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Travels to the Nanoworld.
Miniature Machinery in Nature and Technology |
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Expeditionen in den Nanokosmos:
II. Das unerreichte Vorbild: Die Zelle als nanotechnologischer GroßbetriebZellen können alles. Nicht jede für sich. Aber zu fast jeder Aufgabe, die man an ein submikroskopisch kleines Etwas stellen kann, gibt es eine Zelle, die sie erfüllen kann. Sie wollen einen lebenden Kompaß? Kein Problem, magnetotaktische Bakterien wissen, wo Norden ist. Ein Mittel gegen die Ölpest? Auch dafür gibt´s Bakterien. Einen Sauerstoff-Transporter? Unsere roten Blutkörperchen machen den lieben langen Tag nichts anderes. Einen Nanomotor? Unsere Muskelzellen enthalten hunderte. Zwei spiegelbildliche Molekülformen bilden äußerlich identische Kristalle. Kann man sie dennoch auseinandersortieren? Man kann, wenn man Zellen um Hilfe bittet. Egal ob man Silber anreichern, Toluol abbauen, oder hochwirksame Gifte herstellen will, ob man ein Mineral in amorpher, oder kristalliner Form abscheiden will, ob man chemische Energie in Bewegung, Wärme, oder Licht umwandeln oder umgekehrt daraus gewinnen will, die Natur hat eine platzsparende Lösung für jedes dieser technischen Probleme. Für die allermeisten Problemlösungen, die als Anregungen für Nanotechnologie dienen könnten, sind in der Zelle Proteine zuständig -- insbesondere für die Chemie und die Feinmechanik der Zelle.
1. Proteine -- die Nanomaschinen der ZelleProteine<$IProtein> erledigen in der Zelle die Arbeit. Sie erfüllen eine immense Vielfalt von Aufgaben, für die eine nicht minder beachtliche Vielfalt von Proteinen bereitsteht. Selbst eine relativ einfache Zelle, etwa unser ständiger Begleiter, das Darmbakterium Escherichia coli<$IEscherichia coli>, stellt fortlaufend mehrere tausend verschiedene Proteine her. Kleine und große, wasserlösliche und fettlösliche, die sich in die Zellmembran einlagern, saure und basische, kugelrunde und langgestreckte Proteine. Jedes ist ein Individuum, und allgemeine Aussagen, die über die chemischen Prinzipien des Aufbaus aus Aminosäuren hinausgehen, sind schwer zu treffen. So wie Biochemiker sich ein einzelnes Molekül oder eine kleine Gruppe als Studienobjekt herausgreifen (und dabei nur zu leicht der Versuchung erliegen, ihre Beobachtungen zu verallgemeinern und auf den Rest der Proteinwelt zu übertragen), wollen wir in den folgenden Kapiteln anhand einiger Beispiele sehen, was einige bestimmte Proteine können. Im Sinne der Expeditionen in ein weites, großenteils noch unbekanntes Land, sollen nur einige kleine Streifzüge geschildert werden, einige Einblicke in die Funktionsweise dieser natürlichen Nanowelt gegeben werden, aus denen wir dann -- Reisen bildet -- Grundlagen und Anregungen gewinnen können für die ersten Versuche des Menschen, eigene Bauwerke und Fabriken in der Nanowelt zu errichten.
Molekulare Motoren in Aktion: Endlich Bewegung in der MuskelforschungMancher Zeitgenosse hält sich einiges auf seine Muskelkraft<$IMuskel> zugute. Doch dieser Stolz verträgt sich schlecht mit dem Snob-Appeal, den wir Angehörige der Species Homo sapiens mit unserer Stellung im Tierreich verbinden. Nicht nur die Skelettmuskeln der Wirbeltiere, auch die Schließmuskeln der Muscheln<$IMuschel> und anderer Wirbelloser funktionieren genauso wie unsere Kraftpakete. Ob also Arnold Schwarzenegger seinen Bizeps spielen läßt oder eine Jakobsmuschel ihre Schalen auf- und zuklappt, ist, auf molekularer Ebene, im Grunde das gleiche. Ein Muskel verkürzt sich (um ca. ein Drittel seine Länge im entspannten Zustand), weil in jeder einzelnen Zelle die miteinander verzahnten dünnen und dicken Filamente aneinander vorbei gleiten. Das Protein Myosin<$IMyosin>, das mit seinem langen Schwanz in den dicken Filamenten verankert ist, und mit seinem Kopf die hauptsächlich aus Actin<$IActin> bestehenden dünnen Filamente festhalten oder loslassen kann, wird als der Motor dieser Bewegung angesehen, deren Treibstoff der zelluläre Energieträger Adenosintriphosphat (ATP)<$IATP> ist. Obwohl diese Vorstellungen bereits in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelt wurden, blieb die treibende Kraft, der Mechanismus, über den die aus dem Abbau von ATP gewonnene Energie in die Gleitbewegung der Filamente investiert wird, bis heute im Dunkeln, und in der Muskelforschung bewegte sich jahrelang kaum etwas voran. Das könnte sich sehr bald ändern, nachdem in den Jahren 1993/94 geradezu eine Flut von (bisher schmerzlich vermißten) Detailinformationen über die räumlichen Strukturen der beteiligten Proteine<$IProtein> hereingebrochen ist, und es überdies den Biophysikern sogar gelang, einzelne Moleküle der Motorproteine in ihrem Bewegungsablauf zu beobachten. Den Auftakt für ein turbulentes Dreivierteljahr in der Erforschung dieser linearen molekularen Motoren lieferten Ivan Rayment und seine Mitarbeiter an der Universität von Wisconsin, die im Juli 1993 die Kristallstruktur<$IKristallstruktur> des Myosin-Kopfes vorstellten. Um das Protein, das sie aus Hühnermuskeln gewannen, überhaupt kristallisierbar zu machen, mußten die Forscher den ca. 160 Nanometer langen Schwanz abzwicken und leichte chemische Modifikationen an dem Kopf vornehmen, der alle wichtigen Funktionselemente enthält und auch ohne den Schwanz mit Actin- Filamenten wechselwirken kann. Aus dem atomaren Aufbau des Myosin-Kopfes und der bereits seit 1990 bekannten Struktur des Actin errechnete Rayments Arbeitsgruppe ein Modellbild für die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Komponenten und verfeinerten damit das herkömmliche Gleitfilament-Modell der Muskelkontraktion (Abb. 6). Aufgrund der räumlichen Anordnung der beweglichen Teile des Actin-Myosin-Motors konnten die Forscher die Schrittweite bei einem einzelnen Bewegungszyklus (Abbau eines ATP-Moleküls) eingrenzen: sie mußte zwischen sechs und zwanzig Nanometer betragen. Ein sensationeller Durchbruch konnte wenig später mit einem weiteren Motorprotein, dem Kinesin<$IKinesin> erzielt werden. Karel Svoboda und Mitarbeiter brachten das Molekül, das sich in der Zelle an den Mikrotubuli entlanghangelt und dabei ganze Zellorganellen mitschleppen kann, dazu, ein Kügelchen aus Silicagel durch einen zweigeteilten Laserstrahl hindurchzuziehen. Aus den Interferenzmustern des aufgefangenen Laserlichtes konnte die Bewegung mit unvorstellbarer Genauigkeit bis auf einen Nanometer genau rekonstruiert werden. Die Forscher kamen zu dem Schluß, daß Kinesin sich in einzelnen Schritten von jeweils acht Nanometern bewegt. Unglücklicherweise ist die molekulare Struktur des Kinesin noch nicht bekannt, so daß dieser Bewegungsablauf nicht genauer beschrieben werden kann. Deshalb war es wiederum ein bedeutender Fortschritt, als die Arbeitsgruppe um James A. Spudich in Stanford die Interferenz-Methode nochmals verfeinern und dann auch auf (aus Kaninchenmuskeln isolierte) einzelne Myosin-Moleküle<$IMyosin> anwenden konnte. In dieser Studie wurde auch eine Gegenkraft angelegt, die solange gesteigert wurde, bis die Bewegung zum Stillstand kam. Auf diese Weise konnte nicht nur die Bewegungsschrittweite (11 nm) sondern auch die Kraft der Muskelmoleküle gemessen werden. Sie betrug 3-4 Piconewton (Ein pN ist ein millionstel Millionstel der Kraft, die man aufwenden muß, um eine Masse von 102 Gramm hochzuhalten). Kurz nach dieser Arbeit erschien wiederum eine röntgenkristallographische Untersuchung eines Muskelproteins. Diesmal wurde aus dem Motor, der den Kamm-Muscheln<$IMuschel> (z.B. der Jakobsmuschel) zum Öffnen und Schließen ihrer Gehäuse und damit auch zum Schwimmen dient, sozusagen das Gaspedal herausgepickt: ein kleiner Bereich auf der von den dünnen Filamenten abgewandten Seite des Kopfes, welcher die Aktivität der ATP-abbauenden Funktion des Myosin-Kopfes drosseln kann. Ob diese sogenannte regulatorische Domäne Gas gibt oder drosselt, hängt von der Konzentration der Kalzium-Ionen in der Muskelzelle ab. Die Kristallstruktur, welche die Arbeitsgruppe von Carolin Cohen an der Brandeis University in Zusammenarbeit mit drei weiteren Gruppen erstellte , verspricht nicht nur Aufschluß über die Funktionsweise dieses Drosselventils, das im Myosin<$IMyosin> der Wirbeltiere nicht existiert, sondern ergänzt auch in anderer Hinsicht die oben erwähnte Struktur des ganzen Myosin-Kopfes. So waren in diesem Fall keine chemischen Modifikationen erforderlich, und das Muschel-Protein liefert in einem gewissen Bereich ein scharfes Bild, wo das Hühner-Myosin aufgrund verschiedener Unterarten (Isoformen) nur "verwackelte" Strukturen ergibt. Zusammengenommen bedeuten diese Studien, daß die Aufklärung der molekularen Mechanismen der Muskelkontraktion<$IMuskel> in greifbare Nähe gerückt ist. Sobald die Strukturkoordinaten über Datenbanken allgemein zugänglich sind, können die Arbeitsgruppen, die über die letzten drei Jahrzehnte geduldig kleine Teile des Puzzles sortiert haben, beginnen, aus den Teilen ein Ganzes zu machen. Nach langem Stillstand ist die Muskelforschung in Bewegung gekommen.
Düngemittel aus der Luft: Die Wege der Natur sind eleganter als das Haber-Bosch-Verfahren Pflanzen stehen vor einem paradoxen Versorgungsproblem. Eines der Elemente, die sie zum Wachstum am dringendsten benötigen, ist Stickstoff. Und die Luft, die sie umgibt besteht zu 78 Volumenprozent aus Stickstoff, doch, da das Element so reaktionsträge ist, können sie mit diesem immensen Vorrat nichts anfangen. Die Umwandlung des elementaren Stickstoffs in für Pflanzen, Tiere und Menschen verwertbare Stickstoff-Verbindungen findet im wesentlichen auf zwei Wegen statt. Einhundert Millionen Tonnen des Elements werden pro Jahr durch Reaktion mit Wasserstoff zu Ammoniak, den Grundstoff für alle stickstoffhaltigen Synthesechemikalien und vor allem auch für die Düngemittelproduktion, umgesetzt. Zu diesem Zweck wird ein immenser technischer Aufwand betrieben: Nach dem Verfahren<$IHaber-Bosch-Verfahren>, das von Fritz Haber<$IHaber, F.> entwickelt und von Carl Bosch<$IBosch, C.> zur großtechnischen Anwendbarkeit geführt wurde, sind hohe Drücke (200 Atmosphären), hohe Temperaturen (500 Grad Celsius) und aufwendige Katalysatoren<$IKatalysator> erforderlich, um magere 18 % des eingesetzten Stickstoffs zur Reaktion zu bringen. Ebenfalls einhundert Millionen Tonnen Stickstoff pro Jahr setzt die Natur in Gestalt einzelliger Mikroorganismen zu Ammoniak um, den sie als Grundbaustein für die stickstoffhaltigen Biomoleküle wie Proteine, Nucleinsäuren etc. benötigt. Über die Pflanzen, mit denen diese Organismen in Symbiose leben, gelangen die Stickstoffverbindungen in die Nahrungskette und erreichen indirekt alle Lebewesen. Die Natur geht jedoch sehr viel eleganter vor als der Mensch -- sie führt die Reaktion (die man in diesem Zusammenhang als "Stickstoff-Fixierung"<$IStickstoff-Fixierung> bezeichnet) bei Normaldruck und Normaltemperaturen und benutzt als Katalysator ein spezialisiertes Enzym<$IEnzym>: die Nitrogenase<$INitrogenase>. Die Frustration ganzer Chemikergenerationen, keinen Katalysator<$IKatalysator> gefunden zu haben, der das nachvollziehen kann, was in der Natur offenbar so einfach ist, könnte jetzt bald ein Ende finden. Nachdem von den beiden Proteinen, die zusammen das Nitrogenase-Enzym bilden, nunmehr hochaufgelöste Strukturen<$IKristallstruktur> vorliegen, bestehen gute Chancen für eine baldige Aufklärung des Mechanismus. Bisher weiß man nur in etwa, wie die Arbeitsteilung zwischen den beiden Proteinen<$IProtein> abläuft: Das Eisen-Protein, das so genannt wird, weil es in seinem aktiven Zentrum einen Komplex aus Eisen- und Schwefel-Atomen enthält, pumpt Elektronen zu dem Molybdän-Eisen-Protein, das neben Eisen-Schwefel-Komplexen auch eine Verbindung des Eisens mit dem relativ seltenen Schwermetall Molybdän (bekannt als Legierungsbestandteil im Molybdänstahl) enthält. Jeder Stoß dieser Elektronenpumpe treibt das Molybdän- Eisen-Protein eine Stufe weiter voran in einem achtstufigen Kreislauf von der Aufnahme des Stickstoffs bis zur Freisetzung des Ammoniaks, auf die erneute Stickstoffbindung folgen kann. Daß es acht Stufen sein müssen, weiß man, weil acht Elektronen benötigt werden, um aus einem Stickstoffmolekül und acht Wasserstoffionen zwei Moleküle Ammoniak und ein Molekül Wasserstoff zu machen. Während die Elektronentransportvorgänge sich durch Analogieschluß anhand ähnlicher Gegebenheiten in der Photosynthese erklären lassen, liegen die Einzelheiten dieses Kreisprozesses noch vollkommen im Dunkeln. Man kennt bisher nur ein einziges Zwischenprodukt, das sich isolieren läßt, wenn man die Nitrogenase in flagranti erwischt: nämlich das Hydrazin, eine Verbindung aus zwei Stickstoff- und vier Wasserstoffatomen. Das Molybdän-Eisen-Protein ist allerdings nicht nur eine Kreiselpumpe sondern auch ein Elektronenschwamm. Führt man nämlich die Reaktion im Reagenzglas aus, so wird die erste Charge des Produkts (Ammoniak und Wasserstoff) schon freigesetzt, bevor alle acht benötigten Elektronen vom Eisen-Protein zum Molybdän- Eisen-Protein geflossen sind. Daraus schließt man, daß das Protein, genauer gesagt, die Metallkomplexe, die es in seinem aktiven Zentrum enthält, eine gewisse Speicherkapazität für Elektronen besitzt. Wenn nun anhand der vorliegenden Strukturmodelle der Mechanismus vollständig, d.h. mit allen Zwischenstufen und strukturellen Details, aufgeklärt werden soll, dann sind interdisziplinäre Ansätze besonders gefragt. Das Herzstück des Molybdän-Eisen-Proteins, ein sogenannter Cluster<$ICluster> aus einem Molybdän-, sieben Eisen- und vier Schwefelatomen, dessen genaue Struktur durch die vorliegenden Arbeiten noch nicht zweifelsfrei geklärt ist, ist ein typisches Untersuchungsobjekt für die moderne anorganische Chemie, die sich auch schon seit geraumer Zeit mit mehr oder weniger spekulativen Modellverbindungen aus Molybdän, Eisen und Schwefel befaßt, die zwar von der Frage nach der Struktur und Funktion des aktiven Zentrums der Nitrogenase inspiriert waren, aber nicht einmal die korrekte Zusammensetzung an Metallatomen enthielten. Demgegenüber sind die vorgeschlagenen Strukturen (Abb. 7) zwar realistischer, aber immer noch nur Modelle, die sich eines Tages als falsch erweisen können. Von diesen ausgehend können Anorganiker und Biochemiker nun versuchen, den Molybdän-Eisen-Cluster zu imitieren oder Strukturvarianten zu entwickeln. Mit Hilfe dieser neuen Strukturen könnten sie nicht nur zum Verständnis der Funktion der Nitrogenase<$INitrogenase> beitragen, sondern vielleicht auch eines Tages einen besseren Katalysator<$IKatalysator> finden, der die technische Ammoniaksynthese bei Normaldruck und Raumtemperatur ermöglicht.
