BIBEL UND QUR'AN

Vom Umgang mit heiligen Texten


Eine der verbindenden Gemeinsamkeiten im christlich-muslimischen Dialog ist die, daß wir heilige Schriften lesen, die auch inhaltlich Ähnlichkeiten aufweisen - nicht umsonst bezeichnen wir gerade Juden und Christen als Leute der Schrift und suchen und betonen die Gemeinsamkeiten in unseren drei Religionen. Sobald unser Gedankenaustausch aber über das gegenseitige Kennenlernen und die gemeinsame Bewältigung akuter Probleme hinausgeht, stehen wir oft verständnislos und verunsichert vor der Art und Weise, wie der Dialogpartner mit theologischen Fragen umgeht. Und was die Beziehung zu den heiligen Schriften angeht, kommt es oft zu Misßverständnissen. Hier soll nun versucht werden, die Grundzüge der Textarbeit mit Bibel und Qur'an nachzuzeichnen, wobei ich mich aus gegebenem Anlaß auf die christliche Bibelexegese beschränken will, so wie sie heute an den entsprechenden Hochschulen gelehrt wird.

1. Zur äußeren Form

Die Bibel ist eine Sammlung von Büchern (biblia = Bücher), grob unterteilt in die Hebräische Bibel, von Christen als Altes Testament (AT) bezeichnet, und das Neue Testament (NT).

Die hebräische Bibel umfaßt die Torah (die Fünf Bücher Mose; arab. Tawrat); Geschichtsbücher wie das Buch Josua, Richter, Könige usw.; die Prophetenbücher und Weisheitsbücher wie z.B. die Psalmen oder Sprüche Salomos. Diese Bücher sind in hebräischer, z.T. auch in aramäischer Sprache abgfaßt und in einem Zeitraum von ca. 1000 Jahren entstanden und zusammengestellt worden.

Das Neue Testament umfaßt die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Briefe und die Johannesapokalypse, die aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten stammen und auf griechische Textgrundlagen zurückgehen.

Der Qur'an ist ein einheitliches Buch, das zu Lebzeiten des Propheten Muhammad (s) in den 23 Jahren nach seiner Berufung entstanden ist und in der arabischen Sprache der damaligen Zeit vorliegt. Abschnitte aus mekkanischer und medinensischer Zeit sind in groben Zügen gekennzeichnet und auf eine Art und Weise miteinander verbunden, die später erläutert werden soll.

2. Zur sprachlichen Untersuchung

Grundlage für die Arbeit mit einem Text ist immer die Kenntnis der Sprache, in der dieser abgefaßt ist, denn jede Übersetzung ist bereits Interpretation. So verhält es sich auch mit den hier vorliegenden Texten.

Allerdings ist biblisches Hebräisch keine Sprache, in der andere Quellen zum Vergleich zur Verfügung stehen, d.h. die Arbeit damit beruht auf schriftlichen Dokumenten, die sich weitestgehend in der Bibel selbst befinden, ist aber andererseits ziemlich sicher vor den Mißverständnissen, die sich bei lebenden Sprachen im Laufe der Zeit durch Sprachveränderungen, Bedeutungsverschiebungen u.dgl. ergeben können. Die Beschäftigung mit dem biblischen Hebräisch ist ein eigener Wissenschaftszweig, zu dem jüdische und auch zunehmend christliche Forscher beitragen, wobei bei ersteren sicherlich auch ihre praktische Beziehung zum Text eine ausschlaggebende Rolle spielt.

