CARPE DIEM
Nummer 1 (1995)Vom Krieger
zum Soldaten-------------------------
von Alexander Meier
-------------------------Die Wurzeln
Im Bundesvertrag von 1815 wurde dem Heer eine zentrale Stellung als «gemeinsame Institution» eingeräumt. Mit der Anerkennung der dauernden Neutralität durch die europäischen Mächte im gleichen Jahr bekam die Schweizer Armee eine Doppelaufgabe: Erstens den Schutz des eigenen Landes und zweitens die völkerrechtliche Pflicht der bewaffneten Neutralität, welche noch heute Gültigkeit hat.
Das erste Militärreglement von 1817, welchem einige Revisionen folgten, führte den Grundsatz der Allgemeinen Wehrpflicht ein. Diese wurde damals aber noch nicht lückenlos verwirklicht. Am Grundsatz des von früher übernommenen Milizsystems rüttelte man nicht.
Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 und die damit verbundene Bundesverfassung legte die rechtlichen Grundlagen eines eidgenössischen Bundesheers. Im zwei Jahre später folgenden Bundesgesetz wurde die Wehrpflicht mit dem heute noch gültigen Satz bestätigt. Die ersten Rekrutenschulen dauerten je nach Truppengattung zwischen 28 (z.B. für Füsiliere) und 42 Tagen. Neu führte man die Wiederholungskurse (WK) und die dieses Jahr aufgehobene Einteilung in Heeresklassen ein.
Die eigentliche Geburtsstunde unserer heutigen Armee liegt im Jahre 1874. Mit der revidierten Bundesverfassung traten neue, teils noch heute gültige Wehrartikel in Kraft. Die Gesetzgebung über das Heerwesen sowie die Ausbildung wurden dem Bund übertragen. Auch das 1907 angenommene Bundesgesetz über die Militärorganisation ist in der Grundstruktur - trotz teilweise grundlegenden Revisionen - noch heute gültig. Abgelöst wird die Militärordnung durch das neue Militärgesetz, welches möglicherweise noch dieses Jahr in Kraft tritt.
Die Zeit der beiden Weltkriege
Im August 1914 beschloss der Bundesrat die Kriegsmobilmachung. Zum General während dieses Aktivdienstes wählte die Bundesversammlung Ulrich Wille. Zu grossen Taten gab es jedoch keinen Anlass, da die kriegsführenden Parteien keine Absichten eines Angriffs auf die Schweiz hegten.
Trotz des Krieges nahm die Verdrossenheit gegenüber der Armee ständig zu. Zahlreiche Ordnungsdiensteinsätze im Landesinnern trugen zur Missstimmung bei. Höhepunkt war der Landes-Generalstreik im November 1918.
Nach dem 1. Weltkrieg herrschte eine Art Kriegsmüdigkeit. Man sparte bei den Militärausgaben und hielt die Tauglichkeitsziffern bei Rekrutenaushebungen absichtlich tief. 1921 wurden nur 55,8% Diensttaugliche ausgehoben; heute liegt diese Zahl bei über 80 Prozent.
In der Zwischenkriegszeit liegt das wohl dunkelste Ereignis der Schweizer Armee: Am 9. November 1932 fanden bei einem durch Rekruten geleisteten Ordnungsdiensteinsatz in Genf 13 Menschen den Tod und zahlreiche wurden verletzt. Einmal mehr mussten zuerst Menschen sterben, bevor die Verantwortlichen reagierten: Rekruten sind seither für Ordnungsdiensteinsätze verboten. Trotz grossem Widerstand gehört der Ordnungsdienst auch heute noch zu den Aufgaben unserer Armee.
Infolge der sich abzeichnenden Krisen gewann die Armee in den dreissiger Jahren wieder an Ansehen. So wurde die Infrastruktur ausgebaut, die Ausbildungszeit verlängert und das Wehrpflichtsalter heraufgesetzt.
Mit der Generalmobilmachung der Armee am 2. September 1939 begann auch für die Schweiz der 2. Weltkrieg. Die Bundesversammlung wählte Henri Guisan zum General, welcher im folgenden Jahr auch die Richtlinien betreffend militärischem Frauenhilfsdienst (FHD) erliess.