Wenn Strukturbilder laufen lernen: Schnappschüsse einer EnzymreaktionStrukturbilder, welche die genaue Anordnung der vielen tausend Atome eines biologischen Makromoleküls, etwa eines Proteins<$IProtein>, wiedergeben, haben das Gesicht der modernen, d.h. der "molekularen" Biologie entscheidend geprägt. Sie beruhen meist auf Ergebnissen aus der Röntgenstrukturanalyse<$IKristallstruktur> von Kristallen der jeweiligen Substanzen. Diese klassische Methode liefert zwar schöne und oft bis auf den Durchmesser eines Wasserstoffatoms (0.1 nm) genaue Bilder, aus denen sich oft, wie in den oben beschriebenen Fällen der Muskel-Proteine und der Nitrogenase, wertvolle Hinweise auf die Funktionsmechanismen dieser "Nanomaschinen" gewinnen lassen. Andererseits vermittelt diese Darstellungsweise, bei der die Position eines jeden Atoms im Raum genau festgelegt ist, aber auch einen falschen, weil statischen Eindruck von Proteinstrukturen. Das liegt daran, daß die Messung der Röntgenbeugung am Kristall so langsam vonstatten geht, daß man zeitliche Strukturänderungen nicht sehen kann. Die Methode kann selbst langsame chemische Reaktionen, die sich über einige Minuten hinziehen, nicht entdecken, ganz zu schweigen von schnellen Fluktuationen, die sich in Millionstel Sekunden abspielen. Man kann nur statistisch erfassen, welche Strukturen mit welcher Häufigkeit auftreten, nicht aber, wie sie sich ineinander umwandeln. Um den Ablauf einer Enzymreaktion<$IEnzym> "sehen" zu können, müßte man die Meßzeiten drastisch verkürzen und die Reaktion in allen Molekülen eines Kristalls gleichzeitig starten können. Beides haben Kristallographen in den vergangenen Jahren mit enormem technischem Aufwand versucht. Sie verwendeten energiereicher Synchrotronstrahlung und führten die Gleichzeitigkeit des Reaktionsablaufs durch Laserblitz-Photolyse eines vorher "gefesselten" Substrat-Moleküls herbei. Eine Arbeitsgruppe im niederländischen Groningen hat 1993 demonstriert, daß dieser Aufwand entbehrlich ist. Man kann auch mit einfachen chemischen Tricks den zeitlichen Ablauf einer Enzymreaktion in Kristallstruktur-Bildern verfolgen, wenn man es schafft, die Reaktion so zu steuern, daß sie immer nur bis zu einem bestimmten Schritt abläuft. Das Enzym, für das die Niederländer sich interessierten, spaltet Chlor aus chlorierten Kohlenwasserstoffen ab (Abb. 8) und ist daher für eine mögliche biotechnologische Entschärfung dieser ozonschädigenden Substanzen im Gespräch. Tränkt man einen Kristall dieses Proteins im sauren Milieu (pH 5) bei 4°C mit einer Lösung eines geeigneten Substrats, etwa Dichlorethan, so wird dieses im aktiven Zentrum des Enzyms gebunden, aber nicht "bearbeitet". Die Röntgenstrukturanalyse dieses Kristalls liefert somit einen Schnappschuß vom ersten Schritt einer Enzymreaktion, der Erkennung und Bindung des Substrats durch das Enzym. Führt man dieselbe Prozedur hingegen bei 20°C durch, so geht die Reaktion einen Schritt weiter und endet bei einem Zwischenprodukt, in dem der Kohlenwasserstoffrest kovalent an das Enzym gebunden ist, während das bereits abgespaltene Chlor-Atom sich in Gestalt eines Chlorid-Ions im aktiven Zentrum befindet. Den dritten Schnappschuß erhält man schließlich aus einem Kristall, der zwei Tage lang bei Raumtemperatur und nur noch schwach saurem pH der Substratlösung ausgesetzt wurde. In diesem Fall ist der Kohlenwasserstoff-Rest wieder von dem Enzym getrennt und hat das aktive Zentrum verlassen, während das Chlorid-Ion immer noch dort verweilt. Einschließlich der Kristallstruktur<$IKristallstruktur> des unbeladenen Enzyms<$IEnzym> gibt es nun also vier Momentaufnahmen, die den Mechanismus dieser enzymkatalysierten Reaktion recht umfassend beschreiben. Zwischen den zwei Reaktionswegen, die bisher zur Diskussion standen, ist nun eine eindeutige Entscheidung möglich, denn nur einer von beiden verläuft über ein kovalentes Zwischenprodukt. Ein Film aus vier Bildern mag manch einem recht kurz erscheinen -- es ist aber zu bedenken, daß Enzymreaktionen unter günstigen Bedingungen in Millisekunden ablaufen, und daß dieser Kurzfilm damit die Bildfrequenzen von Fernsehen und Kino um Größenordnungen übertrifft. Im Vergleich zu den bisherigen Möglichkeiten der klassischen Kristallographie stellt diese Bilderserie einen enormen Fortschritt dar. War man bisher auf die Beschreibung eines einzelnen Standbilds beschränkt, welches das Enzym sozusagen in der Sackgasse zeigte, wenn es gerade einen unverdaulichen Brocken, etwa einen dem Substrat ähnelnden Inhibitor geschluckt hatte, so bringt die Methode der Groninger Arbeitsgruppe nicht nur mehr Information, sondern bleibt dabei auch näher am natürlichen Reaktionsweg. Und gegenüber der modernen Methode, die Synchrotronstrahlung und Laserblitze benötigt, hat dieses Verfahren den Vorteil, daß es so einfach ist wie das Ei<$IEi> des Kolumbus. Und mit genial-einfachen Ideen kann man auch 500 Jahre nach demselbigen noch (Welt-) Bilder in Bewegung bringen.
Maßgeschneiderte Kristalle: Proteine erkennen Kristalloberflächen und steuern deren Wachstum Warum, so fragte sich ein 25jähriger frischgebackener Pariser Chemiker im Jahre 1848, warum vermochte die Traubensäure, die sich doch chemisch ebenso verhielt wie Weinsäure, im Gegensatz zu dieser die Ebene des polarisierten Lichts nicht zu drehen? Er stellte eine übersättigte Lösung des Ammoniumsalzes der optisch inaktiven Traubensäure her und ließ sie über Nacht auf der Fensterbank seines Labors kristallisieren. Tags darauf entdeckte er unter dem Mikroskop zwei Arten von Kristallen<$IKristall>, die sich -- wie ein rechter und ein linker Handschuh -- nicht zur Deckung bringen ließen, obwohl sie sonst dieselbe Geometrie hatten. Geduldig klaubte er mit einer Pinzette und dem Mikroskop die links- und rechtshändigen Kristalle auseinander. Er stellte von je einer Probe der beiden Kristallsorten eine Lösung her und maß deren optische Eigenschaften in einem Polarimeter. -- Die Kristalle, die exakt die Form von Weinsäurekristallen hatten, ergaben eine rechtsdrehende Lösung ebenso wie diese. Die zweite Lösung drehte das polarisierte Licht auch, und zwar um den gleichen Betrag in die entgegengesetzte Richtung. Damit hatte Louis Pasteur<$IPasteur, L.> aus der Chiralität<$IChiralität> (Händigkeit) der Kristalle die Chiralität der Moleküle abgeleitet -- zu einer Zeit als man über deren Aufbau praktisch nichts wußte. Knapp eineinhalb Jahrhunderte später sortierten Wissenschaftler wiederum Kristalle spiegelbildlicher Moleküle unter dem Mikroskop auseinander. Diesmal handelte es sich um ein Salz der Weinsäure, das Calciumtartrat. Das scheint unmöglich, da die beiden Spiegelbild-Versionen (Enantiomere) dieser Verbindung dieselbe, symmetrische, d.h. nicht chirale Kristallform bilden. Streicht man jedoch lebende Zellen, etwa kultivierte Nierenzellen des Krallenfroschs<$IKrallenfrosch> Xenopus laevis auf einer gemischten Kristallsuspension aus, so können diese die scheinbar gleichen Kristalle sehr wohl unterscheiden und siedeln sich in der ersten Phase des Experiments ausschließlich auf bestimmten Flächen der Kristalle der RR-Enantiomeren an. Mit dem an Pasteur angelehnten Sortier-Experiment konnten Lia Addadi und ihre Mitarbeiter am Weizmann-Institut in Rehovot (Israel) zeigen, daß der Zellenbewuchs in den ersten Stunden des Experiments ein zuverlässiges Kriterium für die Trennung der enantiomeren Formen ist. Doch für die Zellen, die sich schnell für die "richtigen" Kristalle entschieden hatten, zeigt sich bald (d.h. nach etwa 24 Stunden) die Kehrseite der Medaille -- die Bindung ihrer Zelloberflächenmoleküle an die kristalline Oberfläche ist so fest und starr, daß die Zellen absterben. Auf den "falschen" Kristallen, hingegen, welche die Pioniergeneration der Zellen verschmäht hatte, siedelt sich nun langsam eine kleinere, weniger fest gebundene Population von Zellen an, die an diesem Standort tagelang überleben kann. Daß die Moleküle der Zelloberfläche, wie hier demonstriert, in identischen Kristallformen die Chiralität der die Kristalle aufbauenden Moleküle erkennen<$Imolekulare Erkennung> können, ist nur ein Beispiel für die vielfältigen, und oft verblüffend spezifischen Wechselwirkungen zwischen biologischen Makromolekülen<$IMakromolekül> und Kristallen. In einer neueren Arbeit konnte Addadis Gruppe zeigen, daß Antikörper<$IAntikörper> gegen verschiedene Salze der Harnsäure<$IHarnsäure>, sowie gegen die dem Harnsäure-Ion verwandte, aber neutrale Verbindung Allopurinol jeweils die Kristallisation genau der Verbindung, durch deren Kristalle die Antikörperbildung angeregt wurde, im Stadium der Keimbildung (Nukleation) fördern (Abb. 9). Es handelt sich hier also gewissermassen um eine völlig neue Art von katalytischen Antikörpern, die aus der Oberflächenbeschaffenheit ausgereifter Kristalle die spezifische Bindungsstellen entwickeln, welche die Bildung des vielleicht aus 20 oder 30 Einheiten bestehenden Kristallisationskeims katalysieren. Was sich in dieser Beschreibung wie eine interessante biochemische Spielerei anhört ist tatsächlich ein alltäglicher physiologischer Vorgang von immenser medizinischer Bedeutung. Die Symptome eines Gichtanfalls<$IGicht> sind nämlich genau darauf zurückzuführen, daß sich Kristalle eines Harnsäure-Salzes in einem Gelenk anreichern, vom Immunsystem -- d.h. zunächst von Antikörpern -- als Fremdstoff erkannt werden (obwohl dieselbe Verbindung in gelöster Form keine Immunantwort auslöst), was eine Entzündung des Gelenks zur Folge hat. Die Ergebnisse von Addadis Arbeitsgruppe zeigen, daß die Auslösung der Entzündungsreaktion über die spezifische Erkennung durch Antikörper die wahrscheinlichste Erklärung ist. Sie legen außerdem nahe, daß (wie bei manchen anderen Krankheiten auch) das Immunsystem die Sache nur noch schlimmer macht, indem nämlich die gegen die Kristalle gerichteten Antikörper die Bildung weiterer Kristalle begünstigen und die Schwelle zu neuen Gichtanfällen herabsetzen. Und zum Verschwinden der Störenfriede kann die Immunantwort in diesem Fall nicht beitragen, da ihr Vernichtungssystem auf Makromoleküle und Zellen, nicht aber auf Kristalle eingerichtet ist. Proteine, welche mit Kristallflächen wechselwirken und dadurch die Bildung von Kristallen<$IKristall> fördern, hemmen, oder in eine bestimmte Kristallform (Morphologie) zwingen, können aber auch nützlich sein, etwa in der Biomineralisation<$IBiomineralisation>, oder zum Kälteschutz<$IKälteschutz>. Zur Erlangung von Frostresistenz bedienen sich höhere Organismen zweier genau entgegengesetzter Mechanismen. Manche Lebewesen verhindern das Gefrieren ihrer Körperflüssigkeiten durch Zusatz eines Frostschutzmittels -- meist einer inerten organischen Verbindung, die einfach den Gefrierpunkt der Mischung herabsetzt, manchmal aber auch mit Hilfe von Frostschutz-Proteinen, welche die Kristallisationskeime des Eises so binden, daß sie nicht weiterwachsen können. Genau das Gegenteil machen Eisnukleations-Proteine. Gewisse Frosch- und Schildkröten-Arten in Kanada überstehen den arktischen Winter indem sie sich "freiwillig" einfrieren.Wie kanadische Wissenschaftler herausfanden, können die Tiere nach bis zu zwei Wochen Dauerfrost -- wobei zeitweise 65 % ihres Wassergehalts als Eis vorliegt -- unbeschadet wieder aufgetaut werden. Sie reichern ihr Blut zu diesem Zweck mit Eisnukleationsproteinen an, die bewirken, daß die extrazelluläre flüssige Phase mit einem Schlag und ohne Schaden für die Zellen gefriert. Auch Bakterien aus den Gattungen der Pseudomonas, Xanthomonas und Erwina scheiden Eisnukleationsproteine aus, um die Eisbildung in ihrer direkten Umgebung zu steuern. Pseudomonas syringae wird deshalb zur Herstellung künstlichen Schnees verwendet, was allerdings aus Umweltschutzgründen umstritten ist, da diese Bakterien lösen bei bestimmten Pflanzen Krankheiten auslösen können. Gängige Modellvorstellungen über die Funktionsweise der Eisnukleationsproteine besagen, daß die in ihrer Sequenz aus zahllosen Wiederholungen relativ kurzer Aminosäureblöcke bestehenden Proteine eine beta-Faltblatt-Struktur ausbilden, die offenbar in ihrer Periodizität einer Kristallfläche des Eises entspricht. Schließlich beruht der Vorgang der Biomineralisation<$IBiomineralisation>, dem wir unsere Knochen und Zähne, und zahlreiche Tiere wie Muscheln Schnecken, Krebse ihre Schalen verdanken, darauf, daß Biomoleküle die Bildung fester Phasen steuern können. Sie entscheiden, ob die Mineralisierung zu amorphen oder (mikro)kristallinen Phasen führt, und können auch die Kristallisation auslösen, zu bestimmten Kristallformen (Morphologien) lenken, räumlich begrenzen und beenden. In vielen Fällen (allerdings nicht im Wirbeltierknochen) führt eine Klasse von Proteinen die Regie, deren Mitglieder ob ihrer exotischen Eigenschaften oft nicht als Proteine sondern als "ungewöhnlich saure Makromoleküle" bezeichnet werden. Auffallend ist vor allem ihr extrem hoher Gehalt an sauren Aminosäureseitenketten -- jede zweite bis jede dritte Aminosäure in der Sequenz ist Asparaginsäure -- , sowie eine große Zahl von Zucker -- und Phosphorsäurebestandteilen, die an bestimmte Aminosäuren nach der Proteinbiosynthese angeknüpft werden. Zum Beispiel kann der Anteil der posphorylierten Aminosäure Phosphoserin in einem solchen Molekül bis zu 50% betragen. All diese Eigenschaften bewirken, daß diese Proteine mit herkömmlichen Reinigungs- und Charakterisierungsmethoden nur schwer zu fassen sind. Oft lassen sich nicht einmal die Molekulargewichte mit hinreichender Genauigkeit bestimmen. Vermutlich können sie ähnlich wie die Eisnukleationsproteine ausgedehnte beta-Faltblatt-Strukturen<$Ibeta-Faltblatt> bilden. Obwohl man im Reagensglas nachweisen kann, daß die Anwesenheit dieser Moleküle die Kristallisation der Mineralstoffe, die etwa Muschel-<$IMuschel> oder Eierschalen bilden, beeinflußt und zu Materialien führt, die oft den natürlichen verblüffend ähneln, ist der Mechanismus ihrer Einwirkung in der lebenden Zelle umstritten. Denkbar wäre, daß die sauren Proteine in Lösung und/oder an eine Membran gebunden die Keimbildung, Orientierung der Keime, und/oder das Wachstum der Kristalle beeinflussen. In vielen Fällen -- etwa bei den stets in derselben Richtung spiralig gewundenen Schneckenhäusern -- führt die Steuerung der Kristallisation durch chirale Biomoleküle dazu, daß das resultierende makroskopische Objekt ebenso wie Pasteurs Kristalle der Traubensäure eine Händigkeit<$IChiralität> aufweist, obwohl die Bausteine (Calciumphosphat) in diesem Fall achiral sind.
