ISLAMISCHE MYSTIK

AUF DER GRUNDLAGE VON QUR'AN UND SUNNA


V - VOM VERBORGENEN SCHATZ UND VON DER SELBSTERKENNTNIS


Während wir zuvor von der Sunna als zusammenhängender Lebenspraxis des Propheten (s) in seiner Funktion als Vorbild und Lehrer gesprochen haben, wollen wir hier noch einmal auf die Hadîthliteratur zurückkommen. Hadîth bedeutet Bericht, in diesem Fall von einzelnen Handlungen, Aussagen und Verhaltensweisen des Propheten (s) sowie von Verhaltensweisen seiner Gefährtinnen und Gefährten, zu denen er Stellung bezogen hat. Ein Beispiel wurde bereits zitiert, in dem Ihsân definiert wurde als ein Verhalten in Gottes Gegenwart; es ist Teil eines längeren Berichts, in dem der Prophet (s) nach Islam, Iman (Glaube) und Ihsân (auf schöne Weise Gutes tun) gefragt wird. Berichte in dieser Form wurden teils mündlich, teils schriftlich weiterüberliefert und später gesammelt, teils nach Gewährspersonen, teils nach Sachgebieten geordnet. Eine besondere Gruppe bezeichnet man als Hadîth Qudsi ("Bericht vom Heiligen"), und hierbei handelt es sich um Aussagen, die dem Propheten (s) eingegeben wurden, ohne jedoch in den Text des Qur'an eingeordnet zu werden. Zwei dieser Aussagen, die für die Mystik von großer Bedeutung sind, wollen wir hier einmal näher betrachten.

Erstens

Gott spricht von sich: "Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden, darum erschuf Ich (die Welt)."

Religion befaßt sich mit drei Hauptfragen des Menschen:

  1. Woher komme ich? Wir finden in diesem Zusammenhang in den verschiedenen Religionen eine ganze Anzahl von Ursprungsdarstellungen, die uns aufgrund ihrer bilderreichen Sprache nur schwer verständlich sind und sich auf den ersten Blick grundlegend voneinander zu unterscheiden scheinen. Eins wird jedoch aus ihnen allen deutlich: die menschliche Erfahrung, aus einem Gesamtgefüge der Natur heraus gewachsen zu sein, als Teil davon und doch davon unterschieden, mit besonderen, teilweise noch nicht ganz begriffenen Fähigkeiten und Beziehungen, und zwar - und das unterscheidet Schöpfungs- und Entstehungsmythen grundsätzlich von materialistischen Erklärungsversuchen - nicht zufällig und nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Wirkung einer höheren Macht. Zu beachten ist, daß die Schöpfungsberichte der Religionen nicht "Geschichte" sein wollen, sondern von der Beziehung des Menschen zu sich selbst, seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen, der "Mutter Erde" und ggf. dem Schöpfer sprechen und menschliche Urerfahrungen und Urkonflikte (z.B. Versuchung, Verfehlung, Umkehr) schildern.
  2. Wohin gehe ich? Darauf gibt es dem äußeren Anschein nach zwei Arten von Antworten. Die eine ist die eschatologische: die Darstellung dessen, was nach dem Tod bzw. am Ende unserer raumzeitlichen Ordnung geschieht. Das zweite ist die Antwort, die auf Ziele und Ideale hinweist und die Grundlage gibt, zwischen Guten (dem, was uns dem Ziel näherbringt) und Bösem (dem, was uns zurückfallen läßt) zu unterscheiden. Allerdings unterscheiden sich beide Ansätze, wie gesagt, nur scheinbar. Sie beziehen sich beide auf eine jetzt noch nicht vorstellbare ferne Zukunft (arab. Âkhira, das Spätere), in der die Früchte unserer Handlungen ausgereift sind bzw. in der wir Klarheit über den Wert einzelner Vorgänge in unserem Leben erhalten.
  3. Was ist der Sinn? In der Tat ist im islamischen Geistesleben die wichtigste Frage: "Warum?" Die Antwort im Qur'an fordert eher zu weiteren Fragen heraus:

    Und Ich habe die verborgenen Wesen und die Menschen nur darum erschaffen, damit sie Mir dienen (Sura 51:57).

