FAMILIENGESCHICHTE - FAMILIENGESCHICHTEN


Familiengeschichte - Familiengeschichten im Islam - das ist ein Thema, das mich dazu verführt, alles oder nichts zu sagen. Bei der Vorbereitung sind mir tausenderlei Sachen eingefallen, mit denen ich bequem mehrere Bände hätte füllen können, aber dann kam die furchtbare Disziplinübung, mich auf ca. 3000 Wörter zu beschränken.

In einem Informationsblatt des Islamischen Zentrums Hamburg heißt es:

Eine gesunde Gesellschaft wird in erster Linie von gesunden Familien getragen, und gerade deshalb genießt die Familie in einem islamischen System besonderen Schutz.
Das Idealbild der Ehegemeinschaft im Islam ist nicht ein egoistisches Nebeneinander der beiden Partner, sondern ein ergänzendes Mit- und Füreinander. Aus diesem Grunde sollten die Aufgaben sinnvoll geteilt und partnerschaftlich zusammengearbeitet werden. Jeder soll dem anderen so viel Freiraum zugestehen, wie dieser zur Entfaltung seiner Idealgestalt benötigt. Ein starr festgelegtes Rollenschema gibt es im Qur'an nicht; es geht jedoch klar aus ihm hervor, daß es die wertvollste Aufgabe einer Mutter ist, die Kinder nach der Geburt weiter zu versorgen. Sie hat durch ihren körperlichen Bezug zum werdenden Leben von Anfang an die innigste Beziehung, und in den ersten Lebensjahren ist sie die primäre Bezugsperson für das kleine schutzbedürftige Wesen. Vor allem in dieser Situation ist es wichtig, daß der Vater die Beschützer- und Versorgerrolle übernimmt und auf diese Weise dem Kind eine unbelastete Kindheit ermöglicht wird.

Wenn ich demgegenüber die Familiengeschichten betrachte, die mir im Alltag begegnen, denke ich manchmal: Es ist so richtig typisch, daß dieses Faltblatt ursprünglich auf rosa Papier gedruckt wurde (später aus Kostengründen auf weißes Papier, aber mit rosa Farbe). Ich arbeite mit deutschsprachigen Muslimen, die aus mindestens drei Kontinenten stammen, außer Deutsch die verschiedensten Sprachen sprechen, von den unterschiedlichsten Kulturen und religiösen Strömungen geprägt sind und hier zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen.

Damit verbunden sind die unterschiedlichsten Familienstrukturen, alle Schattierungen vom nahöstlichen Patriarchat und inoffizieller Polygamie bis zu nahezu matriarchalen südindischen Familien, von der traditionsbewußten Großfamilie über Teil- und Patchworkfamilien bis zu suchenden oder überzeugten Singles.

Viele dieser Familien habe ich jahrelang begleitet, einige davon kenne ich nun schon in der dritten Generation und habe viele Veränderungen miterlebt. Da gab es Geburten und Todesfälle, Streit und Versöhnung, Eheschließungen und Scheidungen. Es gab auch eine Reihe von Strukturveränderungen, meistens ein Auseinanderfallen in kleinere Einheiten, aber auch bisweilen die Entstehung einer neuen Großfamilie, oder Fälle wie die eines jungen Indonesiers aus einer matriarchalen Tradition, der sich in seiner eigenen Kernfamilie zum regelrechten Patriarchen entwickelte, oder auch - bei eingewanderten Familien - die Spannung zwischen einer Anpassung an die hiesige Kultur und einer Abgrenzung dagegen. Gerade bei letzteren erfahre ich auch immer wieder, daß Teile derselben Sippe in verschiedenen Ländern leben, z.B. in der alten Heimat, hier und in Amerika, und irgendwie versuchen, die Verbindung nicht abreißen zu lassen.

