf
einer der Stationen, sie hat eine schwere Lebererkrankung und eine sehr schmerzhafte Entzündung am rechten Unterschenkel. Herr Dr. Seremet ist ein Mann mit sehr vielen
Gefühlen, er schämt sich nicht vor unseren Augen zu weinen, als wir aus dem Krankenzimmer gehen. Er ist nicht nur sensibel, sondern äußerst korrekt. Seine
Buchhaltung, die er uns zeigt, ist bis ins Detail nachvollziehbar und transparent. Wir sind an diesem Abend noch gerne zu Gast bei seiner Familie und spüren, wie sich die
Freundschaft immer mehr vertieft. Noch ein kurzer Besuch an diesem Abend bei Pfarrer Rodniski, einem Sänger aus dem Priesterchor, und dann nach Hause ins kalte Bettchen.
Ein herrlicher Wintermorgen strahlt uns am Sonntag durch die halbgeöffneten Vorhänge entgegen. Nach der vorher erwähnten Körperreinigung erfolgt ein Frühstück wie immer
(Pulverkaffee, Dosenbrot und Aldiwurst). Ein Fahrer von Josan Anatol, (wir haben Herrn Anatol vor zwei Jahren in Chisinau kennengelernt) holt uns ab und bringt uns zu Dr.
Manolache. Wir werden mit einem zweiten Frühstück überrascht und fahren dann aufs Land zu der Schwiegermutter von Dr. Manolache. Welch ein schöner Tag. Wir genießen
den bissig kalten Wintertag bei strahlender Sonne im Kreise einer Familie, die uns in ihr Herz geschlossen hat. Wir haben keine Probleme, an einem kleinen Tisch aus einer
Schüssel zu essen. Längst wird uns nicht mehr das aufgetischt wie in den vergangenen Jahren aber die Herzlichkeit ist geblieben und die Tiefe der gegenseitigen Zuneigung und
des Verständnisses haben sich verstärkt. Nur das “stille Örtchen” im Garten aufzusuchen, erfordert bei dieser Kälte einiges an Überwindung. Am Abend lädt uns Anatol zum
Aufwärmen in sein Haus ein, was wir gerne annehmen. Mit Bewunderung betrachte ich seine Ikonensammlung. Auch die für mich gedachte Ikone hängt an der Wand. Sie darf leider nicht ausgeführt werden, aber es ist meine!
Die ganze Nacht stürmt und schneit es, am Morgen sieht man keine Straße mehr. Ob uns der Fahrer von Caritas wohl abholt, der uns um 9.00 Uhr in die deutsche Botschaft bringen
soll? Wir warten und warten und versuchen mehrmals Herrn Nadkrenitschny telefonisch zu erreichen. Gegen Mittag geben wir den Versuch auf und glauben auch nicht mehr daran,
daß uns ein Auto abholen wird. Bei dichtem Schneegestöber machen wir uns auf den Weg zur Klinik. Alle Ärzte und Direktoren erwarten uns in der Klinikkantine zu einem
gemeinsamen Mittagessen. Wir verabschieden uns alle herzlich voneinander, natürlich in der Hoffnung uns im Mai wiederzusehen. Es schneit und schneit. Wir haben so langsam
die Befürchtung nicht nach Hause fliegen zu können. Gusti ist ganz verzweifelt, da sie im Fernsehen sieht, daß in ganz Rumänien Schneechaos herrscht, wichtige
Verbindungsstraßen gesperrt sind, und zudem die Eisenbahner noch streiken. Warten wir den nächsten Morgen ab, dann sehen wir weiter. Der Geländewagen mit Allradantrieb von
Anatol Josan ist pünktlich um 6.30 Uhr vor der Tür. Mit einem anderen Fahrzeug hätten wir keine Chance gehabt, an den Flughafen zu kommen. Bischof Joan Vulpe muß wohl um
4.00 Uhr zu Hause weggefahren sein, denn er ist Punkt 7.00 Uhr am Flughafen. Wir sitzen und warten stundenlang. Drei Stunden später verabschieden wir uns von unsrer lieben
Gusti. Zwei Pfarrer fahren sie im Auftrag von Pater Joan mit dem Auto nach Piatra-Neamt. So löst sich alles und auch wir können nach 9 Stunden Wartezeit, in der uns Pater Joan
keine Minute aus den Augen gelassen hat, ins Flugzeug steigen. Zweimal wurden wir mit Essen versorgt, damit wir ja keinen Hunger leiden.
In Frankfurt angekommen, versuchen wir den nächsten Zug nach Hause zu bekommen und schwitzen wieder in unserer warmen Winterausrüstung. Den Zug haben wir verpaßt,
aber ein deutsches Bier auf dem Bahnhof während der Wartezeit auf den nächsten Zug, lassen wir uns nicht entgehen. Schnell wird das Handy aus der Tasche genommen, das die
ganze Zeit über nicht benutzt werden konnte.---auf dem Display, ein Anruf in Abwesenheit---"Ulla, hier ist Thomas, warum meldest du dich nicht?"---- Er hat sicher
vergessen, daß wir uns in einer anderen Welt aufgehalten haben. Ja, es ist eine andere Welt, es sind andere Menschen, die geprägt sind durch die
politischen und sozialen Umstände. Aber es gibt da Menschen, die Hilfe von anderen brauchen, die ein Herz haben und nichts anderes zu verschenken haben als ihre reine Seele und ihre Gefühle.
Es ist hart in eine Welt, wie wir sie erleben, zurückzukehren, mit dem Bewußtsein, daß die, die wir zurückgelassen haben, mit ihren schlechten Bedingungen und mit ihrer Angst weiterleben müssen.
...Deprimiert ? Ja, einerseits deprimiert aber, gerade dadurch motiviert, gibt es nur den einen Weg, weiterzumachen und gegen die Ungerechtigkeit und Armut zu kämpfen, für ein
"Märchen", das eines Tages zur Wirklichkeit werden könnte.
Ursula Honeck Februar 2000
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