    Gelegentlich findet man in Übersetzungen auch: "... damit sie Mich verehren." Dies knüpft dann an die gängige Vorstellung von Gottesdienst im Sinne von Verehrung und Anbetung an. In der Tat ist Verehrung und Anbetung in allen Religionen ein bedeutendes Element des religiösen Lebens, ggf. in Verbindung mit Fasten und Opfer. Aber damit ist das arabische Wort 'abada (dienen) noch nicht vollständig erfaßt. Es bedeutet nömlich darüberhinaus "im Dienste Gottes handeln"; wie wir gesehen haben, nicht nur in einem eng abgegrenzten "sakralen" Bereich, sondern in unserem alltäglichen Leben; nicht nur auf einer geistigen, intellektuellen oder emotionalen Ebene, sondern mit allen Fähigkeiten. Daher auch die körperlichen und gemeinschaftsbezogenen Gesten im rituellen Gebet: der ganze Mensch dient Gott.

Der Prophet (s) sagte: "Glaube ist Erkenntnis im Herzen, Bekenntnis mit der Zunge und Verwirklichung mit allen Fähigkeiten." In der Tat dienen alle unsere Organe Gott, indem sie Seinen Gesetzmäßigkeiten und ihrem Daseinssinn entsprechend tätig sind. Dasselbe gilt für die Naturphänomene:

Die sieben Himmel und die Erde und wer darinnen ist verherrlichen Ihn, und es gibt nichts, das Seine Herrlichkeit nicht lobpreisen würde. Ihr aber versteht ihre Lobpreisung nicht. Er ist langmütig, vergebend (Sura 17:45).

Sicherlich kann das menschliche Bewußtsein der Illusion nachgehen, von seinem Schöpfer und Erhalter unabhängig zu sein. Damit betrügt es aber sich selbst und wird zu irgendeinem Zeitpunkt sehr enttäuscht, wenn es die Wahrheit erkennen muß, die es niemals wahrhaben wollte.

Im Islam gibt es in diesem Zusammenhang die Vorstellung von einem "Urbund" mit Gott:

Und als dein Herr aus den Kindern Adams - aus ihren Lenden - ihre Nachkommen hervorbrachte und sie zu Zeugen gegen sich selbst machte (indem Er sprach): "Bin Ich nicht euer Herr?", da antworteten sie: "Doch. Wir bezeugen es." (Dies geschah), damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: "Wir waren dessen achtlos," oder: "Es waren doch unsere Vorfahren, die Götzendiener waren; wir aber waren lediglich ihre Nachfahren. Willst Du uns denn für das untergehen lassen, was die Lügner taten?" Also verdeutlichen Wir die Zeichen, damit sie umkehren (Sura 7:173-175).

Diese Szene ist außerhalb unserer raumzeitlichen Ordnung zu verstehen. Wichtig ist, daß es tief im menschlichen Inneren wie eine Erinnerung, einen Funken oder ein Samenkorn die Sehnsucht gibt, Gott zu suchen und Ihm zu dienen. Das Wort Rabb, das hier mit Herr übersetzt wurde, bezeichnet eigentlich den Schöpfer, Erhalter und Erzieher, der uns Schritt für Schritt zur Entfaltung bringt und begleitet. Der "Urbund" umfaßt also einerseits das Bekenntnis des Menschen zu seinem Rabb und die Bereitschaft, im Gehorsam Ihm gegenüber seine Fähigkeiten zu entwickeln und damit nach Verwirklichung des Guten zu streben, andererseits das Bekenntnis des Rabb zu Seinen Geschöpfen und die Bereitschaft, sie zu führen, zu versorgen und ihre Schöpfung zu verfeinern. Die liebevolle Zuwendung Gottes zu Seinen Geschöpfen wird an dieser Stelle dadurch unterstrichen, daß Gott von sich in der ersten Person, als "Ich", spricht. Dies ist auch in dem zuvor zitierten Vers der Fall: "Und Ich habe die verborgenen Wesen und die Menschen nur darum erschaffen, damit sie Mir dienen": eine Beziehung gegenseitiger Liebe.