2. Vom Gen zum Protein
Nachdem wir uns nun von der Nützlichkeit der Proteine<$IProtein> überzeugt haben, bleibt die Frage: wie macht man ein Protein? Wie macht die Zelle ihre Proteine (man ahnt es fast -- mit Hilfe anderer Proteine!)? Und wie kann man ähnlich wirksame Nanomaschinen für nichtbiologische Systeme herstellen? In der Zelle ist der Weg festgelegt: Vom Bauplan (DNA<$IDNA>) zur Boten-RNA<$IRNA>, zur unstrukturierten Aminosäurekette, zum gefalteten Protein, und schließlich, nach Ablauf des Verfallsdatums zum Abbau. Entlang dieses Weges finden sich viele hochaktuelle Forschungsgebiete, vom Genomprojekt über die Faltungshelfermoleküle bis zum "Proteasom". Deshalb wollen wir dem Lebensweg eines Proteins folgen, und dabei auch einige kleine Abstecher zu aktuellen Forschungsprojekten machen. Auf allen Stationen werden uns wiederum Proteine begegnen, die als Polymerisations-Katalysatoren, Faltungshelfer, und als Zerstörungsmaschinen tätig sind. Doch zunächst wollen wir einen Blick in die Baupläne werfen. Die Sprache der Gene: Methoden der Linguistik helfen bei der Entschlüsselung der Erbsubstanz Victor F., Student der Naturphilosophie zu Genf, versuchte es mit Brachialmethoden. Knochen aus dem Schlachthaus und dem Sezierzimmer waren das Baumaterial, aus dem er versuchte einen Menschen zu fabrizieren. Das Ergebnis war mehr ein Monster als ein Mensch und brachte am Ende seinen Schöpfer ums Leben und die Zunft der Wissenschaftler nachhaltig in Verruf. Da Mary Shelleys Roman "Frankenstein" 1816 erschien, konnte ihre Kreatur noch nicht wissen, daß der Bauplan des Menschen, der festlegt, wie sich eine befruchtete Eizelle zu einem hochkomplexen und in der Regel nicht monströsen Lebewesen entwickelt, in jedem einzelnen Vertreter der Spezies in Milliardenauflage vervielfältigt wird. Jede Zelle enthält in ihrem Kern eine doppelte Abschrift der mindestens 30000 Gene<$IGen>, die alle unsere erblichen Eigenschaften bestimmen, sichtbare, wie Augenfarbe und abstehende Ohren, ebenso wie unsichtbare, etwa Gestalt und Funktion der den Stoffwechsel regulierenden Enzyme. HUGO (Human Genome Project) ist ein weltweites Forschungsprojekt, das 1988 ins Leben gerufen wurde, um diesen Plan zu entschlüsseln. Anstatt fortwährend bestimmte Gene, etwa für Erbkrankheiten, Krebsanfälligkeit, etc., wie Nadeln im Heuhaufen zu suchen, hat man sich vorgenommen, den Heuhaufen Strohhalm für Strohhalm auseinanderzusortieren und zu beschreiben. Das Unternehmen, das auch aus ethischen Gründen umstritten ist, scheint auf den ersten Blick aussichtslos -- mit den Techniken von 1990 wären dafür mehr als100000 Forscherjahre notwendig. Diesem Problem versuchen die Genforscher durch Entwicklung effizienterer und weitestgehend automatisierter Methoden zur bestimmung der Abfolge (Sequenz) der Bausteine des Erbmaterials DNA<$IDNA> zu begegnen. Doch selbst wenn man die Methoden und Arbeitskräfte zur Sequenzierung aller menschlichen Gene verfügbar hätte, stellte sich sofort ein weiteres schweres Problem: die Gene verteilen sich wiederum auf einen noch gigantischeren Heuhaufen aus scheinbar nichtssagenden DNA-Abschnitten, und man wüßte nur zu gerne, wie man die biologisch relevanten DNA-Abschnitte schnell und einfach von den sie umgebenden "sinnlosen" Bereichen unterscheiden könnte. Dafür könnte sich ein ungewöhnlich interdisziplinärer Ansatz nützlich erweisen, über den Graziano Pesole und Mitarbeiter von der Universität Bari (Italien) im Jahre 1994 berichteten. Statistische Methoden der Linguistik<$ILinguistik> sollen helfen, diejenigen Sequenzabschnitte ausfindig zu machen, die eine "Botschaft" haben. Weiterhin könnten sie auch dazu beitragen, diese Botschaften zu entziffern und in Beziehung zu verwandten Sequenzen zu setzen. Parallelen zwischen der genetischen "Sprache"<$ISprache> und den Sprachen der Menschen sind zahlreich -- nicht umsonst verwenden Genetiker und Biochemiker viele aus dem Bereich der Sprache übernommene Begriffe. Sie sagen etwa, daß der genetische Code die Übersetzung (Translation) zwischen Nukleinsäuren und Proteinen festlegt. Dabei besteht die Sprache der Gene nur aus vier Buchstaben. Die Wörter (Codons) der Genetik enthalten jeweils drei Buchstaben, deren Gruppierung durch den Leserahmen<$ILeserahmen> bestimmt wird. Prinzipiell könnte eine Reihe aus n Nukleinsäurebausteinen (Nukleotiden) 4n mögliche "Sätze" bilden. Schon für kurze DNA-Abschnitte steigt diese Zahl schnell ins Astronomische. Ein typisches Startsignal für die Transkription eines Gens in eine Boten-RNA<$IRNA> enthält sieben Bausteine -- macht 16384 Variationsmöglichkeiten. Daraus, daß nur sehr wenige dieser Möglichkeiten in der Natur genutzt werden, schließt man, daß es so etwas wie eine Grammatik der DNA geben muß, der es allerdings an Interpunktion mangelt, sowie an der Möglichkeit, sprachliche Umsetzung durch Zwischenräume zu strukturieren. Auch in ihrer Nicht-Eindeutigkeit ähnelt die genetische eher der gesprochenen als der geschriebenen Sprache. Jenseits dieser Ebene der anschaulichen Ähnlichkeiten zwischen genetischer und menschlicher Sprache sind die linguistisch-statistischen Methoden jedoch äußerst abstrakt und können nur durch einen Wust von Gleichungen beschrieben werden. Genlinguisten analysieren zum Beispiel, wie sich eine gegebene Abfolge von DNA-Nukleotiden in kürzere Wörter zerlegen läßt. Da sie aber nicht von vornherein wissen, ob der betrachtete DNA-Abschnitt<$IDNA> einen Sinn ergibt, müssen sie alle möglichen Unterteilungen betrachten und statistisch auswerten. Sie untersuchen etwa die linguistische Homogenität eines "genetischen Textes", den sie in "Markowsche Ketten" zergliedern oder beschreiben die "Komplexität" einer gegebenen Sequenz, indem sie sich wiederholende Motive durch einfache Abkürzungen ersetzen. Auf diesen Vorgehensweisen bauen sie dann komplizierte Algorithmen (Rechenvorschriften) auf, die zur Beschreibung genetischer Sequenzen und zur Prognose ihrer biologischen Relevanz verwendet werden können. Diese Algorithmen ähneln in gewisser Weise jenen, die Evolutionforscher<$IEvolution> zum Auffinden von Verwandtheitsgraden ersannen. Kein Wunder, schließlich sind unsere Sprachen ja auch, ebenso wie der genetische Code, ein Produkt der Evolution.
Fünf Minuten Frist für einen lebenswichtigen Auftrag: Das kurze Leben eines Insulinmoleküls Der Bauplan des Lebens liegt in dem Erbmaterial DNA, aber die Bausteine und Maschinenteile, mit deren Hilfe der Plan verwirklicht wird, sind andere Moleküle: Proteine<$IProtein>, Kohlenhydrate, Fette. Die größte Vielfalt in ihren Eigenschaften weisen die Proteine auf, obwohl sie alle nach denselben Prinzipien als lange Kettenmoleküle aus denselben Bausteinen, den Aminosäuren aufgebaut werden. Sie beschleunigen und kontrollieren als Enzyme<$IEnzym> die chemischen Reaktionen des Stoffwechsels, sie bilden Faserstrukturen, erkennen als Teile des Immunsystems Fremdstoffe und Krankheitserreger, sorgen für Bewegung im Muskel und für die Klarheit der Augenlinse. Ihre kleineren Verwandten, die Peptidhormone, bestehen aus weniger als 100 Aminosäurebausteinen und dienen der Übermittlung einfacher Informationen zwischen verschiedenen Zellen. Je nach ihrer Funktion ist die Lebensdauer von Proteinen sehr unterschiedlich. Peptidhormone, die ein Signal übermitteln, müssen zerstört werden, sobald die Information nicht mehr "aktuell" ist. Die Proteine der Augenlinse von Wirbeltieren hingegen müssen ein Leben lang halten, sonst wird die Linse trübe. Eines der kurzlebigen Proteine ist zum Beispiel das Insulin<$IInsulin> (Abb. 10), dessen aktive Form im Blut eine Lebenserwartung von etwa fünf Minuten hat. Es ist zu klein, um ein richtiges Protein zu sein, deshalb sagt man "Peptidhormon"<$IPeptidhormon>, aber die meisten allgemeinen Erkenntnisse aus der Biochemie der Proteine gelten für Insulin genauso wie für die großen, die Enzyme, Antikörper und Strukturproteine. Der Lebensweg des Insulins im Organismus beginnt wie der aller Proteine mit der Proteinbiosynthese. Ort der Handlung ist in diesem Fall eine der sogenannten B-Zellen der Langerhansschen Inseln (daher der Name Insulin) in der Bauchspeicheldrüse. Die Maschine, die Proteine herstellt, ist das Ribosom<$IRibosom>, das seinerseits wieder aus mehr als 80 Proteinmolekülen und vier Nucleinsäuresträngen besteht. Die Information, welcher Aminosäure-Baustein wann eingebaut werden soll, liest das Ribosom von einem Nucleinsäuremolekül, der Boten-RNA<$IRNA> ab. Weil die Information dabei aus der Sprache der Nucleinsäuren in die Sprache der Proteine übersetzt wird, heißt der Vorgang der Proteinbiosynthese auch "Translation". Die intensive Erforschung der Proteinbiosynthese und der Ribosomenstruktur in den letzten 25 Jahren durch relativ wenige, hochspezialisierte Arbeitsgruppen hat zwar ein grobgerastertes Bild von Aufbau und Funktion der beteiligten Moleküle erbracht, viele Detailfragen sind aber immer noch unbeantwortet. Das Ribosom synthetisiert ein Vorläufermolekül des Insulins, eine 103 Aminosäuren lange Kette. Da es pro Sekunde etwa fünf Aminosäuren einbauen kann, braucht es dafür nicht länger als 20 Sekunden. Die ersten 19 Bausteine sind eine sogenannte Signalsequenz. Das ist die Postleitzahl, die angibt, in welchen Bereich der Zelle das frisch hergestellte Protein verschickt werden soll. Kaum schaut die Signalsequenz aus dem Ribosom heraus, so tritt auch schon der Transportmechanismus der Zelle in Aktion. Ein freundlicher Helfer, das sogenannte Signalerkennungspartikel erkennt die Signalsequenz, unterbricht die Translation für kurze Zeit und dirigiert das entstehende Protein mitsamt dem Ribosom zu der Membran eines Zellkompartiments, das auf den schwierigen Namen Endoplasmatisches Retikulum hört, aber meistens nur ER genannt wird. Das Ribosom wird an dieser Membran angedockt und die Proteinkette sofort beim Entstehen durch die Membran hindurchgefädelt. Auf der anderen Seite der Membran, also im ER, wird die Signalsequenz abgespalten, da sie nun nicht mehr benötigt wird. Adressierung und Transport von Proteinen sind in den 80er Jahren intensiv erforscht worden und sind auch heute noch ein wichtiges Thema der aktuellen zellbiologischen Forschung. Die lange Kette aus nunmehr 84 Aminosäurebausteinen beginnt nun ohne fremde Hilfe, sich in ihre dreidimensionale Struktur zu falten, die das Protein später zur Ausübung seiner spezifischen Funktion brauchen wird. Ohne fremde Hilfe heißt, daß die ganze Information, die zur Ausbildung der räumlichen Struktur benötigt wird, in der Abfolge der Aminosäurebausteine enthalten ist. Aus der Membran des ER schnürt sich dann ein Kügelchen (Vesikel) ab, welches das Insulin weitertransportiert zum Golgi-Apparat, der Sortierstation der Zelle. Hier wird aus dem Molekül, das bis jetzt immer noch inaktiv war, ein 30 Aminosäuren langer Abschnitt entfernt. Dadurch wird das Insulin in zwei Teile -- die A- und die B-Kette -- zerteilt, die aber durch zwei Querverbindungen zusammengehalten werden. Diese Bindungen nennt man Disulfidbrücken, weil die entscheidende chemische Bindung zwischen zwei Schwefel-Atomen geknüpft wird. Die Zusammensetzung des Insulins aus zwei disulfidverbrückten Ketten und die Abfolge der Aminosäurebausteine innerhalb der Ketten wurden von dem britischen Biochemiker Frederick Sanger<$ISanger, F.> aufgeklärt, der für diese Leistung 1958 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Das aktive Insulin wird wiederum in kleine Membrankügelchen verpackt, die sogenannten Speichergranula. Bemerkt unsere B-Zelle, daß der Blutzuckerspiegel -- z. B. nach einer Mahlzeit -- zu hoch ist, was bedeutet, daß Glucose<$IGlucose> (Traubenzucker) verwertet oder als Glykogen gespeichert werden muß, so verschmelzen diese Membrankügelchen mit der Zellmembran und setzen damit das Insulin frei, das so in den Blutkreislauf gelangt. Durch das Blut wird das Insulin zu seinem Ziel gebracht, einem Rezeptorprotein in der Membran einer Leberzelle. Allein die insulinbindende Untereinheit dieses Membranproteins ist mehr als zwanzigmal so groß wie das Insulin selbst. Hat der Rezeptor das Insulinmolekül gebunden, so bedeutet das für die Leberzelle den Befehl, daß sie verstärkt Glucose aus dem Blut aufnehmen und verarbeiten muß. Der weitere Weg der Information im Inneren der Leberzelle ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Hat das Insulinmolekül seine Aufgabe erfüllt, so wird es in der Leber inaktiviert, indem die chemischen Bindungen zwischen A- und B-Kette gelöst werden. Die beiden getrennten Ketten können sich dann nicht wieder zu einem aktiven Molekül zusammenfinden, denn dazu fehlt ihnen die Hilfe des herausgeschnittenen Mittelteils. Sie werden dann von Enzymen, die auf die Vernichtung nicht mehr gebrauchter Proteine spezialisiert sind, abgebaut, d.h. in ihre Aminosäurebausteine zerlegt. Insulin übermittelt also die Nachricht, daß im Blutkreislauf reichlich Nährstoff vorhanden ist, an die Leber, die hauptsächlich für Speicherung und Verwertung zuständig ist, sowie an andere Zellen z.B. im Fett- und im Muskelgewebe. Kann die Bauchspeicheldrüse kein oder nicht genügend Insulin produzieren, so führt dies zum Krankheitsbild des Diabetes<$IDiabetes>. Dieses ist hauptsächlich durch erhöhten Glucose- und Fettsäuregehalte im Blut charakterisiert. Die Nährstoffe können nicht verwertet werden, weil die Nachricht vom Nährstoffüberschuß nicht ankommt, und werden mit dem Harn ausgeschieden. Zu Anfang dieses Jahrhunderts konnte Diabetikern praktisch nicht geholfen werden. Im Jahre 1921 gelang es Banting und Best, Insulin zu isolieren, und nachzuweisen, daß es bei diabeteskranken Hunden den Blutzuckerspiegel senkt. Seit 1923 kann Schweineinsulin, das sich nur in einem Aminosäurebaustein vom menschlichen Insulin unterscheidet, in großen Mengen gewonnen werden. Der Austausch der einen Aminosäure -- die Umwandlung von Schweineinsulin in Humaninsulin -- ist auf biotechnologischem Wege seit 1983 möglich. Die Pläne der Firma Hoechst, mit Hilfe gentechnisch<$IGentechnik> veränderter Bakterien Humaninsulin zu produzieren, wurden 1989 wegen der unsicheren Rechtsgrundlage zum Betrieb gentechnischer Anlagen durch ein Gerichtsurteil vorläufig gestoppt, was zur beschleunigten Verabschiedung des Gentechnik-Gesetzes führte. Inzwischen ist jedoch die Anlage genehmigt und der Produktionbeginn für 1997 geplant.