Auch Griechisch ist keine lebendige Sprache mehr, obwohl sie bis in dieses Jahrhundert hinein in Europa neben Latein als Gelehrtensprache gepflegt wurde. Zur Zeit des frühen Christentums war es die Verwaltungssprache im östlichen Teil des Römischen Reiches, also auch im römisch besetzten Palästina. Ob Jesus selbst Griechisch verstand, wissen wir nicht; die Sprache, in der er lehrte, war jedenfalls das damals im Volk gesprochene Aramäisch. Die Evangelien, die vor allem sein Leben und Wirken beschreiben, sind in Griechisch abgefaßt und enthalten somit authentische Jesusworte bereits in übersetzter Form. Zu interessanten Ergebnissen kommt der jüdische Professor Pinchas Lapide, der versucht, bei Aussagen der Evangelien die ursprüngliche aramäisch-semitische Gedankenwelt zu rekonstruieren; diese Vogehensweise ist bislang jedoch Pionierarbeit. Ansonsten geht es vor allem darum, das Glaubenszeugnis der Evangelisten sowie der Autoren der Briefe und der Apostelgeschichte zu untersuchen, die - anders als Jesus selbst - Griechisch gesprochen und gedacht haben. Im Gegensatz zur hebräischen Bibel steht hier eine reichhaltige außerbiblische nichtchristliche Literatur zur Verfügung, die klärende Einblicke in die griechische Begriffs- und Gedankenwelt ermöglicht - die sich allerdings von der semitischen, in der Jesus zu Hause war, stark unterscheidet.

Mit dem Qur'an kommen wir durch die arabische Sprache wieder in die semitische Sprach- und Geisteswelt zurück. Da Arabisch auch als lebende Sprache weiterhin im Gebrauch ist, ist es um so notwendiger, die ursprüngliche Bedeutung des Textes herauszuarbeiten. Muslimische Forscher haben die sprachliche Arbeit von Anfang an sehr ernstgenommen. Schon früh wurden Wörtrbücher und Grammatiken entwickelt, aber auch bedeutende Qur'ankommentare wie die von Zamakhshari (12. Jhd.) und Baidhawi (13. Jhd) befassen sich u.a. schwerpunktmäßig mit dem sprachlichen Ausdruck. Zum Sprachvergleich stehen auch außerqur'anische vor- und nichtislamische Texte zur Verfügung, und auch die Hadithliteratur liefert wertvolle Hinweise auf diesem Gebiet. Die sprachliche Arbeit wurde vor allem in der nichtarabischen islamischen Welt gepflegt, und in jüngster Zeit wurden die Möglichkeiten, die die moderne Linguistik bietet, verstärkt mit einbezogen. Wichtig sind auch Vergleiche mit anderen semitischen Sprachen.

3. Zur historischen Untersuchung

Wie oben erwähnt, erstreckt sich die Entstehungszeit der hebräischen Bibel über einen Zeitrum von ca. 1000 Jahren, abgesehen von mündlichen Überlieferungen und ggf. verlorengegangenen Texten vor und während dieser Zeit. Nach dem heutugen Stand der Forschung sind die Fünf Bücher Mose aus mindestens vier selbständigen Dokumenten hervorgegangen, die nach Wellhausen als Jahwist (ca. 900-850 v.C.), Elohist (ca. 700 v.C.), Deutronomisches Geschichtswerk und Priesterschrift (aus der Zeit nach dem babylonischen Exil) bezeichnet werden. Beim Versuch, die früheren Quellen voneinander zu trennen und zu rekonstruieren, haben sich verschiedene Theorien und Hypothesen ergeben, ebenso hinsichtlich der Gründe, die zu der Zusammensetzung der Bücher in ihrer endgültign Form geführt haben. Offensichtlich ist hier der Versuch gemacht worden, für das Volk Israel wichtige heilsgeschichtliche Ereignisse aus den verschiedenen Quellen in chronologischer Reihenfolge anzuordnen, so daß das Wirken Gottes an diesem Volk in der Geschichte deutlich wird, wobei die Biographien bedeutender Personen (z.B. Mose), ihre Lehren und Handlungen, historische Begleitumstände und Erläuterungen und Kommentare miteinander zu einer fortlaufeden Darstellung verschmolzen wurden, so daß ein eindrucksvolles Bild von der Geschichte der Beziehung zwischen Gott und dem Volk entstand. Unter diesen Gesichtspunkten geschah wahrscheinlich auch die Auswahl der vorhandenen Bücher für den Kanon.

Ähnliches gilt wohl auch für die Auswahl der Geschichtsbücher (Richter, Könige, Chronik usw.). Alle weiteren gelten als apokryphe (verborgene) Schriften und werden nicht mehr als Textgrundlage benutzt.

