Die vergessene Frage

von

Sarnokh


Als der Knabe Parzifal nach langer Irrfahrt den Weg in die Burg des Heiligen Grals findet, trifft er dort Amfortas, den leidenden Gralskönig. Amfortas leidet an einer unheilbaren Wunde, doch kann er nicht sterben, da der Gral sein Leben immer wieder erneuert. Dem König wurde geweissagt, daß einst ein reiner Tor kommen würde, der ihn nach seinem Leiden fragt, und ihm die Heilung brächte. Aber Parzifal, ergriffen von der Zeremonie des Heiligen Grales, schweigt. Er stellt keine Frage, und der Gralskönig mit weiter leiden. So weisen ihn die Gralsritter ab, und Parzifal muß eine viele Jahre währende Wanderschaft mit Mühsal und Irrfahrten erdulden.
Parzifal ist ein Gleichnis für das Leben des Menschen und die wichtigste Frage jedes Menschen. Die Frage hat keinen genauen Wortlaut, den man hier finden wird, denn für jeden Menschen formuliert sich diese Frage anders. Und dennoch ist es nur eine Frage, nicht viele. Diese Frage zu stellen liegt unauslöschlich in uns. Wegen dem Verlangen dieser einen Frage, sind Königreich der Vernichtung anheim gefallen und andere Reiche groß geworden. Sie hat Menschen in tiefe Verzweiflung gestützt und andere aus dem Elend zu Licht und Erfüllung geführt. Sie mag einen schmutzigen Eremiten zu einen strahlenden König machen - auch wenn es nur wenige sehen, und aus einem mächtigen Fürsten einen ausgezehrten Sklaven. Und wie Parzifal, so gibt es im Leben jedes Menschen diese wenigen Momente, in denen uns die Gelegenheit gegeben wird, diese Frage zu stellen. Die Umstände drängen uns dazu, führen uns in solch eine Situation, und die Frage drängt wie eine unbezwingbare Macht aus unserem Herzen an die Oberfläche. Dennoch stellen nur wenige die Frage. Sie sind wie Parzifal gelähmt. Was lähmt sie?
Die Antwort darauf, was uns daran hindert die Frage zu stellen, fand Hamlet: es ist die Furcht vor dem Unbekannten. Für Hamlet war das Unbekannte nur der Tod, dessen dunkle Jenseitigkeit er nicht erfassen konnte. Er wagte nicht den Sprung in das unbekannte Dunkle. So war ihm das Leid eines Lebens näher, als das fremde andere. Was ist das für eine ungeheuerliche Frage, die uns zugleich so erschreckt, daß wir jedes Leiden zu bevorzugen scheinen, anstatt eine Alternative auszuprobieren? Und was muß da für eine Antwort verborgen liegen, daß sie uns so unvorstellbar fremd erscheint?
Ich glaube, daß uns die Antwort keineswegs fremd ist. Jeder Mensch hat doch eine Ahnung davon, wie wohl die Antwort aussehen mag, und was uns in Wahrheit schreckt ist eine ganz andere Einsicht: es ist die Ahnung, daß wir alles, was wir bisher gedacht, gefühlt und getan haben, absolut und in jeder Hinsicht falsch war. Diese eine Frage hat die Macht alles in Frage zu stellen. Du wirst sehen, daß deine Vorstellung davon wer du bist und was du vom Leben erwartest eine Charade war, ein Maskenspiel, eine kindische Selbsttäuschung. Du hast dich mit einem Ich identifiziert, daß sich im Lichte diese Frage als reine Illusion erweist. Die Identifikation mit deinem Namen und deiner Biographie, deiner Arbeit und deinen Wünschen ist ein Irrtum gewesen!