Henri Guisan ist aber vor allem wegen seiner Reduit-Strategie und dem Rütlirapport bekannt geworden. Die Bevölkerung nahm jenes Treffen auf historischem Boden positiv auf. Der General schaffte, was dem Bundesrat nicht gelang: Er führte einen Wandel in der inneren Haltung des Volkes herbei.
Im August 1945 endete der letzte Aktivdienst der Schweizer Armee. Die Schweiz ist einmal mehr - vielleicht auch dank der Armee - von einem Krieg verschont geblieben.
Nachkriegszeit
Der 2. Weltkrieg änderte neben dem politischen Gesicht der Welt auch die Kriegsmethoden. Das Schweizer Infanterieheer entwickelte sich immer mehr in Richtung technisches Heer.
International hatte die atomare Kriegsführung Einzug gehalten. Und damit stellten sich neue grundlegende Entscheide. Auch für unser Land ist die Atomwaffenfrage (noch) nicht vom Tisch: Das Schweizervolk lehnte ein Atomwaffenverbot ab.
Die Erfahrungen der Kriegsjahre wurden 1947 und 1949 in Gesetzesrevisionen integriert. Weitere Veränderungen brachten 1961 die Totalrevision der Truppenordnung (welche abgesehen von kleinen Revisionen bis Ende 1994 Gültigkeit hatte) und 1968 die Neuorganisation des EMD (wird voraussichtlich dieses Jahr revidiert).
Die wichtigsten Reformmassnahmen seit Kriegsende:
- Vereinfachung der Exerziervorschriften und soldatischen Umgangsformen
- Erleichterung der Bekleidungsvorschriften
- Ermöglichung der Militärleistung ohne Waffen
- Einführung eines Arbeitsdienstes für Dienstverweigerer mit Gewissenskonflikt.
Auch die individuellen Rechte des Soldaten wurden ausgebaut. So musste, infolge der Ratifizierung der europäischen Menschenrechtskonvention durch die Schweiz, das Militärstrafrecht angepasst werden.
Armeereform 95
Die Reform bringt einige Veränderungen mit sich. So die Verkürzung der Wehrpflichtdauer von 331 auf 300 Tage. Für Soldaten und Gefreite bedeutet dies noch 293 RS- und WK-Tage. Diese Kürzung sollte jedoch nicht überbewertet werden, betrug die Dienstdauer noch zu Beginn des 2. Weltkriegs «nur» 278 Tage (vergleiche Grafik). Die Wehrpflichtdauer stieg in den letzten 150 Jahren wiederholt, ohne dass je ein kriegerisches Eingreifen der Schweizer Armee nötig wurde.
Gesetzlich kann die Gesamtdienstleistung übrigens durch den Bundesrat jederzeit wieder auf maximal 330 Tage heraufgesetzt werden.
400’000: der neue Sollbestand der Armee 95. Die Bestandesabnahme um 200'000 Mann ist einerseits auf die verkürzte Dienstdauer und auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen: Geburtenschwache Jahrgänge bringen in nächster Zukunft auch weniger diensttaugliche Jugendliche.
Bedeutender als die Bestandesreduktion ist die Umstrukturierung von Truppenkörpern und die Aufhebung der Heeresklassen. Dadurch werden in einer Einheit neu alle Altersstufen vertreten sein. Jung und Alt treffen also ab sofort auch im Militär aufeinander.
Ein weiterer Punkt der Armeereform ist die vollständige Integration der Frauen in die Armee. Die Schweizer Männerbastion dürfte von den weiblichen Soldaten noch einiges lernen!
Keine Chancen hatten armeekritische Anträge. So bleibt der Ordnungsdienst im Aufgabenkatalog der Armee. Auch das Recht auf Entscheidungsfreiheit bleibt den Schweizer Wehrmännern weiterhin vorenthalten. Am Zwang zum Weitermachen wird festgehalten. Dasselbe gilt auch für die ausserdienstliche Schiesspflicht.
Nicht einmal die von EMD-Vorsteher Kaspar Villiger unterstützte unabhängige Militär-Ombudsstelle hatte eine Chance.
Die Armeereform 95 ist ein kleiner Schritt in modernere Landesverteidigung, Auch wenn die Halbierungsinitiative der SP vom Parlament für ungültig erklärt bzw. vom Volk abgelehnt werden sollte, wird es in Zukunft weitere Militärreformen geben. Die Geschichte der Schweizer Armee geht in der Zukunft weiter...
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Last update: 17.02.97