Kompaßnadeln auf dem Faltungsweg: Kernresonanzspektroskopie hilft, die Entstehung der Raumstruktur von Proteinen zu verstehen Ein richtiges Enzym<$IEnzym>, doppelt so groß wie Insulin, und enorm geschichtsträchtig ist das Protein, anhand dessen wir noch einen genaueren Blick auf die Proteinfaltung<$IProteinfaltung> werfen wollen, jenen Prozeß also, bei dem sich eine lange, ungeordnet umherflatternde Peptidkette in ein wohlgeordnetes dreidimensionales, durch ein Netzwerk von Wechselwirkungen zusammengehaltenes Gebilde verwandelt. Bei Faltungsstudien kehrt man den Prozess der Proteindenaturierung um, wie er zum Beispiel auftritt, wenn wir ein Ei kochen. Max Perutz nannte den Vorgang scherzhaft "unboiling an egg" -- ein Ei entkochen. Mit solchen Rückfaltungs-Experimenten versucht man, die Wege, auf denen aus der eindimensionalen Information der Aminosäurensequenz die dreidimensionale Struktur entsteht, herauszufinden. Diese "zweite Hälfte des genetischen Codes" ist nämlich bis heute ein Rätsel geblieben. Und angesichts der Tatsache, daß man heute nahezu beliebige Aminosäuresequenzen in beliebigen Mengen von Bakterien erzeugen lassen kann, ist der Umstand, daß man nicht vorhersagen kann, ob eine neu erfundene Sequenz eine definierte dreidimensionale Struktur annimmt -- und, wenn ja, welche -- , ein erhebliches Ärgernis. Zunächst wollen wir, in diesem und dem folgenden Kapitel, die Faltung im Reagensglas ("in vitro") betrachten, bevor wir uns in den darauffolgenden Kapiteln in den Dschungel der Faltung in der Zelle ("in vivo") vorwagen. Unser Modellprotein, wurde im Jahre 1922 von Alexander Fleming<$IFleming, A.> entdeckt, der sechs Jahre später mit der Entdeckung des Penicillins, zu Weltruhm und dem Nobelpreis für Medizin kommen sollte. Fleming hatte im wahrsten Sinn des Wortes den richtigen Riecher, denn ein Tropfen aus seiner Nase, der die Bakterien auf einer Agarplatte angriff, verhalf ihm zu der Erkenntnis, daß menschliche Körpersekrete (z.B. Tränen, Nasenschleim) ein Enzym enthalten, das für viele Bakterien tödlich ist. Der ersten natürlichen Substanz mit dieser (vor der Entdeckung des Penicillin) unerhörten Eigenschaft gab Fleming den Namen Lysozym<$ILysozym> (ein Enzym, das Bakterien lysiert, d.h. ihre Zellwände zerstört). Lysozym, insbesondere in der Variante, die sich leicht aus Eiklar gewinnen läßt, gehört heute zu den Veteranen der Enzymologie; außerdem ist es das Standardsystem der Proteinkristallographie, und wir wissen über kaum ein Protein soviel wie über dieses. Solch ein solider Unterbau aus Daten und Fakten gibt Mut zum Erproben neuerer Techniken, und so wurde Lysozym wiederum zum Modellprotein erkoren, als die Arbeitsgruppe von Christopher M. Dobson an der Universität Oxford sich daran machte, mit Hilfe der kernmagnetischen Resonanzspektroskopie (NMR<$INMR>, für engl. nuclear magnetic resonance) die Struktur des Proteins in Lösung zu bestimmen (im Gegensatz zu der Röntgenstrukturanalyse, welche lediglich die Struktur<$IKristallstruktur> eines kristallisierten Moleküls ermitteln kann), und Details über den Weg zu ermitteln, auf dem es, von der entfalteten und ungeordneten Aminosäurekette ausgehend, diese Struktur erwirbt. Die NMR-Spektroskopie beruht darauf, daß Radiowellen Atomkerne, die sich in einem starken Magnetfeld befinden, in einen höheren Energiezustand versetzen können. (Die Elementarmagnete, die sich normalerweise in Richtung des Magnetfeldes orientieren, werden "umgeklappt", wie wenn man eine Kompaßnadel um 180 Grad dreht.) Da sich benachbarte Atomkerne in ihrem Verhalten gegenseitig beeinflussen, kann man aus NMR-Spektren auf die Abstände der Atome und damit auch auf die Struktur der Verbindung zurückschließen. Waren NMR-Untersuchungen zunächst nur auf kleine organische Moleküle beschränkt, so konnten in den 80er Jahren mehrdimensionale NMR-Techniken entwickelt werden, deren höhere Auflösung auch die Untersuchung kleinerer Proteine mit bis zu 200 Aminosäurebausteinen ermöglicht. So konnten etwa von den sogenannten Amidprotonen (das sind die Wasserstoffatome die direkt an ein Stickstoffatom im Rückgrat der Proteinkette gebunden sind; es gibt davon in der Regel eins pro Aminosäurebaustein) des Lysozyms sämtliche zugehörigen NMR-Signale identifiziert werden. Damit verfügt man über eine Methode, die Veränderungen in der direkten Umgebung jeder einzelnen der 126 Aminosäuren des Proteins beobachten kann. Aufgrund der mit den modernen NMR-Techniken gegebenen günstigen Voraussetzung konnten die Wissenschaftler überraschende Erkenntnisse über den Faltungsmechanismus des Lysozyms gewinnen. Zwar kann man die schnellen Faltungsprozesse mit NMR nicht in Echtzeit verfolgen, aber man kann für verschiedene kurze Zeitintervalle während der Faltung den Austausch von Wasserstoff-Atomen gegen das schwere Wasserstoffisotop Deuterium ermöglichen. Rund die Hälfte der Amidprotonen sind im gefalteten Zustand gegen diesen Austausch geschützt, im entfalteten jedoch nicht. Nach Abschluß der Rückfaltung kann man also per NMR untersuchen, an welcher Stelle des Proteins dieser Schutzeffekt zu welchem Zeitpunkt eingetreten ist. Auf diese Weise fand man heraus, daß verschiedene Bereiche des Proteins verschieden schnell falten, außerdem wählte ein Teil der Moleküle einen anderen Faltungsweg als der Rest. Diese Ergebnisse brachten das sogenannte Zwei-Zustands-Modell zu Fall, das einen einfachen direkten Weg zwischen völlig strukturiertem (gefaltetem) und völlig unstrukturiertem (entfaltetem) Lysozym vorsah. Auch über die Struktur des Lysozyms<$ILysozym> bringt die NMR-Technik neue Erkenntnisse. Zwar gibt es bereits Dutzende von Kristallstrukturen von Lysozym -- gemessen bei verschiedenen Temperaturen, Pufferbedingungen, Salzkonzentrationen, mit Wassermangel und unter hohem Druck, mit verschiedensten Inhibitormolekülen etc. Doch der entscheidende Vorteil der NMR-Analyse ist der, daß man das Protein nicht kristallisieren muß, da es in der gelösten Form untersucht werden kann, in der es ja schließlich auch in der Zelle und bei biochemischen Untersuchungen im Reagenzglas normalerweise vorliegt. Bei der Röntgenkristallographie bleibt immer die Ungewißheit, ob die dreidimensionale Struktur des kristallisierten Proteins auch tatsächlich mit der Struktur in Lösung übereinstimmt. Die 1993 vorgelegte NMR-Struktur ist in der Anordnung des Rückgrats mit den Kristallstrukturen im wesentlichen identisch. Leichte Unterschiede finden sich in der Anordnung und Beweglichkeit einiger Seitenketten, insbesondere an der Oberfläche des Proteins. Im großen und ganzen jedoch ist mit dieser Untersuchung bewiesen, daß im Fall von Lysozym die Proteinstruktur im Kristall und in Lösung übereinstimmen. Doch das ist noch längst nicht alles, was man von diesem klassischen Enzym<$IEnzym> über die Faltung und Strukturen von Proteinen lernen kann. Dobson setzt auf die Verwendung neuer, möglichst komplementärer Methoden. In einer neueren Arbeit seiner Gruppe wird zum Beispiel gezeigt, wie sich die Elektrospray-Massenspektrometrie<$IMassenspektrometrie> in Faltungsuntersuchungen nach der oben erwähnten Wasserstoff-Deuterium-Austauschmethode in geradezu idealer Weise mit der NMR-Spektroskopie ergänzt. Wo die letztere Methode einen Mittelwert liefert, gibt die erstere die Verteilung an, aus der der Mittelwert entsteht (Abb. 11). Weitere Ergänzungsmethoden entstammen dem Arsenal spektroskopischer Verfahren, sowie der Peptidchemie<$IPeptid>, die es erlaubt, kurze Segmente eines Proteins, etwa des Lysozyms, zu synthetisieren und damit die frühen Schritte seiner Faltung zu studieren. Lysozym ist auch für solche Untersuchungen ein ideales Modell, weil hier in einem relativ kleinen Protein alle gängigen Strukturmotive enthalten sind. Alexander Fleming<$IFleming, A.> sagte seinerzeit: "We shall hear more about lysozyme" -- über Lysozym werden wir noch einiges hören. Ein klassischer Fall von Understatement.
Öl in Wasser: Die Rolle der hydrophoben Wechselwirkung in der Diskussion Obwohl Entfaltungs- und Rückfaltungsübergänge an einfachen Modellproteinen wie Lysozym<$ILysozym> oder Ribonuklease leicht auszuführen sind, herrscht über die Rolle der einzelnen Kräfte und Wechselwirkungen immer noch keine Einigkeit. Besonders umstritten ist die Rolle der hydrophoben Wechselwirkung<$Ihydrophobe Wechselwirkung>, jener Zusammenlagerungstendenz der wassermeidenden Molekülteile, die daraus resultiert, daß diese ihre Kontakte mit dem wäßrigen Lösungsmittel so weit als möglich reduzieren. Wie ein Öltröpfchen, so stellte es sich Walter Kauzmann im Jahre 1959 vor, sollte das Innere eines Proteinmoleküls<$IProtein> aufgebaut sein. Die hydrophoben (wassermeidenden) Aminosäurebausteine werden bei der Ausbildung der dreidimensionalen Struktur bevorzugt innen eingebaut und bilden zusammen den "hydrophoben Kern" des Moleküls (Abb. 12). Die Stabilität dieser Anordnung führte Kauzmann auf unvorteilhafte Nebenwirkungen zurück, die auftreten, wenn man die hydrophoben Seitenketten voneinander trennt und der wäßrigen Umgebung aussetzt. Wassermoleküle sind in der Nähe dieser wasserscheuen Gruppen dichter und mit einerem höheren Grad von Ordnung gepackt als wenn sie unter sich bleiben. Kauzmanns Annahme, daß diese Besonderheit der Lösungsmittelstruktur in der Umgebung hydrophober Molekülteile, die sogenannte hydrophobe Solvatation, letztendlich die Triebkraft für die Zusammenlagerung im hydrophoben Kern und damit für die Proteinfaltung<$IProteinfaltung> sei, war 30 Jahre lang ein Dogma der Biochemie. Während die Vorstellung, daß der hydrophobe Kern einem Öltröpfchen gleiche, schon lange aus der Mode gekommen ist, begann das Dogma von der strukturfördernden Wirkung der Wasserordnung erst zu bröckeln, als Peter Privalov (Moskau) und Stan Gill (Boulder, Colorado) 1988 aufgrund von komplizierten thermodynamischen Überlegungen und Modellexperimenten an einfachen wassermeidenden Molekülen verkündeten, das genaue Gegenteil sei wahr: Die höhere Wasserordnung begünstige die Entfaltung der dreidimensionalen Proteinstruktur, und lediglich die schwachen Anziehungskräfte<$IWechselwirkungen, schwache> zwischen Atomen (van- der-Waals-Wechselwirkung) halte die Struktur trotzdem zusammen. Entscheidend sei mithin die Anordnung, in der möglichst viel schwache Wechselwirkungen ausgebildet werden können. In die seither entbrannte Kontroverse platzte im Jahre 1993 ein sicherlich für beide Seiten überraschender Befund der Arbeitsgruppe um Philip A. Evans in Cambridge: Es geht auch ohne den Ordnungseffekt. Wie die Arbeitsgruppe herausfand, konnte ein Protein seine dreidimensionale Struktur in einem Lösungsmittelgemisch (ca. 30% Methanol in Wasser) bewahren, in dem der Effekt der hydrophoben Solvatation nachweislich nicht vorhanden ist. Die Autoren betonen, daß ihre Ergebnisse den Streit, ob die geordnete Lösungsmittel-Schale nun der Faltung<$IProteinfaltung> nutzt oder schadet, nicht entscheiden können. Fest steht nur, daß dieser Effekt entbehrlich ist, und daß man nicht darum herumkommen wird, sich die Beiträge anderer Wechselwirkungen und Ordnungsprozesse bei der Strukturbildung sehr genau anzuschauen, wenn man die Grundlage der Proteinstabilität eines Tages verstehen will. Ein einfaches Bild als Nachfolger des Öltröpfchen-Modells ist jedenfalls nicht in Sicht.