In unserem engeren muslimischen Kreis in Hamburg ist eher schon die bikulturelle Familie das Normale. Da sind die zahlreichen Ehen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern mit Deutschen, aber auch z.b. eine Familie, in der der Vater aus der Türkei stammt und die Mutter aus Portugal, oder der Vater aus dem Iran und die Mutter aus Pakistan, oder die Frau aus der Türkei und der Mann aus Palästina. Wir haben das so einen Schnack: "Was, in deiner Familie kommt nur eine einzige Nationalität vor? Ja, wie funktioniert denn das??!" Aber in Wirklichkeit bedeutet dies, daß immer wieder Brücken gebaut werden müssen zwischen Sprachen, Kulturen, Temperamenten, Ansichten, bisweilen Religionen, oder auch persönlich zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern. Die Hilfestellung dabei fällt mit in meinen Aufgabenbereich.

Meine eigene Familie ist da keine Ausnahme. Von meinen beiden Brüdern lebt der jüngste mit seiner somalischen Frau in Dänemark, der andere wohnt mit seiner Familie in den Niederlanden. Mein Mann stammt aus Pakistan, genauer gesagt, aus Britisch-Indien, denn Pakistan ist ein paar Jahre jünger als er, und hat mittlerweile die dänische Staatsangehörigkeit erworben. Wenn ich Kinder hätte, würde ich daran denken, wenigstens in den ersten Jahren in Pakistan bei meinen Schwiegereltern zu leben, denn bei der Dynamik und Arbeitsteilung innerhalb unserer Großfamilie könnte ich am ehesten meine Vorstellung von Kindererziehung mit einer sinnvollen Tätigkeit außerhalb der Familie verbinden. Einer der Brüder meines Mannes lebt, mit einer Amerikanerin verheiratet, in den USA, und meine Schwiegermutter klagte nach einem Besuch darüber, daß sie sich mit ihren Enkelkindern kaum verständigen könne - die sprechen nämlich nur Englisch. Ein weiterer Bruder arbeitet, nach verschiedenen Jobs in den Golfemiraten und einem vergeblichen Versuch, nach Australien auszuwandern, derzeit in Saudi-Arabien. Ein weiterer Bruder, der selbst bis zum Golfkrieg mit Frau und Kindern in Saudi-Arabien gelebt hat, ist im Begriff, nach Kanada auszuwandern; beim näheren Hinsehen ist er jedoch skeptisch, denn dort scheinen Kinder jeden Respekt vor ihren Eltern zu verlernen. Und so weiter. Auch wenn wir uns oft jahrelang nicht sehen, sind wir in Verbindung und nehmen Anteil, notfalls per Telefon und zunehmend über das Internet. Wenn ich ein Symbol für meine Familie finden müßte, würde mir als erstes eine Weltkarte einfallen.

Gibt es denn dann die islamische Familie? Und was wäre das dann? Vater, möglichst mit einem guten Einkommen, Mutter, mit entsprechender Herzenwärme, und ein paar Kinder, womöglich ein Haus in einem Vorort, wo die Kinder gefahrlos draußen spielen können? Rosa?

Muslime suchen Orientierung gewöhnlich in ihren Quellen, dem Qur'an und der Sunna (Lebenspraxis des Propheten Muhammad(s)). Ich habe mich deshalb dort einmal nach Familiengeschichten umgesehen, wobei man nicht vergessen darf, daß der Qur'an meist nur Bezug nimmt auf Geschichten, die aus der Bibel oder verschiedenen Überlieferungen als bekannt vorausgesetzt und z.T. aus einer neuen Perspektive dargestellt werden. Der Qur'an will damit nicht Geschichte schreiben, sondern ethische Lehren veranschaulichen.

So erkennen wir in der Geschichte der "beiden Söhne Adams" in Sura 5:28-33 unschwer die aus der Bibel vertraute Geschichte von Kain und Abel (arab. Qabil und Habil). Mit der Bemerkung: "Klar! Kenne ich!" könnte man fast darüber hinweglesen, wäre innerhalb der sonst sehr zusammengefaßten Geschichte nicht eine Diskussion der beiden Brüder, die in der biblischen Erzählung nicht vorkommt, die aber mehr über die Täter-Opfer-Beziehung aussagt, denn Kains Wut wird durch Abels selbstzufriedene, ja moralisierende Haltung nur noch verstärkt. Alles dies steht im Zusammenhang mit dem Wert menschlichen Lebens, denn "... wenn jemand einen Menschen tötet ... dann ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet, und wenn jemand einem Menschen das Leben rettet, dann ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben gerettet ..."