Damit kommen wir zu dem Hadîth Qudsi zurück. Auch hier wird eine Antwort auf die Frage "Warum?" gegeben. Und wenn im Qur'an die Seite der Menschen beleuchtet wird: "... damit sie Mir dienen," dann steht hier der Schöpfer im Mittelpunkt: "Ich war ein verborgener Schatz...", nämlich vor Beginn der Schöpfung, wenn man es in raumzeitliche Begriffe fassen muß. Der Schöpfer ist allein und einzig:

Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der das Verborgene und das Sichtbare kennt. Er ist der Erbarmer, der Barmherzige (Sura 59:23).

Aber schon in dieser Einheit und Einzigkeit ist der Wunsch nach Beziehung. Der Qur'an weist in dem letzten Satz darauf hin: "Er ist der Erbarmer, der Barmherzige." Gott ist ewig, aus sich selbst bestehend, unabhängig, aber da ist Seine Barmherzigkeit, die zum Ausdruck kommen will, die sich nach einem Gegenüber sehnt: "Ich wollte erkannt werden."

Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, der König, der Heilige, der Friede, der Treue, der Beschützer, der mächtige Freund, der Einrenkende, der Majestätische. Erhaben ist Gott über all das, was sie anbeten (Sura 59:24).

Der Wunsch nach Beziehungen differenziert sich zu einem Spektrum von Möglichkeiten, die danach drängen, sich zu offenbaren: Herrlichkeit, Macht, Majestät, Heiligkeit, Treue, Schutz - "Darum erschuf Ich (die Welt)."

Er ist Gott, der Schöpfer, der Bildner, der Gestalter. Sein sind die schönsten Namen. Alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist, preist Ihn, und Er ist der mächtige Freund, der Weise (Sura 59:25).

In mystischen Texten ist oft davon die Rede, daß Gott einen Spiegel schuf, in dem Er sich selbst betrachtet. Nun ist aber der Spiegel - die Schöpfung - selbst auch Subjekt; sie kann sich selbst betrachten und alle Eigenschaften der Schönheit, Herrlichkeit und Vollkommenheit in sich entdecken, ohne deren transzendenten Ursprung zu beachten und die Beziehungen zu pflegen, die der Sinn ihres Daseins ist, in pantheistische Selbstbezogenheit versunken, um dann am Ende des raumzeitlichen Daseins der unerwarteten transzendenten Realität gegenüberzustehen. Ein so weit entwickeltes Geschöpf wie der Mensch kann auch durchaus sich selbst als die eigentliche Realität empfinden und den transzendenten Schöpfer, an den eine unbestimmte Erinnerung vorhanden ist, als abstrakte Idee, bekleidet mit einer Auswahl von Eigenschaften, die dann seine Theologie und Ideologie bestimmen, aber nicht unbedingt etwas mit Kommunikation und Erkenntnis zu tu haben: Gott als Idee, ggf. sogar als Projektion des Geschöpfes, jedenfalls als ein Objekt. Ein wirklicher Dialog kann aber nur zwischen zwei Subjekten entstehen, die sich gegenseitig ernstnehmen und aufeinander hören. Im Qur'an spricht Gott:

Und wenn Meine Diener dich nach Mir fragen: Ich bin nahe. Ich höre den Ruf des Rufenden, wenn er Mich anruft. So sollen sie auch auf Mich hören und auf Mich vertrauen, damit sie den rechten Weg finden (Sura 2:187).

Schöpfung und Offenbarung als Ausdruck des Schöpfers wird auch im "Lichtvers" deutlich:

Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichts ist wie eine Nische, in der eine Lampe steht. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist gleichsam ein glitzernder Stern, angezündet von einem gesegneten Ölbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl beinahe leuchten würde, auch wenn das Feuer es nicht berührt. Licht über Licht. Gott führt zu Seinem Licht, wen Er bereit und würdig findet, und Gott prägt Gleichnisse für die Menschen, und Gott kennt alle Dinge (Sura 24:36).