Geleitschutz für heranwachsende Proteine: Molekulare Anstandsdamen verhindern gefährliche Liebschaften In den siebziger Jahren, als Faltungsuntersuchungen<$IProteinfaltung> im Reagensglas en vogue waren, nahm man ganz selbstverständlich an, daß die Proteine, die sich ja offenbar ohne äußere Hilfe falten können, dies auch in der Zelle tun. Erst Ende der achtziger Jahre fand man heraus, daß dies keineswegs der Fall ist, und ein beinahe ausgestorbenes Wort war plötzlich wieder in aller Munde. "Eine Person (meist ehrwürdigen Alters), die ein Mädchen oder eine junge Frau aus Rücksicht auf die Schicklichkeit begleitet", so weiß der Petit Robert, bezeichnet man im Französischen seit 1690 mit einem Wort, das ursprünglich ein Kleidungsstück, nämlich eine Kragenkapuze oder Haube benannte: Chaperon. Auch im Deutschen und Englischen kennt man dieses Wort für die Anstandsdamen, die in der guten alten Zeit darüber wachten, daß die Töchter aus gutem Hause keine unerwünschten Wechselwirkungen eingingen. Ganz ähnlich stellt man sich auch die Funktionsweise einiger Proteine vor, die man in Anlehnung an diese altmodische Institution molekulare Chaperone<$Imolekulare Chaperone> nennt. Glaubte man vor 20 Jahren, daß Proteine<$IProtein> in der Zelle ihre "Reifezeit" -- die Entwicklung von der ungeordneten Aminosäurekette zum funktionsfähigen Endprodukt -- ebenso selbständig durchstehen können, wie man das im Modellversuch im Reagensglas nachvollziehen konnte, so sind in den letzen zehn Jahren geradezu Horden von Anstandsdamen aufgefunden worden, die den heranwachsenden Proteinen den rechten Weg weisen. Obwohl die allermeisten Proteine in stark verdünnter Lösung im Reagensglas selbständig zur gefalteten und biologisch aktiven Struktur finden, stellt sich die Situation in der Zelle schwieriger dar. Das Ribosom<$IRibosom>, die Proteinfabrik der Zelle, reiht die Aminosäuren zu einer Kette auf, die zwar eine definierte Abfolge (Sequenz), aber noch keine geordnete räumliche Struktur hat. Bindungsstellen, die später im Innern des ausgereiften Moleküls für Zusammenhalt sorgen sollen, sind noch offen zugänglich. Aufgrund der enorm hohen Konzentration an Proteinen, vor allem auch an frisch hergestellten und noch nicht ausgereiften Ketten, kann es leicht passieren, daß diese Bindungssstellen zuerst einem falschen Partner aus einem anderen Molekül begegnen und eine Mésalliance eingehen. So bilden sich dann Aggregate aus vielen ungefalteten Ketten, die aus der Lösung ausfallen und völlig unbrauchbar werden. Um das zu vermeiden, fängt ein erstes Schutzprotein, das nach dem zugehörigen Gen DnaK genannt wird, die wachsende Aminosäurekette schon ab, wenn sie sich aus dem Ausgangskanal des Ribosoms herausschiebt. (Es sei denn, der Beginn der Proteinkette enthält eine Signalsequenz , die anzeigt, daß es sich um ein "Exportprodukt" handelt, dann geht das Protein den Weg, den wir oben am Beispiel des Insulin verfolgt haben.) Den Weg, auf dem die Kette dann von einem Chaperon zum anderen weitergereicht wird, hat die Gruppe des von der Ludwigs-Maximilians-Universität München an das Rockefeller-Forschungslaboratorium in New York übergewechselten Ulrich Hartl 1992 in einer vielbeachteten Studie aufgeklärt (Abb. 13). Nach den Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe erkennt DnaK die entstehende Polypeptidkette bereits wenn sie noch zu kurz ist, um sich zu irgendwelchen Strukturen zu verknäuelen. In der Phase des kompakten, aber noch nicht mit der endgültigen Struktur versehenen Proteinknäuels übernimmt ein ebenso unaussprechliches Protein namens DnaJ den Begleitschutz, wobei bereits ein Teil der DnaK- Moleküle freigesetzt wird. Sobald die Synthese der Kette abgeschlossen ist, gibt ein weiteres Protein, das jedoch nur mit den Chaperonen, nicht aber mit dem neu synthetisierten Protein wechselwirkt, das Signal zur letzten Übergabe der schutzbedürftigen Kette. Endstation auf dem Reifungs-Weg der löslichen Proteine, die ihre Funktion im Cytoplasma, dem wäßrigen "Innen-Raum" der Bakterienzelle ausüben, ist ein Faß-artiger Protein-Komplex, der aus zwei Ringen mit je sieben Einheiten besteht und GroEL<$IGroEL> genannt wird. Für dieses Faß gibt es noch einen Boden oder Deckel, bestehend aus sieben Einheiten des kleineren Proteins GroES. In Zellextrakten werden üblicherweise Partikel mit einem Deckel pro Faß (d.h. 14 Einheiten EL plus 7 Einheiten ES) gefunden, es wurde aber auch schon über "fußballförmige" Partikel mit zwei Deckeln berichtet. Dieser komplizierte Apparat stellt der Wissenschaft einige der schwierigsten Rätsel im Zusammenhang mit der Synthese und Reifung von Proteinen. Das ungefaltete Substratprotein wird auf jeden Fall an diesen Komplex (oder in seinem Innern?) gebunden; und verläßt ihn schließlich, nach mehreren Zyklen aus Loslassen und wieder Binden, und einem enormen Energieverbrauch als fertig gefaltetes Protein. Die einzige eindeutig enzymatische Funktion<$IEnzym> des Komplexes besteht darin, daß GroEL während der Proteinfaltung<$IProteinfaltung>, aber auch in Abwesenheit eines Substratproteins, die Energieträgersubstanz Adenosintriphosphat (ATP<$IATP>) abbaut, also Energie verbraucht, wobei offenbar jede einzelne Untereinheit ein aktives Zentrum besitzt, sodaß 14 Moleküle ATP gleichzeitig umgesetzt werden können. Die "reine" ATPase-Aktivität -- ohne Proteinfaltung -- ist umfassend beschrieben worden (insbesondere von den Arbeitsgruppen von Tony Clarke in Bristol, und George Lorimer bei DuPont, Wilmington) und gestaltet sich schon schwierig genug. Während in Abwesenheit des "Deckelproteins" GroES alles ATP zu Adenosindiphosphat (ADP) umgesetzt wird, tritt in Gegenwart von GroES ein komplexer Regelmechanismus in Aktion. In dem vollständigen EL-ES-Komplex setzt bereits nach dem ersten Durchgang eine Art Produkthemmung ein, das gebildete ADP inaktiviert jeweils die Hälfte der 14 Einheiten. Diese zweite, halbaktive Phase wird schließlich durch eine völlige Inhibition beendet, deren Eintreten von den Konzentrationen an ATP und Kaliumionen abhängt. Im Jahre 1993 wagte Hartls Arbeitsgruppe den Versuch, einen Reaktionszyklus für GroEL aufzustellen, der alle Komponenten (EL, ES, Substrat, ATP) einschließt. Das Modell beruht hauptsächlich auf Bindungsstudien, in denen die Reaktionsgemische in verschiedenen Stadien durch Gelfiltration getrennt wurden. Dieses chromatographische Verfahren stellt im wesentlichen ein Sortieren nach Molekülgröße dar -- gemeinsames Auftreten verschieden großer Komponenten läßt dabei auf Bindung schließen. Zeitweise Freisetzung von Liganden kann auch getestet werden, indem man zwei Populationen GroEL einsetzt, deren eine z.B. GroES und Substratprotein 1, die andere nur Substratprotein 2 enthält. Ist die Reaktivierung des Substratproteins 2 von GroES abhängig, so kann sie als Test für die Freisetzung des Liganden aus dem Komplex mit Substratprotein 1 verwendet werden. Ferner wurde ein schonender Proteaseverdau verwendet, um den von GroES abgewandten EL-Ring zu markieren -- der an ES gebundene Ring ist vor der Protease geschützt. Mit diesen und ähnlichen Methoden ergab sich folgender Ablauf der Ereignisse (Abb. 14): Das ungefaltete Substratprotein wechselwirkt mit GroEL vermutlich über hydrophobe Gruppen<$Ihydrophobe Wechselwirkung>. Diese sind in gefalteten Proteinen im Inneren für die Stabilität des "hydrophoben Kerns" der Proteinstruktur verantwortlich. Ihre Zugänglichkeit in ungefalteten Ketten führt zu unerwünschten intermolekularen Kontakten und damit zur Aggregation, der entgegenzuwirken genau die Aufgabe der molekularen Chaperone darstellt. Der Komplex, den das neu ankommende Substratprotein zunächst antrifft, wird höchstwahrscheinlich GroES und ADP enthalten. Bindung des Substrats verringert allerdings die Affinität für diese beiden Liganden, sodaß sie zunächst entlassen werden. Statt des ADP wird nun wieder ATP gebunden. Die ATP-Konformation des Komplexes bindet ES auch in Anwesenheit des Substrats. Die Hydrolyse des ATP zu ADP löst die kurzzeitige Freigabe des Substrats aus: dieses bleibt zwar in der Nähe oder sogar in dem Innenraum des Komplexes, erhält aber die Bewegungsfreiheit, die es zur Ausführung jener Reaktionen benötigt, die letztendlich zum korrekt gefalteten Zustand führen. Entsteht bei diesem Rearrangement ein fehlerfrei gefaltetes Protein, das keine hydrophoben Flecken mehr präsentiert, so wird dieses entlassen und die Reaktion ist abgeschlossen. Sind hingegen noch bindungsfähige hydrophobe Stellen zugänglich, so wird das Substrat erneut an GroEL gebunden, Abspaltung von ADP und GroES führt uns wieder zum Zustand 1. Der Komplex durchläuft also wiederholte Zyklen des Bindens und Entlassens von Substratprotein und GroES, gesteuert von der Hydrolyse des ATP: der ADP-Zustand entläßt GroES und bindet das Substrat, der ATP-Zustand bindet ES und entläßt das Substrat wobei ES die ATPase-Aktivität reguliert. Hartl und seine Mitarbeiter gehen davon aus, daß die Hydrolyse des ATP die Freisetzung des Substrats auslöst. Unklar bleibt dann, wann und warum das Substrat wieder gebunden wird. Als Alternative wäre denkbar, daß die ATP-Hydrolyse den Timer für die Rückfaltungszeit des Substrats darstellt; sobald alle 14 gebundenen ATP-Moleküle umgesetzt sind, wird das Substrat wieder gebunden. Der Konformationsunterschied zwischen ATP- und ADP-Zustand ist immerhin so ausgeprägt, daß er im Elektronenmikroskop nachgewiesen werden kann. Wie die Arbeitsgruppe von Helen Saibil am Birkbeck College in London herausfand, werden die einzelnen Untereinheiten, bezogen auf die Symmetrieachse des Komplexes, um ca. 10° gekippt. Natürlich stellt dieser grobgezimmerte Reaktionszyklus nur einen Ausgangspunkt für Versuche zum tieferen Verständnis der Aktivität von GroEL<$IGroEL> dar. Das vorliegende Modell sagt uns noch nicht, ob die "Aktivität" des Chaperons sich tatsächlich auf Festhalten und Loslassen beschränkt, oder ob darüber hinausgehende Wechselwirkung mit dem Substratprotein stattfindet. Derzeit ist der Anfinsen-Käfig eine populäre Modellvorstellung, benannt nach Christian B. Anfinsen<$IAnfinsen, C.B.> dem Begründer der Proteinfaltungs-Studien im Reagensglas, ohne biologische Faktoren. Demnach stellt in der Zeit, in der das Substratprotein sich faltet, GroEL lediglich den geschützten Raum für diesen spontanen und autonomen Prozeß bereit und greift nicht im Sinne einer Katalyse oder Formvorgabe in den Vorgang ein. Auch die Annahme, daß GroEL hydrophobe Flecken erkennt, ist bisher nur eine Vermutung. Eine frühere Annahme, die Substraterkennung seie auf entstehende alpha-Helices im Substrat-Protein angewiesen, konnte durch die Charakterisierung der Wechselwirkung zwischen GroEL und einem nur aus beta-Faltblättern<$Ibeta-Faltblatt> aufgebauten Substratprotein widerlegt werden. Unbekannt ist auch, warum diese Reaktion soviel ATP verbraucht, ob das Substrat zwischen den beiden Ringen hin- und hergereicht wird, und vieles mehr. Dies war der Stand der Chaperon-Forschung bis Mitte 1994, der Ära vor der Kristallstruktur von GroEL. Den Beginn einer neuen Ära werden wir im folgenden Kapitel erleben.