Die Geschichte von Noah ist aus qur'anischer Sicht eigentlich keine Familiengeschichte, denn nicht nur er und seine Familie werden vor der Flut gerettet, sondern auch alle diejenigen, die auf seine prophetische Warnung gehört haben. An der einen Stelle, wo das Thema Familie tatsächlich im Vordergrund steht, geht es um den Konflikt mit einem seiner Söhne (Sura 11:42-47), der sich weigerte, mit in die Arche zu gehen, und sich lieber auf seine eigenen Strategien verließ. Auf Noahs Anfrage, warum Gott ihn nicht gerettet habe, obgleich sich die Verheißung auf seine Familie bezogen habe, kommt die Antwort: "Er gehört nicht zu deiner Familie". In Verbindung mit einer anderen Textstelle (Sura 66:10), in der Noahs Frau erwähnt wird als "Beispiel für diejenigen, die undankbar sind", konstruieren einige Kommentatoren eine Erklärung, nach der dieser Sohn das Ergebnis eines Seitensprunges und somit biologisch nicht Noahs Sohn gewesen sein soll. Aber das paßt weder zu der Aussage, daß auch nichtverwandte gläubige Menschen gerettet wurden, noch zu der Lehre, daß sich leibliche Nachfahren vor Gott nicht auf die Verdienste der Vorfahren berufen können, umgekehrt aber auch, daß Nachfahren nicht für Vergehen der Vorfahren belangt werden können, sondern jeder für sich selbst verantwortlich ist.

Letzteres nimmt im Qur'an einen zentralen Platz ein und schlägt sich nieder in der Geschichte von der Auseinandersetzung zwischen Abraham und seinem Vater. Abraham, der Hanif, der traditionellen Glaubensvorstellungen gegenüber kritisch ist und sich auf eine geistige Suche begibt, bis er den Einen hinter allen Phänomenen erkennt (Sura 6:74-79). Er setzt sich daraufhin mit seinem polytheistischen Vater auseinander, bis dieser ihn bedroht und ihn auffordert, ihn zu verlassen (Sura 19:41-48). Abraham bricht auf, aber nicht ohne seinem Vater Frieden zu wüschen und für ihn zu beten. Auch sein weiteres Leben ist Bewegung, Suche und Prüfung.

Von den vielen Geschichten, die mit Abraham und seiner Familie verbunden sind, wird im Qur'an die Verheißung Isaaks erwähnt, bei der Sarah lacht (Sura 11:69-73), und gelegentlich werden Isaak und Jakob als prophetische Personen erwähnt, aber die Geschichte wird nicht weiter verfolgt, während bei den Arabern, die an genealogischen Fragen besonderes Interesse hatte, zahlreiche Überlieferungen dazu bekannt waren. Aber auch die Geschichte des anderen Zweiges der Famlie wird nicht weiter verfolgt, obwohl sie für die islamische Praxis zentral ist. Tatsächlich beziehen sich die Pilgerfahrtsriten in Mekka auf die Geschichte von Abraham und seiner Familie, nämlich auf Hagar und Ismail. Ob es Eifersucht zwischen den beiden Frauen war oder ein Zwischenfall unterwegs oder eine Vision, jedenfalls hinterließ Abraham Hagar und das Kind Ismail in einem unfruchtbaren Tal und ging auf Wassersuche. Als der Durst des Kindes bedrohlich wurde, lief die Mutter zwischen zwei Hügeln hin und her, um Ausschau nach Anzeichen für Wasser oder Hilfe zu halten, bis schließlich da, wo das Kind mit den Füßen gestrampelt hatte, eine Quelle entsprang. Bei jeder Pilgerfahrt nach Mekka wird dieser "Lauf zwischen Safa und Marwa" vergegenwärtigt, wobei sich alle Pilger, auch die Männer, in die Rolle von Hagar versetzen und den Lauf siebenmal durchführen. Nach arabischer Überlieferung siedelte Abraham dann diesen Teil seiner Familie in Mekka an. Später baute er zusammen mit Ismail die Ka'ba als erstes Gebetshaus, das dem Einen geweiht war, und beide beteten zusammen für das zukünftige Heil ihrer Nachkommen (Sura 2:126-129) und der Menschheit.