Diese Einsicht kommt in diesen lichten Momenten, in denen uns die Frage auftaucht, als etwas so ungeheuerliches, etwas so furchtbares, daß wir die Frage verweigern. Wir stellen die Frage einfach nicht. Wir wissen, daß wir mit einer schrecklichen Selbsttäuschung leben, aber der Schmerz darüber ist so groß, daß wir ihn nicht ertragen. Wir fliehen vor dem Licht, das gekommen ist, um uns zu befreien. Und der Schmerz mancher Menschen über diesen Moment der Einsicht ist so groß, daß sie mit Zynismus oder Gewalt, rationale Vorurteile und Spott jene verfolgen, die sich dieser Frage stellen und mutig genug sind, die Antwort zu suchen. Sie sagen, es gibt kein solches Licht, diese Frage ergibt keinen Sinn, er ist in den Wolken verloren, er ist eine Gefahr für die Ordnung. Sie leugnen auch, selbst die Frage einmal gekannt zu haben.
Die Frage enthüllt uns - in meinen Worten gesprochen - wer wir wirklich sind. Dies bringt auch die Einsicht mit sich, wer wir nicht sind. Lege all diese Vorstellungen einmal ab, die du von dir und deinem Namen hast. Laß sie ziehen wie die Wolken am Himmel. Versuche dir vorzustellen, du liegst an einem warmen Strand am Meer, die Wellen rauschen und die Wolken ziehen. Und wie die Wolken ziehen, so laß einmal deine Vorstellungen gehen: du bist nicht dein Name, er ist nur leerer Schall; du bist nicht deine Arbeit, und nicht durch deinen Besitz definiert. Deine Zeit ist nicht begrenzt, sondern unendlich. Du hast alle Möglichkeiten, kannst alles sein oder nichts. Du gleitest durch die Unendlichkeit wie ein Fisch im Ozean, wie ein Schwan in der Weite des Himmels. Nichts steht zu tun an, nichts drängt und muß geschehen. Du bist kein kleiner, beschränkter Mensch, sondern ohne Grenzen.
Manchmal kommt die Frage aber auch auf ganz andere Weise zu uns. Dann scheint alles um uns zusammenzubrechen: unsere Sicherheit erweist sich als Trugschluß: es gibt sie nicht und hat sie nie gegeben. Du weißt, daß das wahr ist, jetzt und immer! Dann häufen sich die Unglücksfälle, wie du es nennst: Krankheit, Verlust, Streit, Armmut. Auf welche Weise es auch zur dir kommt: Du hältst plötzlich inne, und kannst nicht mehr weiter wie bisher. Es gibt kein weiter so, und du weißt es auch. Aber wohin strebst du dann? Zurück oder voraus? Manchmal geht mir durch den Kopf, daß uns der Kosmos eine kräftige Watschen verpassen muß, damit wir wach werden. Aber viele Menschen streben wieder zurück, anstatt die Chance zu nutzen.
Die Antwort, die so ungeheuerlich ist, daß sie zugleich im größten Glück wie im tiefsten Schmerz zu finden ist, stellt nichts geringeres dar als den Universalschlüssel zu allen Dingen: wer wir sind, was wir tun sollen, wer die anderen sind und was der Kosmos für uns ist. Wir kommen auf einen Weg, der uns offenbart, daß wir keinen kleinen Menschlein sind, sondern erleuchtete Wesen, die sich im Spiel des Lebens vergessen haben. Mir kam einmal der Satz in den Sinn: "Menschen sind kleine Kinder, die vergessen haben, daß sie ein Spiel spielen." Wir wollen nicht aus uns zurück treten. Da sind Termine, Verpflichtungen, Bande, Aufgaben und ein ganzes Heer von Fesseln. Aber das sind nicht wir. Wenn ein Mensch innerlich heraustritt, dann hört er nicht auf, ein Mensch der Erde zu sein. Aber er trägt etwas in sich, daß ihn zu viel mehr werden läßt. Er hat ein innerliches Licht, welches sich niemals verdunkelt, einen Kompaß, der ihn immer weiter führt. Er hat das göttliche als etwas in sich selbst leuchtendes gesehen und weiß, daß es auch in allen anderen leuchtet. Er hat gesehen, daß er in Wahrheit nicht dieses verhärmte, eilige, geschwätzige Ich ist, sondern ein göttliches Wesen mit allen Kräften und der Unendlichkeit als sein Leben.