Faß mit Fenstern: Erstmals ist die Struktur eines molekularen Chaperons in atomarer Auflösung bestimmt worden Eine Portion Glück hat manche wissenschaftliche Entdeckung begünstigt oder ermöglicht, und viele Wissenschaftler, darunter etwa Louis Pasteur<$IPasteur, L.> und Alexander Fleming<$IFleming, A.>, verdanken ihren Ruhm der scharfsinnigen Interpretation einer zufällig gemachten Beobachtung. Mal zeigt der Zufall den Wissenschaftlern den Weg zu neuen Welten von deren Existenz sie nichts ahnten, und manchmal nimmt Fortuna ihnen die Arbeit ab, aus einer astronomischen Zahl von möglichen Versuchsbedingungen die einzig erfolgreiche herauszusuchen. Ein hoffnungsloses Unternehmen der letzteren Art, das letztendlich mit Fortunas Hilfe gelang, ist die Strukturaufklärung des Chaperonin-Proteins GroEL<$IGroEL>, das als molekulare Anstandsdame anderen Proteinen bei der Faltung zur richtigen dreidimensionalen Struktur hilft und unerwünschte Nebenreaktionen abblockt. Mehrere Arbeitsgruppen in aller Welt haben versucht, von diesem Protein Kristalle zu züchten, die sich zur Röntgenstrukturanalyse eignen -- doch die siebenfache Symmetrie der Doppelring-Struktur, die aus elektronenmikroskopischen Untersuchungen bereits bekannt war, ist natürlich ein Alptraum für Kristallographen. Und für Strukturuntersuchungen mittels kernmagnetischer Resonanzspektroskopie (NMR<$INMR>) ist bereits eine einzelne der 14 Untereinheiten mit 57.2 Kilodalton Molekulargewicht um den Faktor 2-3 zu groß. Das Glück überraschte die Arbeitsgruppe von Arthur L. Horwich in Yale in Gestalt einer zufälligen Mutation zweier Aminosäuren, die sich bei dem Versuch, GroEL in Escherichia coli<$IEscherichia coli> überzuexprimieren, d.h. durch genetische Manipulation die Ausbeute an Protein pro Gramm Zellen zu erhöhen, einstellte. Die Zufallsmutante, die in Funktionstests von der normalen Version (Wildtyp) des Proteins nicht unterscheidbar ist, lieferte von allen untersuchten Varianten die besten Kristalle, und die, mit denen dann die Strukturaufklärung gelang. (Da jede der 547 Aminosäuren in der Sequenz von GroEL durch 19 andere ersetzt werden kann, gibt es genau 10393 Möglichkeiten für Punktmutationen. Betrachtet man auch Mehrfach-Mutanten, so potenzieren sich die Möglichkeiten ins Astronomische.) Ein glücklicher Umstand wollte auch, daß Horwichs Nachbar im Institut ein renommierter Proteinkristallograph, nämlich Paul B. Sigler ist, mit dem er gemeinsam den großen Coup landen konnte, den die Fachwelt im Oktober 1994 auf dem Titelblatt von Nature bestaunen durfte. In Übereinstimmung mit den bisherigen, aus elektronenmikroskopischen und biochemischen Untersuchungen gewonnenen Ergebnissen zeigt die Kristallstruktur<$IKristallstruktur> ein faßartiges Gebilde aus zwei Ringen, die je sieben identische Einheiten (Monomere) enthalten. Auffälligstes Merkmal der nun erkennbaren Feinstruktur der Untereinheiten ist, daß jede von ihnen so stark seitlich gekrümmt ist, daß zwischen den benachbarten Untereinheiten ein Loch bleibt (Abb. 15). Diese Fenster, die an der engsten Stelle etwa 2 nm lang und 1 nm breit sind, können problemlos Wasser-Moleküle in das Innere des Fasses, wo man das gebundene Substratprotein<$IProtein> vermutet, eintreten lassen. Auch die anhand von Mutationsexperimenten in der Sequenz lokalisierte Bindungsstelle für die Energieträgersubstanz ATP<$IATP> findet sich am Rande dieser Fenster. Bemerkenswert ist weiterhin, daß die beiden Enden des Aminosäurestrangs (Amino- und Carboxy-Terminus) einer jeden Untereinheit, die offenbar zu beweglich und ungeordnet sind, als daß man sie in der Kristallstruktur entdecken könnte, sich offenbar in der Mitte des Fasses befinden. Die den Enden am nächsten stehenden, noch lokalisierbaren Aminosäuren jedenfalls sind alle in der äquatorialen Domäne zu finden und weisen eindeutig ins Innere. Möglicherweise bilden die 28 "losen Enden" in der Mittelebene einfach ein großes Knäuel, das den Zusammenhalt der ganzen Struktur sichern hilft. Für die Erforschung der Funktion der Molekularen Anstandsdame bildet diese Struktur eine solide Grundlage, aber noch lange keine Erfolgsgarantie. Die Aufgabe besteht aus zwei Teilen, da GroEL nicht nur die Faltung des Substratproteins fördert, sondern gleichzeitig auch in einem damit gekoppelten Prozeß ATP in Adenosindiphosphat und anorganisches Phosphat spaltet (hydrolysiert). Die ATPase-Funktion sollte der leichtere Teil sein, zumal die ATP-Bindungsstelle schon identifiziert werden konnte, und eine Kristallstruktur der mit ATP beladenen Form des Proteins von Horwichs und Siglers Arbeitsgruppen derzeit ausgearbeitet wird. Aus elektronenmikroskopischen Untersuchungen von Chaperonin mit und ohne ATP schlossen Helen Saibil und ihre Mitarbeiter am Birkbeck College in London, daß die Bindung des Nucleotids eine Öffnungsbewegung der äußeren (apikalen) Domänen auslöst, die in Anwesenheit des Co-Chaperonins GroES noch verstärkt ist. Grundsätzlich schwieriger ist die Frage, was GroEL mit dem Substratprotein macht. Selbst wenn die Kristallisation eines Komplexes aus Chaperonin und gebundenem Substrat gelänge, ist doch nach den bisherigen Erkenntnissen so gut wie sicher, daß letzteres zu ungeordnet wäre, als daß man irgendwelche Information über seine Struktur erhalten könnte. Ebenso chancenlos steht die zweite wichtige Methode zur Strukturaufklärung biologischer Makromoleküle, die kernmagnetische Resonanzspektroskopie (NMR<$INMR>) vor diesem Problem. Zwar fallen viele Substratproteine in den NMR-tauglichen Größenbereich (relatives Molekulargewicht unter 25000), doch die Bindung an eine Partikel von 800000 relativer Masse verschlechtert die Bedingungen entsprechend. Ganz zu schweigen davon, daß die für NMR-Proben benötigten Konzentrationen von ca. 2 Millimol pro Liter, in diesem Fall vermutlich um Größenordnungen jenseits der Löslichkeitsgrenze liegen. Deshalb haben wir in Oxford im Rahmen eines Projekts unter Federführung von Sheena E. Radford einen völlig neuen Ansatz zur Charakterisierung der Struktur des Substratproteins gewählt (Abb. 16). Unsere Methode beruht auf der Analyse des Austauschs zwischen den Wasserstoff-Isotopen H ("normaler" Wasserstoff, relatives Molekulargewicht 1) und 2H oder D (Deuterium, Molekulargewicht 2)<$IIsotopenaustausch>. Insbesondere die an die Stickstoff-Atome des Peptid-Rückgrats der Proteine gebundenen Wasserstoffatome (Amidprotonen) sind sehr leicht austauschbar, wenn das Protein (zumindest in ihrer unmittelbaren Umgebung) entfaltet, d.h. weitgehend unstrukturiert ist. Befinden sie sich jedoch in einer Umgebung von stabilen Strukturen (etwa alpha-Helix und beta-Faltblatt-Strukturen, die ja durch Wasserstoffbrücken<$IWasserstoffbrückenbindung> der Amidprotonen zu Sauerstoff-Atomen des Peptidrückgrats stabilisiert werden), so findet der Austausch -- wenn überhaupt -- zehn- bis hunderttausendmal langsamer statt. Den Austausch von Wasserstoff-Isotopen kann man mit vielen verschiedenen Methoden messen. Kaj Linderstr$o/$m-Lang<$ILinderstr$o/$m-Lang, K.>, der Anfang der fünfziger Jahre am Carlsberg Laboratorium in Kopenhagen erstmals Isotopenaustausch an Proteinen untersuchte, ließ Tröpfchen des von der Probe absublimierten Wassers in eine halbmeterhohe Röhre mit einem flüssigen Dichtegradienten aus zwei organischen Lösungsmitteln einsinken. Aus der Höhe, in der die Tröpfchen im Schwebezustand verharrten, konnte er die Dichte der Lösung und somit den Anteil des Isotopenaustauschs erschließen. Heute jedoch sind zweidimensionale NMR-Methoden die am häufigsten verwendeten. Sie erlauben, zumindestens bei kleinen Proteinen, die Austausch-Geschwindigkeit einzelner Amidprotonen (z.B. das NH der 47. Aminosäure des Lysozyms) getrennt zu verfolgen, sind also ortsspezifisch. Eine komplementäre Information kann man duch Massenspektrometrie<$IMassenspektrometrie> erhalten. Hier wird die gesamte Masse jedes einzelnen Moleküls bestimmt. Man kann also nicht die Aminosäurereste eines Moleküls unterscheiden, wohl aber Populationen von in verschiedenem Ausmaß gegen Austausch geschützten Molekülen voneinander abgrenzen. Man kann etwa herausfinden, daß zu einer gegebenen Zeit 60% der Moleküle in der Probe je 20 Deuteronen enthalten, und 20% je 95 Deuteronen. Diese Information kann aus NMR-Daten nicht gewonnen werden. Die Kombination dieser beiden Analysemethoden hat die detaillierte Untersuchung der Faltungsmechanismen von Lysozym<$ILysozym> aus Hühnereiweiß ermöglicht und hat ergeben, daß verschiedene Populationen der Moleküle auf verschiedenen Wegen zurückfalten. Für die an GroEL<$IGroEL> gebundenen Substratproteine kann wie bereits erwähnt, NMR-Spektroskopie nicht ohne weiteres verwendet werden -- es sei denn man dissoziiert den Komplex wieder vor der Analyse und nimmt dadurch verfälschte Ergebnisse in Kauf. Massenspektrometrie nach dem erst Ende der 80er Jahre entwickelten Verfahren der Elektrospray-Ionisation erlaubte uns jedoch -- überraschenderweise -- den intakten Komplex aus GroEL und Substrat direkt zu beobachten. Erst bei der vollständigen Verdampfung des Lösungsmittels (Wasser) fällt der Komplex auseinander, sodaß kein Isotopenaustausch im dissoziierten Zustand das Ergebnis verfälschen kann. Wir konnten auf diese Weise zeigen, daß das an GroEL gebundene Substrat (in diesem Fall alpha-Lactalbumin<$Ialpha-Lactalbumin> aus Kuhmilch) keineswegs, wie gelegentlich in Veröffentlichungen behauptet wurde, völlig unstrukturiert ist. Vielmehr sind die Amidprotonen in einem Umfang gegen Austausch geschützt der dem in einem (kompakten aber teilweise fehlgeordneten) "molten globule"-Zustand entspricht. Neue massenspektrometrische Methoden, die eine ortsspezifische Zuordnung und Deutung dieser Befunde erlauben, werden gerade entwickelt. Außer ATP<$IATP> und dem Substratprotein geht noch eine dritte Komponente Wechselwirkungen mit GroEL ein -- das kleinere, aus sieben Untereinheiten aufgebaute Co-Chaperonin GroES. Bei manchen Substraten wird GroES benötigt damit nach nach Bindung des Substrats dieses auch in gefalteter Form wieder entlassen werden kann. In die verwirrende Vielfalt und Wiedersprüchlichkeit der Ergebnisse konnte die Arbeitsgruppen von Johannes Buchner an der Universität Regensburg und George Lorimer bei DuPont in Wilmington im vergangenen Jahr etwas Klarheit bringen. Offenbar wird GroES für die Freisetzung des korrekt gefalteten Proteins benötigt, wenn die Bedingungen für nicht-unterstützte Faltung ungeeignet sind. Unter "permissiven" Bedingungen jedoch, wenn also die Faltung ohne Chaperone auch möglich ist, kann das Substrat auch ohne Mitwirkung von GroES freigesetzt werden. Ein erbitterter Streit herrscht jedoch noch in der Frage, ob die unter gewissen Bedingungen beobachteten "footballs", d.h. Partikel die ein dem American Football ähnelndes Ellipsoid bilden und aus dem GroEL-Faß und zwei konischen GroES-Deckeln bestehen, biologische Relevanz haben oder nicht. Drei Arbeitsgruppen aus der "Schule" um George Lorimer, die im Sommer 1994 eine Serie von drei Arbeiten über Fußball-Komplexe in Science veröffentlichten glauben, daß diese symmetrischen Komplexe im Funktionskreislauf der Chaperon-assistierten Faltung eine wichtige Rolle spielen. Ulrich Hartl hingegen, dessen Arbeitsgruppe am Sloan-Kettering Krebsforschungszentrum in New York 1993 ein Funktionsmodell für GroEL vorgeschlagen hatte, das die Wechselwirkung mit allen drei Komponenten einschließt (siehe oben), bestreitet, daß die doppelköpfigen Komplexe nötig sind. Solche Fragen sind allerdings schwer zu beantworten, da Bindungsgleichgewichte empfindlich von Ionenkonzentrationen abhängen, die man in der lebenden Zelle nicht genügend genau bestimmen kann. Wie wird es nun weitergehen? Die Anstrengungen, herauszufinden, was genau GroEL<$IGroEL> mit seinen Substraten anstellt, werden sich wohl vervielfachen. Mit einer Kristallstruktur des ligandenfreien Chaperon-Proteins, der nahe bevorstehenden Variante mit gebundenem ATP, unzähligen Mutationsstudien, und einem stetig wachsenden Arsenal biochemischer und biophysikalischer Methoden, die teils speziell für dieses vertrackte Problem entwickelt wurden, als solide Grundlage, sollte das Rätsel noch in diesem Jahrtausend zu lösen sein -- notfalls mit etwas Nachhilfe von der Glücksgöttin.
Wertstoff-Recycling in der Zelle: Erste Einblicke in die Funktionsweise des Proteasoms