Ausführlicher wird dann wieder die Episode angesprochen, in der Abraham aufgrund eines Traums versucht, seinen Sohn zu opfern, woraufhin er dann vor Ort aufgefordert wird, stattdessen ein Schaf zu opfern (Sura 37:101-111). Diese Geschichte ist der Hintergrund für das Opferfest, eins der beiden Hauptfeste, bei dem man, wenn man es sich leisten kann, ein Schaf schlachtet und das Fleisch unter Arme, Nachbarn und Angehörige verteilt. "Opfern" hat hier die Bedeutung bekommen, etwas aufzugeben, um es mit anderen zu teilen. Bemerkenswert ist, daß der Name des betreffenden Sohnes, der in der Bibel mit Isaak, in der arabischen Überlieferung aber mit Ismail identifiziert wird, im Qur'an nicht genannt wird. Die Frage nach der Identität des Sohnes ist nicht das Anliegen des Qur'an, und die Kinder Isaaks und Ismails sollten sie nicht zum Streitgrund werden lassen. Es geht vielmehr um die menschlichen Grunderfahrungen, die mit Opfer, Opferbereitschaft, Selbstaufopferung usw. verbunden sind und die dann ja auch meistens Thema der Festtagspredigten sind.

Die einzige Geschichte, die im Qur'an ausführlich wiedergegeben wird, ist die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern (Sura 12:4-101), die klassische Geschichte von Uneinigkeit unter Brüdern aufgrund von Neid und Eifersucht, die aber mit Geduld und Weisheit behoben wird. Aber auch hier finden wir wieder Ansätze, die über die ursrpüngliche Familiengeschichte hinaus auf menschliche Grunderfahrungen deutet. So ist seit jeher in der Mystik die einzig aktiv handelnde Frau der Geschichte, traditionell mit Namen Suleikha, die Joseph verführen will, die Hauptfigur in Dramen, in denen es um die noch unreife Seele geht, die den transzendenten Geliebten sucht und erst mehrere Stadien der Wandlung durchlaufen muß, bis sie seiner würdig ist. Ähnlicherweise werden Josephs Brüder mit verschiedenen Aspekten des Ego identifiziert, die zunächst versuchen, das wahre Selbst zu unterdrücken oder zu verbannen, bis alle nach schmerzhaften Entwicklungsprozessen miteinander integriert werden können.

Bis jetzt scheinen ja immer Männergestalten im Vordergrund zu stehen, aber das ist auffällig anders in der Geschichte von Moses Kindheit (Sura 20:37-40 und 28:4-13). Hier ist zunächst einmal davon die Rede, daß die Mutter die göttliche Eingebung erhält, ihr Kind auf dem Fluß auszusetzen. Dies klingt schockierend genug für Qur'anleser, die göttliche Eingebung für das Privileg männlicher Propheten halten. Dann ist da Miriam, die den Fortgang beobachtet und im entscheidenden Augenblick Mutter und Kind wieder zusammenbringt. Eine Vaterfigur tritt nirgends in Erscheinung. Umso wichtiger ist Pharaos Frau (nach der Bibel: Pharaos Tochter; aber das braucht kein Widerspruch zu sein), traditionell mit Namen Asiya. Sie setzt ihrem tyrannischen Mann gegenüber durch, das Kind zu behalten und großzuziehen, und der Phantasie bleibt viel Raum zwischen diesem angedeuteten Gespräch in Sura 28:4-13 und ihrem Gebet in Sura 66:11, wo sie als ein "Beispiel für alle, die glauben", vorgestellt wird:

Mein Erhalter, baue mir ein Haus bei Dir im Garten und befreie mich von Pharao und seinen Machenschaften und befreie mich von dem Volk der Ungerechten.

In den Kommentaren gibt es zwei Versionen der Geschichte. Die eine ist die, daß ihr Verhalten als Verrat entdeckt wurde und sie dementsprechend zu leiden hatte. Die andere ähnelt der, die auch in dem Film "Die Zehn Gebote" gezeigt wurde, daß sie sich nämlich den Kindern Israel anschließt, als sie aus Ägypten ausziehen. Aber jedenfalls ist ihr Gebet um Befreiung von ihrem Mann ein Denkanstoß, der so gar nicht zu den üblichen Klischees passen will.