Dieses Gleichnis wird nun verschieden interpretiert, aber jedenfalls ist es Gottes eigenes Licht, das sich wiederspiegelt. In den Kommentaren wird z.b. die Nische, die dazu dient, das Licht zu reflektieren, mit der gesamten Schöpfung gleichgesetzt, oder aber mit dem Menschen. In letzterem Falle ist das Glas, in dem das Licht enthalten ist, bisweilen das menschliche Herz, und die Nische ist dann seine gesamte übrige Person. Mit diesem Bild im Gedächtnis wollen wir ein zweites Hadîth Qudsi betrachten.

Zweitens

Wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn.

Das arabische Wort 'arafa bedeutet erkennen, kennenlernen, aber auch erfahren. Islamische Mystik bezeichnet man als 'Irfân, weil es darum geht, Gott liebend zu erkennen. Gotteserkenntnis kommt offensichtlich nicht dadurch zustande, daß man theologische Traktate studiert oder auf rein rationaler Ebene ein dogmatisches Gebäude aufbaut. Wir haben aber eingangs von den Zeichen gesprochen, durch die Gott sich uns offenbart, seien sie in den Heiligen Schriften, in Natur und Geschichte oder in uns selbst. Aussagen der Heiligen Schriften sind in der Geschichte der Religionen oft mißverstanden und mißbraucht worden, weil sie aus dem Zusammenhang gelöst und durch eine eigennützige Brille gelesen wurden - ich denke dabei z.B. an die Kriege, die unter Mißbrauch religiöser Begriffe und Schlagwörter geführt, und an andersdenkende oder fremd aussehende Minderheiten, die unter religiösem Vorwand verfolgt wurden. Ähnlich ist es mit Zeichen der Geschichte gegangen, indem vorläufige "Erfolge" nicht als Prüfung erkannt, sondern als Privileg verstanden wurden, sozusagen als "Bestätigung Gottes", und indem aus Erfahrungen der Geschichte nicht gelernt wurde. Wichtig ist offensichtlich zum einen der Gesamtzusammenhang und zum anderen die innere Aufrichtigkeit dessen, der diese Zeichen deutet. Aufrichtigkeit ist jedoch kaum möglich für jemanden, der sich selbst betrügt. In dem Maße also, wie man sich um eine Reinigung jener Brille bemüht, durch die man die Welt betrachtet, wird die Welt 'Âlam, Mittel zur Erkenntnis, letztendlich auch zur Erkenntnis Gottes.

Sufis haben in diesem Zusammenhang verschiedene Methoden und Erklärungsmodelle entwickelt, wie sie ihrer jeweiligen Zeit und ihrem kulturellen Umfeld entsprachen. Ein Modell haben wir bereits kennengelernt: die Entwicklungsstufen des menschlichen Ich. Ein anderes ist das der verschiedenen Ebenen, die ein Mensch im Laufe seiner Selbsterforschung kennelernt.

Da ist zunächst der Körper (zâhir) mit seinen Funktionen. Noch bevor Kinder die Erfahrung machen, daß sie etwas anderes sind als ein Teil ihrer Mutter, entdecken sie ihre einzelnen Körperteile und lernen, sie zu beherrschen, zu koordinieren und zu nutzen, saugen, greifen, sehen, laufen usw. Ein Mensch, der seinem Körper entfremdet ist, wird im Umgang mit sich selbst Schwierigkeiten haben, vor allem dann, wenn körperliche Veränderungen stattfinden wie die Pubertät, eine Schwangerschaft, der Übergang zum Alter u.dgl. Gerade in solchen Zeiten der Veränderung wird nämlich die Vergänglichkeit deutlich, das Werden und Vergehen.

Allerdings wird in gewissem Maße aber nicht nur die äußere Form immer wieder grundsätzlich neu hergestellt, sondern auch die Erfahrungen und Wünsche hinterlassen Eindrücke. Die Summe alles dessen bezeichnen wir als die innere Struktur, alle jene unbewußten oder halbbewußten Faktoren, die auf den Körper und seine Funktionen einwirken. Sie sind z.T. genetische Informationen wie Augen- und Haarfarbe oder Körperbau, z.T. aber auch tiefe Eindrücke und innere Bilder aus eigenen frühen Erfahrungen oder Erfahrungen der Gemeinschaft, in der man aufwächst, die sich aber nicht auf der Ebene des rationalen Lernens übertragen, sondern vielmehr oft auf psychosomatischem Wege äußern.