Recycling<$IRecycling> von Wertstoffen ist, auch wenn der eine oder andere zeitgenössische Politiker sich gerne als Erfinder dieses Prinzips betrachtet sehen würde, vermutlich einige Milliarden Jahre älter als besagte Politiker glauben. Diese Schlußfolgerung läßt sich aus dem Umstand ziehen, daß die Zellen nahezu aller Lebensformen über Recyclingsysteme verfügen, die beschädigte oder nicht mehr benötigte Proteine in ihre Aminosäure-Bausteine zerlegen, aus denen dann wieder neue Proteine hergestellt werden können. Im Prinzip könnten Zellen ihren Protein-Abfall einfach wegwerfen, indem sie ihn durch die Membran ausschleusen. Daß dies nicht geschieht, läßt darauf schließen, daß sich im Wettstreit der Evolution<$IEvolution> kein Lebewesen ein solches Ex-und-hopp-Verfahren leisten konnte. Das Recyclingsystem der Zelle besteht im wesentlichen aus einem Markierungs- und einem Abbau-Schritt. Die Markierung ist in diesem Fall kein grüner Punkt, sondern ein in mehreren Exemplaren an das wiederzuverwertende Protein angehängtes kleineres Protein, das Ubiquitin<$IUbiquitin>. Und für die Zerlegung der Proteinkette in einzelne wiederverwertbare Aminosäuren ist ein äußerst kompliziertes Gebilde aus mehreren Dutzend Protein-Untereinheiten zuständig, das Proteasom<$IProteasom>. Verglichen mit den einfach gebauten und umfassend untersuchten sekretorischen Proteinasen<$IProteinase> (Trypsin, Chymotrypsin etc.) sind die intrazellulären Proteinasen, zu denen auch das Proteasom gehört, noch ein recht neues Forschungsgebiet, auf dem mehr Fragen offen als beantwortet sind. Proteasomen wurden aufgrund ihrer Verbreitung über alle Organismenreiche und ihrer komplizierten Unterstrukturen viele Male unabhängig entdeckt und auf mehr als 20 verschiedene Namen getauft, bevor man die Gemeinsamkeiten erkannte. Schon früh (1968) entdeckten Zellbiologen in Eukaryonten (Tiere, Pflanzen, Hefen etc.) zylindrische Proteinpartikel, deren Aufgabe allerdings zwei Jahrzehnte lang unklar blieb, bis man bemerkte, daß sie mit der von Enzymologen seit 1980 untersuchten "multikatalytischen Proteinase" identisch waren. Der Zylinder, den man heute nach seiner Sedimentations-Geschwindigkeit als "20S-Proteasom" bezeichnet, stellt in vielen Zellen den Kern einer größeren, unregelmäßig geformten Partikel dar, die man heute als "26S-Proteasom" bezeichnet. Das 20S-Proteasom der Eukaryonten-Zelle erwies sich unglücklicherweise -- trotz seiner regelmäßigen äußeren Form -- als ein buntes Gemisch von jeweils 28 Untereinheiten, die bis zu 14 verschiedenen Molekülsorten angehören konnten. Da war es ein Glücksfall, daß die Arbeitsgruppe von Wolfgang Baumeister am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München im Jahre 1989 herausfand, daß in dem Archaebakterium Thermoplasma acidophilum die Verhältnisse etwas klarer sind. Hier gibt es nur zwei Arten von Untereinheiten (alpha und beta). Das 20S-Proteasom besteht -- bei Thermoplasma ebenso wie bei Eukaryonten -- aus vier gestapelten siebengliedrigen Ringen. In Thermoplasma-Proteasomen enthalten die mittleren Ringe des Stapels ausschließlich beta-, die äußeren Ringe ausschließlich alpha-Untereinheiten. Die für die Peptid-Spaltung verantwortlichen Molekülteile schienen sich in den beta-Untereinheiten zu befinden. Nachdem es den Martinsriedern 1992 gelungen war, das Thermoplasma-Proteasom von dem beliebtesten "Arbeitspferd" der Molekularbiologen, dem Darmbakterium Escherichia coli<$IEscherichia coli> herstellen zu lassen, waren günstige Voraussetzungen für die systematische Untersuchung dieses Komplexes und seiner katalytischen Aktivität, und damit auch des Aminosäuren-Recyclings gegeben. Nach vierjähriger Beackerung dieses Feldes war Ende 1994 die Erntezeit gekommen. In einer Serie von sechs Publikationen, die in dem halben Jahr von November 1994 bis April 1995 erschienen, konnte Baumeisters Gruppe die meisten Rätsel des Proteasoms -- zumindest für das einfache Modellsystem aus Thermoplasma -- knacken. Es begann mit der Beschreibung der sonderbaren Art und Weise, wie das Protein seine aus vier Ringen bestehende Faßstruktur aufbaut -- ein schönes und recht verzwicktes Beispiel für die Selbstorganisation<$ISelbstorganisation> in der Zelle. Merkwürdigerweise sind die den Mittelteil bildenden beta-Untereinheiten allein nicht fähig, sich zusammenzuschließen. Die alpha-Untereinheiten können hingegen selbständig Siebenringe bilden, und dienen der beta-Untereinheit als "Baugerüst" zur Zusammenlagerung, was auch die Voraussetzung für die von der Untereinheit selbst katalysierten Abspaltung einer kurzen Peptidkette, der "Pro-Sequenz", ist. In einer im März 1995 erschienenen Arbeit aus Baumeisters Gruppe wird nun analysiert, wie das 20S-Proteasom seine Substratproteine erkennt und aufnimmt. Offenbar werden nur völlig entfaltete Proteine<$IProtein> in das Innere des aus vier Ringen aufgebauten Fasses eingelassen. Den Entfaltungsschritt begünstigen (in der Eukaryonten-Zelle) Komponenten des 26S-Proteasoms, die dabei auch Energie in Form des energiereichen Nukleotids ATP<$IATP> verbrauchen. Zusätzlich sind die äußeren "Deckel" des 26S-Proteasoms auch für die Erkennung und Abspaltung der Ubiquitin-Markierung zuständig. Das Ubiquitin wird nicht mit abgebaut und kann direkt wiederverwendet werden. Nach den neuesten Erkenntnissen ist das Einlaßkriterium für die proteolytische Kern-Einheit nicht der Entfaltungszustand an sich, sondern die Dicke der Partikel. Das konnten Baumeister und Mitarbeiter demonstrieren, indem sie ein völlig entfaltetes Protein (alpha-Lactalbumin<$Ialpha-Lactalbumin> aus Kuhmilch) mit einem Goldcluster<$ICluster> von 2 nm Durchmesser koppelten. Die Peptidkette "mit Knoten" blieb am Eingang der Faßstruktur stecken und wurde nicht verdaut. Die hohe Elektronendichte des Gold-Körnchens erlaubte es den Forschern, dieses in elektronenmikroskopischen Aufnahmen zu lokalisieren und nachzuweisen, daß es genau an der Öffnung des Fasses hängenbleibt. Die strikte Regulierung der "zersetzenden" Aktivität durch mindestens drei Schritte (Markierung mit Ubiquitin, energieabhängige Entfaltung, Einlaß nur wenn völlig entfaltet) macht Sinn, da eine intrazelluläre Protease ja eine potentielle Gefahr für das Proteininventar der Zelle darstellt. Es soll zwar beschädigte, falsch gefaltete, und nicht mehr benötigte Proteine zerlegen, aber auf keinen Fall die Mehrheit der Proteine, die noch gebraucht werden. Eine unregulierte Proteinase<$IProteinase> in der Zelle wäre der direkte Weg zum schnellen Selbstmord. Den krönenden Abschluß bildeten zwei gleichzeitig in Science erschienene Arbeiten, in denen die genaue Struktur in atomarer Auflösung (in Zusammenarbeit mit der am selben Institut befindlichen Arbeitsgruppe von Robert Huber), sowie ein interessanter und neuartiger enzymatischer Mechanismus für die Protease-Funktion des Proteasoms präsentiert werden. Die mittels der Röntgenstrukturanalyse mit einer Auflösung von 0.34 nm bestimmte Struktur brachte eine ganze Reihe von Überraschungen. So stellte es sich zum Beispiel heraus, daß die Konformation des Peptidrückgrats in alpha- und beta-Untereinheiten nahezu deckungsgleich ist, obwohl die beiden Proteine praktisch keine nennenswerte Übereinstimmung in der Abfolge der Aminosäurebausteine (Sequenz) aufweisen. Zusätzlich konnten sich die Kristallographen freuen, ein neues Faltungsmuster entdeckt zu haben. Trotz der exponentiell anwachsenden Zahl neuer Kristallstrukturen<$IKristallstruktur> ist die Zahl der neuen Faltungsmuster rückläufig. Man vermutet, daß es nur einige hundert grundlegend verschiedene Strukturmuster gibt, die in vielfacher Variation und Kombination immer wieder verwendet wurden. Interessant ist auch der Vergleich mit der im September 1994 veröffentlichten Struktur des Faltungshelferproteins GroEL<$IGroEL> (siehe oben), das ebenfalls ein Faß mit siebenzähliger Symmetrie darstellt. Im Gegensatz zu dem löcherigen Gewand der "molekularen Anstandsdame" ist die "Recycling-Tonne" der Zelle jedoch rundum dicht verschlossen. Der zentrale, etwa 5 nm weite Tunnel stellt die einzige Höhlung des Proteasoms dar. Was die Konformation der Aminosäurekette angeht, gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen beiden Proteinen. Die Evolution<$IEvolution> scheint also die Architektur des aus siebengliedrigen Ringen aufgebauten Fasses mehrmals erfunden zu haben. Auch die Aufklärung der enzymatischen Funktion des Proteasoms brachte einige Überraschungen mit sich. Untersuchungen mit Protease-Hemmstoffen (Inhibitoren), die jeweils für eine der herkömmlichen Klassen von proteolytischen Enzymen spezifisch sind, lieferten widersprüchliche Ergebnisse. Mit dem Expressionssystem für Thermoplasma-Proteasomen in E. coli in Händen konnten Baumeister und seine Mitarbeiter einen Weg beschreiten, der normalerweise zur Auffindung des aktiven Zentrums führen muß. Aufgrund der bekannten Sequenzen der beta-Untereinheiten aus verschiedenen Organismen identifizierten sie die wenigen in allen Sequenzen übereinstimmenden Aminosäure-Reste, postulierten, daß einer von diesen das aktive Zentrum sein müsse, und tauschten sie einzeln durch gezielte Mutagenese aus. So logisch und einleuchtend der experimentelle Ansatz auch ist, das Ergebnis war eine Riesenüberraschung. Bei dem aussichtreichsten Kandidaten brachte die Ersetzung durch eine garantiert unverdächtige Aminosäure eine Verstärkung der proteolytischen Aktivität. Und selbst wenn man geeignete Aminosäuren einbezieht, die zwar nicht in allen Untereinheiten identisch, aber schlimmstenfalls durch eine chemisch ähnliche Struktur ersetzt sind -- in keinem Fall konnte durch Mutation die Aktivität des Proteasoms völlig unterdrückt werden. Es blieb nur eine mögliche Schlußfolgerung: daß in dem bunten Mix verschiedener beta-Untereinheiten des Eukaryonten-Proteasoms nicht alle katalytisch aktiv sind. Statt der Forderung, daß die "verdächtigte" Aminosäure in allen beta-Untereinheiten des Proteasoms einer Eukaryontenspecies vorkommen muß, wurde nur noch die Bedingung gestellt, daß sie in mindestens einer Version pro Species vorhanden sein muß. Aus dem so erweiterten Kreis von Verdächtigen konnte Baumeisters Arbeitsgruppe dann relativ leicht den Schuldigen identifizieren. Im nachhinein werden sich die Forscher geärgert haben, daß sie ihre Mutationstudien nicht einfach am Anfang der Sequenz begonnen haben. Der aktive Aminosäure-Rest ist nämlich das Threonin in Position 1. Inhibitorstudien deuten darauf hin, daß dieses Threonin eine ähnliche Funktion hat wie das Serin in den schon seit Jahrzehten intensiv erforschten Serin-Proteasen (Trypsin, Chymotrypsin etc.). Und das Proteasom ist somit der erste Vertreter der neuen Familie der Threonin-Proteasen. Übrigens läßt es sich auch durch Mutagenese leicht in eine Serin-Protease umwandeln. Die Aufklärung von Struktur und Funktion des Thermoplasma-Proteasoms, das in idealer Weise ein vereinfachtes Modell-System für Eukaryonten-Proteasomen darstellt, wird auch der Erforschung dieses komplizierteren Systems, das ja auch die Bildung der 26S-Struktur einschließt, einen kräftigen Schub geben. Da der Ubiquitin-abhängige Abbauweg (über den Abbau überzähliger Enzym-Moleküle) an der Regulation des Stoffwechsels beteiligt ist und auch im Immunsystem bei der Antigen-Prozessierung eine Rolle spielt, könnte es sich erweisen, daß in der Eukaryonten-Zelle der Recycling-Hof eine der Schaltstellen der Macht ist.
3. Gute, böse und kuriose Zellen Manchmal verwenden Zellen ihre Nanostrukturen auch für Tätigkeiten, deren Sinn wir nicht unbedingt verstehen (z.B. Orientierung im Magnetfeld), oder die uns außerordentlich unangenehm sind (z.B. Auslösung von Krankheiten). Ein bioanorganisches Kuriosum und zwei bitterernste medizinische Anwendungen der Wechselwirkungen zwischen Molekülen und Zellen sollen den Abschluß dieses Teils über die Moleküle der Natur bilden. Orientierungshilfe für Einzeller: Magnetotaktische Bakterien wissen, wo's lang geht Einzeller haben, wie wir Menschen auch, unterschiedlichste Vorlieben und Neigungen: manche schwimmen zu Licht- oder Wärmequellen hin, andere fliehen davor, wieder andere orientieren sich an der Konzentration bestimmter chemischer Substanzen im Wasser. Alle diese Orientierungen lassen sich im Rahmen der Evolutionstheorie<$IEvolution> mehr oder weniger schlüssig mit überlebenswichtigen Verhaltensweisen erklären. Nicht so einfach ist der Fall, wenn Bakterien sich an den Kraftlinien eines Magnetfelds orientieren und zum Beispiel zielstrebig auf den Nordpol einer Kompaßnadel zuschwimmen. Genau dieses Verhalten, das man als Magnetotaxis<$IMagnetotaxis> bezeichnet, hat der Mikrobiologe Richard P. Blakemore erstmals 1975 beobachtet -- die betrachteten Bakterien ließen sich weder durch Bewegen des Mikroskops, noch durch Veränderung der Lichtverhältnisse von dem Weg nach Norden abbringen, den ihnen ihr eingebauter Kompaß in Form mehrerer, jeweils wenige Zehntausendstel Millimeter großer Kristalle des Eisenminerals Magnetit<$IMagnetit> (Magneteisenstein) wies. In den folgenden Jahren konnten magnetotaktische Bakterien, die dank ihrer charakteristischen Eigenschaft leicht zu "fangen" sind, in verschiedensten Bereichen gefunden worden. Ihre Entdeckung im Boden einer "typischen Weidelandschaft" bei Haindlfing im Ampertal widerlegte 1990 die bis dahin gültige Vermutung, daß Magnetitvorkommen im Boden ausschließlich anorganischen Ursprungs seien. Eine Arbeitsgruppe in Tokyo hat 1993 das ohnehin schon breite Spektrum der magnetischen Bakterien noch weiter ausgedehnt -- sie konnten sogar in Umgebungen gefunden werden, wo das Fehlen molekularen Sauerstoffs und die Anwesenheit reduzierender Schwefelverbindungen die Synthese des aus Eisen und Sauerstoff aufgebauten Magnetits erschweren. Das neuartige Bakterium muß demnach bei der Einlagerung der Magnetitkristalle einen anderen Syntheseweg beschreiten als die bisher bekannten magnetotaktischen Organismen. Als weitere Überraschung stellt das Bakterium neben den in der Zelle gefundenen Magnetitkristallen auch ein -- ebenfalls magnetisches -- Eisen-Schwefel-Mineral her, welches es ausscheidet. Dieser Befund könnte die Erklärung für das bisher unverstandene Vorkommen magnetischer Mineralien in Erdöllagerstätten liefern. Außer der kaum zu beatwortenden Frage nach dem Evolutionsvorteil des eingebauten Kompaß werfen die linientreuen Mikroorganismen<$IMikroorganismen> eine Reihe weiterer interessanter Fragestellungen auf, etwa im Zusammenhang mit der geographischen Orientierung höherer Lebewesen, mit der Bildung magnetischer Sedimentgesteine und sogar mit der Entstehung des Lebens. Die weite Verbreitung der Fähigkeit zur Bildung von Magnetit und anderer kristalliner Eisenverbindungen über verschiedenste Klassen einzelliger Lebewesen läßt darauf schließen, daß diese in der Frühgeschichte des Lebens eine wichtige Rolle gespielt haben könnte. Lange bevor der Luftsauerstoff verfügbar und für das Leben auf der Erde bestimmend wurde, so die Idee, hätten Eisensulfide und Eisenoxide dessen Rolle bei der "Verbrennung" der Nährstoffe spielen können. (Auch in den vielbeachteten Theorien des Münchner Patentanwalts Günter Wächtershäuser spielt ein Eisen-Schwefel-Mineral, der Pyrit<$IPyrit> (Katzengold) eine zentrale Rolle für den Ursprung des Lebens.) Oder aber sie hätten einfach als Speicher für Eisen-Ionen gedient, eine Funktion, die heute von einem Protein (dem Ferritin) wahrgenommen wird. So läßt sich vermuten, daß die Frage nach dem Warum der magnetischen Orientierung falsch gestellt ist. Die Bakterien entwickelten die Fähigkeit, Eisenmineralien aufzubauen, und erhielten ihre magnetischen Eigenschaften und damit die Festlegung auf die Nord-Süd-Route als Nebenwirkung. So betrachtet, sollten wir Menschen froh sein, daß die Evolution als Baustein für die Biomineralisation<$IBiomineralisation> in unserem Körper ein anderes Metall-Ion vorgesehen hat: das Calcium.