Auch in der Geschichte von Hanna, Maria und Jesus fehlt jede Vaterfigur. Hanna weiht ihr ungeborenes Kind Gott für den Tempeldienst und muß bei der Geburt feststellen, daß es ein Mädchen ist (Sura 3:35-43). Bedeutsam ist, daß im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Rollenvorstellungen Gott Maria sehr wohl annimmt und reichlich mit geistigen Gaben beschenkt. Im Zusammenhang mit der Geburt Jesu, den sie zum offenkundigen Entsetzen ihrer Angehörigen ohne Vater erzieht (Sura 3:45-50 und 19:16-34), wird ihr Weg noch ungewöhnlicher. Auch sie wird als ein "Beispiel für alle, die glauben" (Sura 66:12 vorgestellt, und Jesus wird durchweg als "Sohn der Maria" bezeichnet, was die enge Verbindung noch unterstreicht, und zwar nicht nur in biologischer Hinsicht, denn "Mutter" ist im Arabischen nicht nur die Frau, die Kinder zur Welt bringt, sondern Lehrerin, Leitbild und Grundlage. In diesem Sinne werden die Frauen des Propheten Muhammad (s) als "Mütter der Gläubigen" bezeichnet und waren in der Tat die geistige Grundlage der frühen Gemeinschaft.

So sind alle Famliengeschichten im Qur'an voll mit Konflikten und unerwarteten Ereignissen und Entwicklungen. Die einzige Famile, die noch am ehesten an das rosa Bild von der intakten Vater-Mutter-Kind-Familie heranreicht, ist die Familie von Zacharias, von dem es in Sura 21:89-90 heißt: "... da antworteten Wir ihm und schenkten ihm Johannes und heilten ihm seine Frau. Sie (alle) wetteiferten in guten Handlungen und riefen Uns in Ehrfurcht und Hoffnung an und waren Uns gegenüber achtsam." Allerdings verblaßt das Rosa bald, wenn man bedenkt, daß der Hintergrund die Unterdrückung durch die römische Besatzungsmacht und das Ringen um die religiöse Identität war.

Nach Vorbildern für eine bestimmte Familienstruktur, wie es sich angesichts des zunehmenden Verfalls der Familie heute viele Muslime wünschen, suche ich im Qur'an und übrigens auch in den Biographien des Propheten Muhammad (s) und seiner Gefährtinnen und Gefährten vergeblich. Ein Hauptthema ist vielmehr die individuelle Verantwortlichkeit und persönliche Ethik, ohne die weder Familie noch Gesellschaft funktionieren können, ganz gleich, was die Struktur ist.

Was die Praxis betrifft, so ist sowohl im Qur'an als auch bei der Sunna zu unterscheiden zwischen allgemeingültigen Prinzipien und Regeln für den Einzelfall, wobei letztere im Licht von ersteren zu sehen sind und nur in ihrem eigenen Kontext verstanden werden können - sowohl dem Kontext zur Prophetenzeit als auch dem kulturellen Kontext, in dem inzwischen verschiedene Entwicklungen stattgefunden haben. So mag vielleicht ein Ehevertrag in einer traditionellen Gesellschaft mit festen Rollenerwartungen überflüssig erscheinen, ist aber in einer Zeit, wo so vieles im Umbruch ist, schon allein deswegen wichtig, weil er dem jungen Paar Anlaß gibt, über ihre gemeinsame Zukunft nachzudenken. Die Möglichkeit zur Mehrehe, die im Qur'an für den Fall vorgesehen ist, daß man Kindern, die (etwa im Krieg) ihren Vater verloren haben, nicht gerecht werden kann (Sura 4:3), ist in einer "normalen" Gesellschaft mit etwa gleich vielen Männern und Frauen absurd und schädlich. Viele der heute verbreiteten Vorstellungen zum "Schutz der Frau" (Mädchen sollten sich nicht längere Zeit außerhalb des Familienkreises bewegen, eine bestimmte Rollenverteilung in der Familie usw.) haben ihre Ursache eher in durchaus verständlichen historischen Erfahrungen der jeweiligen Volksgruppe (Krieg, Eroberung, Sklaverei, Frauenraub usw.) als in den islamischen Quellen. Und so weiter.

