Geschichte


[ Pretending ]


Geschrieben von carle am 07. April 2000 23:28:41:

Der Wecker klingelt. Schon wieder eine Nacht rum. Sie rekelt sich noch ein wenig, dann steht sie auf. Das heißt, es ist nicht so einfach mit dem Aufstehen. Nicht mehr.

Also setzt sie sich erst mal auf die Bettkante. Das Nachthemd fällt in sanften Wellen über ihre Knie. Vor dem Bett steht ein Schuh. Der andere steht seit ein paar Monaten im Schrank. Sie hatte sich erst im Frühjahr diese wunderbaren Plateaustiefel aus schwarzem, glänzendem Leder gekauft, die bis über die Waden gehen. Mit ihren Waden war sie schon immer aufgefallen.

Jetzt fällt sie immer noch damit auf, nur noch mehr. Aber eher anderen Leuten als früher. Während das eine Bein immer noch in den Hochhackigen glänzen kann wird das andere auf andere Weise hervorgehoben. Die linke Wade steigt immer noch mit kühnem Schwung die Stufen zum Kino hoch, von der rechten nun noch etwa die Hälfte da. Dann ist das Bein plötzlich zu Ende. Gerade daß es noch unter dem Nachthemd hervorsteht. Sie zieht das Nachthemd etwas über die Knie nach oben und baumelt mit den Beinen. Ein etwas ungleiches Gefühl ist das. Das kürzere Bein baumelt nicht richtig. Es zappelt so komisch. Der Stumpf ist nicht zum Baumeln geeignet.

Sie zieht sich an. Alles wie immer, wie jeden Morgen. Heut ist es warm. Also nur ein Top übergestreift, Lederrock und Schuh. Der Schuh ist zum schnüren. Das ist zwar mühsam ehe man bis fast zum Knie hochgeschnürt hat, sieht aber stark aus. Sie trägt keine Prothese. Sie ist so stolz auf ihre Waden, immer noch und doch anders. Sie braucht dieses fremde Bein nicht, damit kann man niemandem Blicke entlocken.

Der Stumpf wird auch verschnürt. Eine schwarze Ledermanschette, die wie ein abgeschnittener Schuh aussieht, schwarz und glänzend und mit denselben Schnürsenkeln schiebt sie über den Rest der Wade. Ein rechtes Schuhwerk, straff geschnürt mit einem geraden Abschluß der aussieht wie eine dünne Sohle. Damit ist natürlich kein Laufen möglich. Die Sache endet etwa 35 cm über dem Boden. Aber der Stumpf ist ordentlich bekleidet und schwebt am rechten Knie.

Sie greift die Stöcke und schwingt sich in den Tag.





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