Laßt die Bäume leben: Das Krebsmittel Taxol kann jetzt auch synthetisch hergestellt werden Ein wesentlicher Grund, warum Chemiker immer neue Moleküle herstellen ist der, daß Wirkstoffe gegen viele Krankheiten, einschließlich Krebs, noch nicht auf rationalem Wege entworfen werden können. Der irrationale Weg ist der, daß man tausende verschiedene Moleküle herstellt, durchtestet und dann 99.9% davon verwirft. Umgekehrt kommt es auch vor, daß die Natur ein pharmakologisch interessante Molekül herstellt -- wenn auch nur in zu kleinen Mengen -- und daß sich dieses hartnäckig den Bestrebungen der Synthetiker widersetzt. Die Pazifische Eibe (Taxus brevifolia), ein in Nordamerika heimischer Nadelbaum, enthält in ihrer Rinde etwa 0.3 Gramm Taxol<$ITaxol>. Dieser Naturstoff, der 1964 entdeckt und dessen Struktur 1971 aufgeklärt wurde, gilt unter Experten der Krebsmedizin<$IKrebs> als die wichtigste Neuerrungenschaft der letzten dreißig Jahre. In klinischen Testreihen wurde seine Wirksamkeit gegen Leukämie, Brust- Eierstocks- und Lungentumoren belegt. (In einer klinischen Phase-II-Prüfung an Patientinnen, deren Eierstocks-Krebs auf andere Therapien nicht angesprochen hatte, betrug die Heilungsquote 30 -- 35 % bei beherrschbaren Nebenwirkungen.) Für die Behandlung eines Patienten müssen sechs ausgewachsene Eiben geopfert werden. Zu dumm, daß der Baum, als bevorzugter Nistplatz einer seltene Eulenart, mittlerweile unter Naturschutz steht. Dieses Beschaffungsproblem hat zu fieberhaften Forschungsaktivitäten mit dem Ziel der teilweisen (von verwandten Naturstoffen ausgehenden) oder vollständigen (von einfachen organischen Verbindungen ausgehenden) Synthesen geführt -- an die dreißig Arbeitsgruppen sollen weltweit auf diesem Gebiet aktiv sein. Nachdem bereits1992 eine Teilsynthese geglückt war, gingen beim Rennen um die Totalsynthese im Winter 1993/94 zwei Teams nahezu gleichzeitig ins Ziel. Die Gruppe von Robert Holton von der Florida State University hat ihre Arbeit zwar früher eingereicht als die Konkurrenten um Kyriacos Nicolaou am Scripps Institut in La Jolla, Kalifornien, mußten jedoch mitansehen, wie die Publikation der Mitbewerber um eine Woche früher in Nature erschien als ihre eigene im Journal of the American Chemical Society. Doch nicht nur wegen der großen Teilnehmerzahl, der attraktiven Trophäe und des spannenden Finales sondern auch aufgrund der atemberaubenden Schwierigkeit des Parcours erregte dieses Rennen soviel Aufsehen. Die Struktur, die sich um vier miteinander verschmolzene Ringe gliedert (Abb. 17), ist keineswegs so flach und übersichtlich, wie sich das auf dem Titelblatt von Nature ausmacht. Der zentrale achtgliedrige Kohlenstoff-Ring ("B-Ring") ist in Wirklichkeit so stark gewellt, daß die an gegenüberliegende Ecken gebundenen Molekülteile sich gegenseitig im Weg stehen, was die Stabilität der Verbindung schwächt und die Synthese schwieriger macht. Damit nicht genug des Unheils, muß das Achteck zwei Kanten mit dem benachbarten Sechsring A und eine mit dem Sechsring C teilen, an den wiederum ein Vierring ("D") angelagert ist -- das geht nicht ohne verbogene Bindungen und gequetschte Atomradien ab. Schon die flexiblen Kugel-Stab-Modelle wehren sich gegen den Aufbau einer solchen Struktur -- bei den hölzernen, in ihrer Raumerfüllung naturgerechteren Kalottenmodellen wird man wohl nicht ohne eine Säge auskommen. Kein Wunder also, daß die Herstellung dieser Verbindung, wie K. Nicolaou in einem Übersichtsartikel in der Angewandten Chemie schreibt, ursprünglich "nur die masochistischsten unter den Synthesechemikern" interessierte. Seine Totalsynthese besteht aus 28 chemischen Reaktionen, ausgehend von zwei Zwischenprodukten, die im wesentlichen den Ringen A und C entsprechen und ihrerseits auch erst einmal synthetisiert werden müssen. Elf der Kohlenstoffatome in der Struktur sind chiral, d.h. die Anordnung ihrer vier verschiedenen Bindungspartner kann in zwei spiegelbildlichen Versionen auftreten, von denen nur eine erwünscht ist. Jedes einzelne Chiralitätszentrum ist bereits eine Herausforderung bei der Synthese. Zwar ist diese Synthese zu aufwendig, um für die industrielle Gewinnung von Taxol selbst in Frage zu kommen -- in diesem Bereich werden teil-synthetische Verfahren in Kürze die ursprünglich für die medizinische Verwendung ausschließlich zugelassene Gewinnung des Naturstoffs aus der Rinde der Pazifischen Eibe verdrängen. Doch die Totalsynthese bleibt extrem wichtig als Zugang zu der Stoffklasse der Taxane, d.h. der mit Taxol strukturell verwandten Verbindungen. Nachdem es den Synthetikern nun gelungen ist, die zentrale, allen Taxanen gemeinsame Struktur der Ringe A-C aufzubauen, können sie nun Variationen zum Thema spielen und dürfen hoffen, auf weitere Stoffe mit ähnlich interessanten pharmakologischen Eigenschaften zu stoßen. Neu an Taxol und den verwandten Taxanen ist nämlich nicht nur die abenteuerliche Struktur -- der Mechanismus, durch den es den Zyklus der Zellvermehrung behindert ist auch einzigartig. Die faserige Grundstruktur, die wie ein Baugerüst die Zelle stabilisiert, das Cytoskelett, besteht aus Mikrotubuli<$IMikrotubuli>, und diese submikroskopisch kleinen Röhren entstehen durch Zusammenschluß von 13 langgezogenen Fäden (Protofilamente) die aus den Proteinen alpha- und beta-Tubulin aufgebaut werden. Kannte man bisher bereits etliche Verbindungen, die den Aufbau der Mikrotubuli blockierten, so ist Taxol das erste Zellgift, daß seine Wirkung durch eine Verstärkung der Röhrenbildung entfaltet. Der Haken an der Sache ist der, daß die unter Mitwirkung von Taxol gebildeten Röhren nur zwölf Protofilamente enthalten und einen geringeren Durchmesser haben als richtige Mikrotubuli. Diese falschen Bauwerke haben die (für die teilungswillige Zelle) unangenehme Eigenschaft, daß sie zu beständig sind. Normale Mikrotubuli sind dynamische Systeme, die zum Beispiel an einem Ende wachsen und gleichzeitig am anderen schrumpfen können, und in bestimmten Phasen des Zell-Zyklus schnell die erforderlichen Tubulin-Bausteine<$ITubulin> zum Aufbau neuer Strukturen, etwa der für die Teilung essentiellen Mitose-Spindel bereitstellen müssen. Die Zwölfer-Röhren hingegen ziehen alle einmal eingebauten Tubulin-Einheiten auf Dauer aus dem Verkehr, bilden unnatürliche und nutzlose bündelartige Strukturen und blockieren damit die Zellteilung. Da sich Krebszellen sehr viel öfter teilen als normale Körperzellen, werden sie durch diese Behandlung stärker geschädigt. Nach Aufklärung von Struktur und Wirkungsweise des Taxols<$ITaxol> sowie verschiedener Wege zu seiner Gewinnung sind nun alle Voraussetzungen gegeben, um aus der interessanten Stoffklasse der Taxane neue, auf spezifische Anwendungen optimierte Krebstherapeutika zu entwickeln. Taxol selbst wird wohl als erstes zum Einsatz kommen und dann nach einem von Robert Holton entwickelten Verfahren aus dem Naturstoff 10-Desacetylbaccatin III (der aus den Nadeln verschiedener Eibenarten ohne bleibenden Schaden für den Baum isoliert werden kann) teilsynthetisch hergestellt werden. Auch aus pflanzlichen Zellkulturen, sowie aus den Zellen einer auf Eiben ansässigen Pilzart kann Taxol gewonnen werden. Für die Gewinnung anderer Taxane werden sich die masochistischen Bemühungen der Synthesechemiker nützlich erweisen -- schließlich hat das Rennen um die Totalsynthese entlang der Strecke auch vielerlei Informationen über chemische Eigenschaften der Zwischenstufen-Verbindungen geliefert -- davon zeugen nicht zuletzt die 386 Strukturformeln in Nicolaous oben erwähntem Übersichts-Artikel. Und nach alledem wird die Pazifische Eibe, die, so Nicolaou, vor Beginn des Taxol-Fiebers "hauptsächlich als Gestrüpp angesehen" wurde, -- und zugleich die auf ihr ansässige gefleckte Eule -- wieder in Ruhe und Frieden gedeihen.
Mikrobenjäger in der Klemme: Die rasante Ausbreitung von Antibiotika-Resistenzen macht die Suche nach Alternativen zum Dringlichkeitsfall Zu dem reichhaltigen Reservoir pharmakologisch interessanter Moleküle, die von Pilzen hergestelltwerden, zählen auch die Antibiotika<$IAntibiotikum>, mit denen diese sich konkurrierende Bakterien vom Leibe halten. Doch was Mediziner zunächst für ein Geschenk des Himmels hielten, könnte sich langfristig als trojanisches Pferd entpuppen. Microbe Hunters von Paul de Kruif, ein Klassiker der populärwissenschaftlichen Literatur und bis in die 80er Jahre hinein immer wieder aufgelegt, erschien -- man glaubt es kaum -- erstmals im Februar 1926. Dabei fing die Jagd auf die Mikroben eigentlich erst zwei Jahre später richtig an, als Alexander Fleming<$IFleming, A.> zufällig entdeckte, daß Penicillium notatum aus der Gattung der Pinselschimmel eine Substanz absondert, die Bakterien lysiert, d.h. ihre Zellwand zerstört. Mit der Identifizierung des Penicillins<$IPenicillin> und seiner klinischen Erprobung begann vor etwa 50 Jahren das Antibiotika-Zeitalter. Im Jahre 1954 verkündete ein Buchtitel dann den "Sieg über die Seuchen". Doch diese Euphorie ist inzwischen längst verflogen: die Gejagten schlagen zurück und das neueste Werk des britischen Mikrobenkenners Bernard Dixon ist keinesfalls ein Epitaph sondern trägt den Titel: "Power unseen" -- die unsichtbare Macht. Nachdem es eine Zeitlang so ausgesehen hatte, als ob Viren -- die durch Antibiotika grundsätzlich nicht angreifbar sind -- die letzten wirklich bedrohlichen Krankheitserreger seien, sind jetzt pathogene Bakterien, wie etwa Mycobacterium tuberculosis wieder auf dem Vormarsch. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtete 1994 einen bedrohlichen Anstieg der Tuberkulose-Erkrankungen<$ITuberkulose> in Osteuropa und der ehemaligen Sovietunion mit 29000 Todesfällen in fünf Jahren. Erstmals seit Jahrzehnten sind sogar für Schwindsucht-Patienten in den Industriestaaten die Heilungschancen ungewiß, da resistente Stämme der Erreger überall aufgefunden werden. Das Wissenschaftsmagazin Science widmete im April 1994 einen Sonderteil mit rund einem Dutzend Beiträgen ausschließlich dem Thema Antibiotikaresistenz<$IAntibiotikaresistenz>. Was zunächst aussah wie ein simpler Wettlauf -- der Mensch mußte mindestens ebenso schnell neue Antibiotika entwickeln, wie sich unter den Bakterien Resistenzgene gegen die alten ausbreiteten, erinnert nun eher an das Rennen zwischen Hase und Igel oder an die von der Evolutionsforschung<$IEvolution> aus Lewis Carrolls Through the Looking Glass entlehnten "Red Queen", die immer schneller laufen muß, um auf derselben Stelle zu bleiben. Wie Julian Davies von der University of British Columbia in Vancouver in einem Übersichtsartikel in der oben erwähnten Ausgabe von Science ausführt, scheitert eine genaue Erforschung der Ausbreitungswege von Resistenzen in der Natur schon daran, daß nur ein Bruchteil der auf der Erde lebenden Bakterien bekannt und erforscht ist. Deshalb können Ausbreitungswege und -mechanismen allenfalls in stark vereinfachten Modellen, nicht aber in der Natur studiert werden. Es zeichnet sich jedoch ab, daß die Antibiotika selbst in mehrfacher Hinsicht die Entstehung und Verbreitung der Resistenz-Gene begünstigen. Zum ersten, und damit hatte man natürlich bereits bei der Einführung gerechnet, erzeugt ihre Anwendung einen Selektionsdruck. Wenn von den Millionen Bakterien im Körper eines Kranken ein einziges zufällig eine Mutation trägt, die es gegen das verwendete Antibiotikum resistent macht, erhält dieses einen enormen Selektionsvorteil gegenüber den anderen, die mehr oder weniger effizient abgetötet werden, und kann sich um so besser vermehren. Selbst wenn das Immunsystem des Kranken letztendlich die Oberhand gewinnt und die Bakterien besiegt, sind doch diejenigen Bakterien, die an die Umgebung abgegeben werden und andere anstecken können, mit hoher Wahrscheinlichkeit resistent. Der zweite Mechanismus, den man ursprünglich für extrem selten und deshalb in der Klinik irrelevant gehalten hatte, betrifft die Verbreitung der Resistenz durch Übertragung genetischen Materials (oft in Form von höchst effizienten Plasmiden, den sogenannten R-Plasmide<$IPlasmid>) auf nicht resistente Bakterien. Erst in jüngster Zeit hat man entdeckt, daß dabei keineswegs, wie bisher angenommen, Übertragungs-Barrieren, etwa zwischen den großen Gruppen der gram-negativen und gram-positiven Bakterien bestehen. Nicht genug damit, daß der Gentransfer<$IGentransfer> leichter ist als bisher angenommen, er wird durch Anwesenheit von Antibiotika auf bisher unbekannte Weise erleichtert. Die schlimmste Hiobsbotschaft erhielten die modernen Mikrobenjäger jedoch, als Vera Webb und Julian Davies 1993 entdeckten, daß die Apotheker die Resistenzgene möglicherweise gleich mit dem Antibiotikum mitgeliefert haben. DNA aus den einzelligen Pilzen, die in den Fermentern der Pharmafirmen die Antibiotika herstellen, ist nur schwer restlos von dem Produkt zu trennen, und bei der Analyse der mitgeschleppten DNA fanden Webb und Davies auch Gene für Antibiotikaresistenzen. Seitdem man weiß, daß Bakterien Fremd-DNA<$IDNA> sehr viel leichter aufnehmen und verwenden können als man ursprünglich annahm, muß man davon ausgehen, daß auch auf diesem Wege Antibiotikaresistenzen verbreitet werden. Auf welche Weise erzielen Resistenzgene ihre Wirkung? Grob gesprochen können Bakterien sich gegen chemische Angriffe zur Wehr setzen, indem sie das Eindringen des Wirkstoffs in die Zelle verhindern, indem sie ihn zerstören, oder indem sie die Angreifbarkeit des Zielenzyms<$IEnzym> herabsetzen. Alle drei Resistenzmechanismen werden in der Natur beobachtet, gelegentlich sogar in demselben Organismus. Die wichtigste (und für die Medizin lästigste) Klasse von Resistenzgenen gehört zu der zweiten Gruppe. Sie kodiert für die Herstellung des Enzyms beta-Lactamase<$Ibeta-Lactamase>, welches die Spaltung der Ringstruktur der beta-Lactam-Antibiotika, also z.B. des Penicillins<$IPenicillin>, katalysiert. Immer neue Penicillin-Derivate wurden entwickelt, gegen die sich die Mikroorganismen<$IMikroorganismen> mit immer neuen Varianten des Enzyms zur Wehr setzten. Eine Punktmutation, d.h. der Austausch einer einzigen Nukleotidbase der DNA<$IDNA> kann die Substratspezifität der beta-Lactamase verschieben. Deshalb versuchen die Pharma-Forscher gleichzeitig auch, Hemmstoffe (Inhibitoren<$IInhibitor>) zu entwickeln, die zusammen mit dem Antibiotikum verabreicht werden können und dieses davor schützen, von der beta-Lactamase aufgeknackt zu werden. Nachdem sich kleine Inhibitormoleküle in klinischen Tests als ineffektiv erwiesen hatten, ruhen die Hoffnungen der Forscher nun auf einem Protein namens BLIP -- Beta-Lactamase Inhibierendes Protein. Für eine große Zahl von Varianten der beta-Lactamase ist BLIP der wirkungsvollste bekannte Inhibitor. Aufschluß über den Mechanismus der Inhibition erhofft man sich von der Kristallstruktur<$IKristallstruktur>, die 1994 veröffentlicht wurde. Doch, obwohl beta-Lactamase eines der am besten untersuchten Proteine ist, und für kaum ein Enzym soviele Inhibitoren entdeckt und untersucht wurden, ist eine endgültige Ausschaltung dieses Resistenzfaktors noch lange nicht in Sicht. Deshalb suchen andere Arbeitsgruppen auch rastlos nach neuen antimikrobiell wirksamen Substanzen, welche die klassischen Antibiotika ersetzen könnten -- und möglicherweise weniger leicht Resistenzen hervorrufen. Auf eine Goldgrube stieß Ende der 80er Jahre Michael Zasloff von der University of Pennsylvania in Philadelphia, als er in der Haut des afrikanischen Krallenfroschs<$IKrallenfrosch> Xenopus laevis ein Peptid fand, das er nach dem hebräischen Wort für Schild Magainin<$IMagainin> nannte. Zwar hatte man schon vorher bemerkt, daß die Haut der Frösche geradezu eine Giftküche darstellt, in der eine ganze Reihe von pharmakologisch aktiven Substanzen zu finden sind, und auch afrikanische und indianische Völker scheinen schon seit Jahrhunderten von der Wirkung der Froschhaut gewußt zu haben. Doch Magainin war das erste "Breitband-Antibiotikum"<$IAntibiotikum>, das aus dieser Quelle gewonnen wurde. Genaugenommen handelt es sich um zwei verwandte Peptide Magainin 1 und 2, die jeweils aus 23 Aminosäuren bestehen und keinerlei Sequenzähnlichkeit mit irgendeiner vorher bekannten Substanz aufweisen. Ihre Wirksamkeit gegen Einzeller entspricht der von herkömmlichen Antibiotika. Zasloff, der aus seiner Entdeckung nun im Rahmen einer eigenen Firma, Magainin Pharmaceuticals, marktreife Antibiotika entwickelt, sucht auch weiter nach antibakteriellen Substanzen in bisher nicht genutzten Quellen. Seine neueste Entdeckung, das Steroid-Antibiotikum Squalamin kommt im Blut von Haifischen vor. Neben der Entwicklung immer neuer synthetischer Varianten der klassischen Antibiotika, der Erforschung von Inhibitoren Resistenz vermittelnder Enzyme, und der Erschließung völlig neuer Substanzklassen für die Jagd auf die Krankheitserreger ist vor allem ein Faktor wichtig: der verantwortliche Umgang mit den existierenden Antibiotika. Jede überflüssige oder nicht zu Ende geführte Anwendung vergrößert unnötig den "Gen-Pool" mit Antibiotikaresistenzen in der Natur und erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß längst vergessene Seuchen zurückkehren und die Mikroben auf Menschenjagd gehen.
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12.01.2005 |