Hier aber ein paar Beispiele für allgemeingültige Aussagen des Qur'an zur Familie:

Ihr Menschen, seid achtsam vor eurem Erhalter, der euch aus einer einzigen Seele erschaffen hat; von dieser erschuf Er ihren Partner, und aus beiden ließ Er viele Männer und Frauen sich vermehren. Seid achtsam vor Gott, in dessen Namen ihr einander bittet, und (besonders) hinsichtlich der Verwandtschaftsbeziehungen. Gott wacht über euch. (Sura 4:1)

Dein Erhalter gebietet: Dient niemandem außer Ihm, und erweist den Eltern Güte. Wenn eines von ihnen oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, sage nicht "Pfui!" zu ihnen und stoße sie nicht zurück, sondern sprich zu ihnen ein respektvolles Wort. Und neige ihnen aus Barmherzigkeit den Flügel der Demut zu und sprich (im Gebet): "Mein Erhalter, erbarme dich ihrer, so wie sie mich als Kleines erzogen haben." Euer Herr weiß am besten, was in eurem Inneren ist. Wenn ihr auf das Rechte bedacht seid, ist Gott vergebungsbereit gegenüber denen, die sich Ihm zuwenden. Gib dem Verwandten, was ihm zusteht, ebenso aber dem Armen und dem Fremden, aber vergeude nicht verschwenderisch. (Sura 17:23-26)

Dies ist bei weitem nicht der einzige Text, der den komplizierten Balanceakt zwischen zu enger Ichbezogenheit und zu großzügiger Öffnung anspricht. Achtsamkeit (taqwa) ist eine der persönlichen Grundhaltungen, die Familienleben und Gesellschaft in Gang halten. Tatsächlich lernt ein Kind innerhalb eines stabilen Familiensystems nicht nur Urvertrauen, sondern auch eine gute Portion Konfliktfähigkeit, Toleranz und Humor. Aber es ist auch immer wieder neues Nachdenken gefordert:

Und zu (Gottes) Zeichen gehört dies, daß er Lebenspartner für euch erschaffen hat von euch selber, so daß ihr Frieden bei ihnen findet, und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin sind Zeichen für Leute, die nachdenken. Und zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Hierin sind Zeichen für die Wissenden. (Sura 30:21-22)

Nicht zufällig wählen wir diesen Text oft als Grundlage für eine Ansprache bei Eheschließungen, besonders wenn die Partner aus verschiedenen Kulturen oder gar Religionen kommen und ganz unterschiedliche Vorstellungen von Ehe und Familie eine Rolle spielen, wird doch hier besonders deutlich, wie sich Vielfalt organisch ergänzen kann, um Zeichen für den Einen Urgrund zu sein.

Und schließlich beschränkt sich im Islam der Begriff "Familie" nicht auf leibliche Verwandte. Gängige Anrede im Alltagsleben ist sehr oft "Bruder" und "Schwester". Die Menschheit wird als eine Nationen und Generationen übergreifende Familie verstanden. Und der Begriff "Umma" für die Gemeinschaft der Gläubigen bezeichnet wörtlich eigentlich eine Generation von Geschwistern von derselben Mutter. Das ist keineswegs romantisch, und im Qur'an heißt es ganz realistisch:

Die Gläubigen sind Geschwister. Stiftet also Frieden zwischen euren Geschwistern und seid achtsam vor Gott, damit ihr Barmherzigkeit erlangt. (Sura 49:10)

Alle Familienideologen sollten vielleicht einmal daran denken, daß Familie nicht gemacht wird, sondern aus allen dem Leben innewohnenden Kräften der Anziehung und Abstoßung wächst. Wir können dieses Waschstum weder bestimmen noch kontrollieren, höchstens bewußt mitgestalten, und das erfordert Geduld und Weisheit.

Und wenn ich eine Farbe finden sollte, die am besten zu "Familie" paßt, dann ganz sicher nicht rosa. Ich sehe da überhaupt keine Möglichkeit zu einem Entweder-Oder. Familie kann nur bunt sein.


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