Für den Kern seiner Persönlichkeit hält der Mensch sein Ich (nafs), von dessen Erziehung bereits ausführlich die Rede war. Geschichten prophetischer Persönlichkeiten aus alten Zeiten, die eigentlich menschliche Grunderfahrungen ansprechen, werden bei diesen Entwicklungs- und Entdeckungsschritten als Hilfe herangezogen. Auf der Ebene des Körpers und der inneren Struktur liegen Adam bzw. Eva, je nachdem ob die betreffende Person ein Mann oder eine Frau ist. Die damit verbundene Urerfahrung ist Fehltritt, Einsicht und Umkehr, durch die sich der Mensch für neue Erkenntnisse und Offenbarung öffnet. Auf der Ebene von Nafs liegt Noah: eine gut erzogene Nafs ist wie ein Schiff voller Tiere - die menschlichen Triebe und Regungen, die sich allesamt innerhalb ihrer berechtigten Grenzen bewegen und sich bereitwillig dem Kapitän unterordnen, der das Schiff durch die Stürme des Lebens hindurch auf das Ziel zusteuert, zu dem der Reeder ihn beauftragt hat. Das bedeutet, daß das Ich einsieht, daß es nicht im Mittelpunkt des Daseins steht. Ein egozentrischer Mensch würde sich selbst verabsolutieren und die eigenen Wünsche und Bestrebungen zum Maßstab für alles andere in der Welt machen. Ein Mensch jedoch, der sich gründlich selbst erforscht, entdeckt zwangsläufig, daß er nichts als ein Pünktchen auf dieser Erde ist, geschweige denn im Universum, und daß es Maßstäbe gibt, denen er untergeordnet, und Beziehungen, in die er eingeordnet ist und die ihn auch selbst verändern können.

Wichtig auf dieser Ebene der Beziehungen ist das Herz (Qalb). Dies ist sozusagen der Dreh- und Wendepunkt des Menschen, indem er sich dem zuwendet, den er liebt. Wenn jemand nur sich selbst liebt, wird das Herz ganz vom Ego in Anspruch genommen, und Mitmenschlichkeit hat darin keinen Platz. Diese Ebene wird durch Abraham (a) verdeutlicht: Nach einer intensiven Suche nach dem wirklichen Geliebten wird er geprüft, wen er nun mehr liebt, Gott oder seinen Sohn, der sein Ich verkörpert; er sieht sich aufgefordert, seinen Sohn zu opfern. Selbstaufgabe ist aber nicht der Sinn dieser Prüfung, sondern was geprüft wird, ist die Liebe und die Bereitschaft: der Sohn wird schließlich durch ein Schaf ausgelöst. Abraham (a) und Ismail (a) bauen in späteren Jahren die Ka'ba, wiederum ein Herz-Symbol: sie kann mit Götzen vollgestellt sein wie zur Zeit der ersten Offenbarungen an den Propheten Muhammad (s), oder es kann rein und leer sein, um Gottes Gegenwart aufzunehmen, also im wahrsten Sinne des Wortes Gottes Haus zu sein.

Jenseits des Herzens liegt die Vernunft ('aql): nicht der rationale Verstand, sondern die Fähigkeit, übergreifende Zusammenhänge zu erkennen und richtige Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Diese Fähigkeit kann schwer gestört werden, wenn etwa das Ich aus seinen Kenntnissen eigennützige Schlußfolgerungen zieht und damit die Harmonie der Beziehungen stürt, in die es eingebettet ist, oder direkten Schaden anrichtet, wie es etwa der Fall ist, wo naturwissenschaftliche und technologische Kenntnisse ohne Rücksicht auf Menschen und Umwelt zur "Gewinnmaximierung" mißbraucht werden: dies ist höchste Unvernunft. Vernunft ist immer mit Verantwortung verknüpft und macht den Menschen erst wirklich zum Khalîfa, zum Statthalter Gottes. Auf dieser Ebene ist die Bezugsperson Mose (a), dem das "Gesetz" deutlich wird und der in Gottes Auftrag das größenwahnsinnige Ich in der Gestalt des Pharao in seine Grenzen weist.