Dieses Dasein als sein wahres Selbst verändert ihn. Für viele wird er als Egoist gelten, für andere aber auch in höchstem Maße fürsorglich und voller Mitgefühl. Beides sind Fehleinschätzungen, die darauf beruhen, daß sie von ihm als ein Ich ausgehen. Wer sich mit seinem höheren Selbst identifiziert, der weiß, daß er mit allen verbunden ist. Wenn er gibt, dann nicht aus Mitgefühl oder der Dankbarkeit wegen, sondern in gleicher Weise, wie man einen verletzten Finger seiner eigenen Hand versorgt. Zugleich folgt er nur seiner inneren Notwendigkeit, denn er weiß, daß er letztlich nur dieses innere Licht hat. Er ist in gewisser Weise der einsamste Mensch, denn die anderen sind ihm für allezeit Fremde. Und von diesem Weg gibt es keine Umkehr. Dennoch fühlt er sich nie allein, denn er hat alles in sich gefunden. Er wird dennoch kein Eremit, zumindest nicht äußerlich, denn er strebt danach, anderen zu helfen ihr inneres Licht zu finden, und jeder neue Bruder und jene neue Schwester des Pfades ist ihm eine unendliche Bereicherung. In diesem einen Schlüssel, der dir sagt, wer du wirklich bist, liegt alles Glück. Darin verwandelt sich jeder Schmerz in ein Sakrament der Stärke und jeder Moment des Lichtes erfüllt uns so sehr, daß wir für einen Augenblick des Lichtes alle Plagen des Lebens auf uns nehmen würden, selbst wenn diese unerschöpflich wären. Wer diese innere Stimme als seine eigene gehört hat, dies Licht als seine wahre Natur sah, der weiß, was Notwendigkeit bedeutet, der kann nicht fliehen vor sich selbst, auch wenn der Weg dahin reine Qual wäre. Auch kann er keine Hilfe mehr erhalten, denn niemand kann ihm helfen, er selbst zu sein, und auch wünscht er keine Hilfe, er selbst zu sein. In diesem Licht werden gut und böse, wahr und falsch, Leben und Tod, ich und du unbedeutend. Das Viele verschmilzt zu dem Einen, das man selbst ist. Wer sich dem inneren Licht verbindet, den wird es immer wieder berühren, auch wenn wir uns für eine längere Zeit wieder einmal vergessen, getrieben durch die Rastlosigkeit der Welt. Es hebt uns heraus und wir sehen, daß alle unsere dunklen Irrungen nur weitere leuchtende Mosaiksteine unseres inneren Tempel gewesen sind.
Wer sich als heilig erkannt hat, dem ist das ganze Universum heilig geworden. Das sind wir wahrhaft selbst. Wenn du das gefühlt hast, dann steht es dir frei, wieder zurück zu treten und wieder ein Mensch zu sein, ein Ich mit einem Namen, einer Karriere, Terminen und Aufgaben. Aber es steht dir frei, wieder aus dir herauszutreten und nach diesem anderen selbst, das du in Wahrheit bist, zu suchen. So wie jeder Mensch das Recht hat, sich als göttliches Selbst frei nach seinem wahren Willen zu entfalten.
Aber sei dir bewußt, daß die Frage immer wieder an dich herangetragen wird; der Kosmos wird dich wieder und wieder dahin treiben, denn die Zeit hat kein Ende für dich. Und auch Parzifal kam nach langer Irrfahrt wieder zur Burg des Heiliges Grales und stellte die Frage. So wurde er zum Gralskönig, wie es die Bestimmung jedes Menschen ist, ein König zu sein.

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