Die nächste Ebene ist die des Geistes (Rûh). Der Geist ist die Verbindung zwischen Mensch und Gott, der Übermittler der Offenbarung und der schöpferischen Impulse. Er erzieht, ernährt und heilt. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt von Jesus (a), dessen Wunder, wie sie im Qur'an erwähnt werden, im Sinne einer Belebung toter Herzen, einer Heilung innerlich Kranker, einer Eingliederung gesellschaftlich "Unberührbarer" usw. verstanden werden. Rûh ist die eigentliche Seele des Menschen, deren leise Stimme aber oft durch das laute Geschrei des Ich in den Hintergrund gedrängt wird.

Die siebte Ebene ist das Licht (Nûr), jener göttliche Funke in uns, der erst dann richtig zum Vorschein kommt, wenn der ganze Mensch durchlässig geworden ist. Licht ist der Offenbarungsinhalt, die Mitteilung Gottes an uns. Es erleuchtet uns und zeigt uns unsere Aufgabe und den Weg, sie zu bewältigen. Wir sehen die Welt "in ihrem wahren Licht". Das Licht vertreibt die Finsternis der Unwissenheit und Ungerechtigkeit (zulm); es ist Gottes eigenes Licht, und wir erkennen, daß in unseren Bemühungen Gott selbst es war, der uns geführt hat:

Gott ist der Freund der Gläubigen; Er führt sie aus den Finsternissen ins Licht ... (Sura 2:258).

Der Funke Seines Lichtes in uns ist es, der uns Einsicht gibt in die Wirklichkeit der Welt und den Sinn unseres eigenen Lebens. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt Muhammads (s), der seinem Herrn in einem "Abstand von zwei Bogen" (vgl Sura 53:1-12) begegnete (eine Geste der Bruderschaft bei den Arabern bestand darin, die Bogen mit der Sehne aneinanderzuhalten, wobei aus dem Halbkreis jedes Bogens zusammen ein Kreis entstand - dieses Bild wird hier für Schöpfer und Geschöpf verwendet). Dies ist eine unmittelbare Berührung auf breiter Fläche, aber keine "Verschmelzung". Die ontologische Differenz, der "unendliche qualitative Unterschied", Gottes Transzendenz bleibt gewahrt, auch wenn das Ich völlig das Bewußtsein von sich selbst verliert, auch wenn der betreffende Mensch sich völlig "von Gott erfüllt" erfährt und nichts anderes mehr lebt als die Impulse, die im von Gott eingegeben werden, wenn er völlig Offenbarungsträger geworden ist.

Der Weg ist lang, mühevoll und nicht ungefährlich. Er wird mit einer Reise durch die Wüste verglichen, wo es Raubtiere gibt, Sandstürme, Löcher voller Treibsand und gelegentlich eine Fata Morgana. Letzteres ist wohl auch die größte Gefahr: die der Illusion, dem Ziel schon sehr nahe zu sein, während man in Wirklichkeit auf Abwege geraten, einem Streich der Phantasie oder der Emotionen zum Opfer gefallen ist. Deswegen wird es fast durchweg als unerläßlich betrachtet, einen erfahrenen Führer oder Begleiter zu haben. Zwei Faktoren sind jedoch - abgesehen von Wissen und einer soliden ethischen Grundlage - unerläßlich:

  1. Die Erinnerung Gottes oder das Gedenken Gottes (dhikr Allâh). Vielfältige Formen der Meditation haben sich in den mystischen Traditionen herausgebildet; das Wesentliche ist jedoch die Besinnung und Erfahrung von Gottes Gegenwart und der Ausbau der Verbindung mit Ihm. Dies ist in sehr umfassendem Maße das rituelle Gebet. Dazu kommen Du'â, Lobpreisungen, die Bitte um Vergebung, das Glaubensbekenntnis u.dgl. oder auch Meditation über die Namen Gottes und Texte aus dem Qur'an. Man unterscheidet in der mystischen Tradition lautes Dhikr (dhikr jalli), das ggf. in der Gemeinschaft geübt wird, indem eine Abfolge von Gebeten rezitiert und/oder Anrufungen wiederholt werden, manchmal begleitet von Körperhaltungen und Gesten bis hin zum Tanz; stilles Dhikr (dhikr khafi), das meist regelmäßig allein durchgeführt wird und eine Vertiefung und Verinnerlichung des ersteren ist; und das sogenannte Dhikr des Herzens (dhikr qalbi), wenn ein Mensch in einer ständigen, ununterbrochenen Herzensverbindung mit Gott lebt. Ich möchte mich dagegen verwehren, daß Dhikr als "Technik" bezeichnet wird, denn dieser Begriff ist zu sehr mit dem verbunden, was der Mensch "macht". Eine ständige Verbindung mit Gott wird nicht "gemacht", sondern man muß sie wachsen lassen und pflegen wie eine seltene, empfindliche Blume.
  2. Sicherlich gibt es Zeiten, wo sich ein Mensch in sich zurückzieht, um in seinem Inneren zu suchen, und sich äußerlich von den Mitmenschen und der Außenwelt distanziert. Viele Mystiker haben einen Teil ihres Leben in der Wüste oder Wildnis oder auf einsamen Reisen verbracht. Auf lange Sicht ist dies jedoch nicht erstrebenswert. In unserem Zeitalter des Individualismus ist es sogar sehr gefährlich, denn in einer Situation, in der auf Dauer die Herausforderungen durch Mitmenschen und verschiedene Lebensumstände fehlen, kann leicht ein falsches Selbstbild entstehen und die Meditation in Autosuggestion umschlagen. Grundsätzlich brauchen Menschen einander, nicht nur zur Sicherung des Lebensunterhalts und der menschlichen Wärme, sondern auch zu gegenseitiger Herausforderung und Kritik. Meine Beziehung zu Mitmenschen und Mitgeschöpfen zeigt nämlich an, wie weit ich mit mir selbst tatsächlich ins Reine gekommen bin; dies aber wiederum ist die Voraussetzung für meine Beziehung zu meinem Schöpfer.

Wir können in der Geschichte der Sufis verschiedene Tendenzen sehen. Die frühen Sufis legten großes Gewicht darauf, sich zurückzuziehen, sowohl vom materiellen Rausch der Reichen ihrer Zeit als auch von den Mächtigen und ihren Einflüssen, denen sie kritisch gegenüberstanden. Sie legten Wert darauf, auch in materieller Hinsicht als Arme zu leben, und übten oft Askese; gleichzeitig pflegten sie jedoch die Gemeinschaft untereinander, soweit dies möglich war, und die Gemeinschaft mit armen, aber ethisch hochstehenden Menschen. Ihr politisches Handeln reichte von "passivem Widerstand" über die Bewahrung und Weitervermittlung islamischer Werte und Engagement für Arme und Entrechtete bis hin zur offenen Kritik an den zeitgenössischen Herrschern und Ansätzen zu alternativen Organisationen der Gemeinschaft.

Nach der Entstehung der großen Ordenstraditionen verstärkte sich das Gewicht auf der Gemeinschaft der Sufis untereinander. Die Ordensgemeinschaften pflegten islamische Werte auf eine Art und Weise, von der ihre Mitmenschen profitieren konnten, unter anderem auch im Bereich der Geisteswissenschaften, des sozialen Lebens und der Kultur. Die kritische Haltung den Herrschenden gegenüber blieb weithin bestehen, allerdings gab es auch gewaltige Versuchungen in den Traditionen, in denen es die Möglichkeit gab, Herrschern beratend zur Seite zu stehen, beratend vor allem im Bereich der Ethik und der zwischenmenschlichen Beziehungen - aber nicht alle Berater waren immun gegen Versuchungen.


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