Bei den Prophetenbüchern stehen Personen im Mittelpunkt, die im Hebräischen ebenso wie im Arabischen als Nabî bezeichnet werden (den Begriff Rasûl, Gesandter, der im Qur'an Schlüsselfiguren wie Mose bezeichnet, gibt es in der hebräischen Bibel nicht). Ihre Aufgabe besteht weitgehend in der Erinnerung an Gottes Einheit und ethische Werte, Sozialkritik, Warnung vor durch menschliches Felhlverhalten heraufbschworenen Verfall, Aufruf zur Buße und Verheißung zukünftigen Segens für alle, die sich um Gutes bemühen. In den Prophetenbüchern findet ihre religiöse Erfahrung, ihre Lehre und die Geschichte ihres Wirkens Niederschlag, wiederum in chronologischer Ordnung, und auch sie werden nach redaktionsgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht.

Als umstritten gilt in der Bibelforschung die Entstehungszeit der Psalmen und der Sprüche Salomos; es gibt nur Hypothesen hinsichtlich ihrer Verwendung im kultischen Leben und eine formale Einteilung in Literaturgattungen wie Hymnen, Lehrgedichte, Klagelieder usw., die diesen entsprechen.

Eine besondere Schwierigkeit bei der Rekonstruktion ursprünglicher Texte sind Abschreibefehler, Verwechslungen sich ähnelnder Buchstaben, Auslassungen u.dgl. wie auch Angleichungen an Sprachveränderungen, bona-fide- Verbesserungen des Kopisten und eine Redaktion nach theologischen Aspekten. Die Forschung auf diesem Gebiet ist mühevolle Kleinarbeit, und die Ergebnisse lassen sich nur mit einem gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit feststellen.

Im Zusammenhang mit der historischen Arbeit muß die Archäologie gesehen werden, die allerdings ein eigenständiger Wissenschaftszweig ist. Sie liefert zusätzliche Materialien zu den Kulturen, in deren Bereich die biblische Geschichte spielt, und trägt somit weiter zum Textverständnis bei. Eine übereilte Verbindung von archäologischen Befunden und Textaussagen kann jedoch leicht zu Trugschlüssen führen, deshalb ist auf beiden Gebieten große Sorgfalt nötig. Irrtümer sind da möglich, wo ein Ortsname in dem Sinne "wandert", daß neuangelegte Siedlungen von Ausgewanderten den Namen ihres Herkunftsortes erhalten. Die Archäologie ist eine ziemlich junge Wissenschaft und wird sicher noch viele interessante Informationen zutagefördern.

Die Bezeichnung "Neues Testament" für die griechischen Schriften der Bibel stammt aus dem 3. Jahrhundert n.C., und die Kanonisierung wurde um 367 n.C. abgeschlossen. Für das Urchristentum galt zunächst die hebräische Bibel als normativ, daneben mündlich überlieferte Worte Jesu ("Herrenworte") sowie später bevollmächtigte Worte der Apostel.

In diesem letzteren Sinne vertand Paulus seine Briefe als Lehrbriefe an die Gemeinden; sein erster Brief an die Thessalonicher, verfaßt um 50 n.C., gilt als das älteste schriftliche Dokument des Christentums.

Erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts wurden Jesusüberlieferungen schriftlich fixiert, da die Generation der Primärzeugen im Aussterben begriffen war. Seit dem 2. Jahrhundert bezeichnet man diese Texte als Evangelien (Evangelium = Frohe Botschaft; arab. injîl), wobei der Plural so zu verstehen ist, daß es sich um verschiedene Ausprägungen derselben Botschaft handelt. Es ist zu beachten, daß es sich dabei nicht um Augenzeugenberichte handelt, sondern um bis dahin mündlich überlieferte Glaubenszeugnisse, die sich vor allem auf einige wichtige Punkte des Lebens und Wirkens Jesu beziehen.

Durch textkritische Untersuchungen ist man bisher zu dem Ergebnis gekommen, daß das Markusevangelium wahrscheinlich der älteste vorliegende Text dieser Art ist; auf das darin enthaltene Material sowie auf die sogenannte Logienquelle, eine verlorengegangene Sammlung von Worten Jesu, gehen vermutlich die beiden anderen synoptischen Evangelien (Matthäus und Lukas) zurück, während beim Johannesevangelium zumindest noch eine Sammlung von Wundergeschichten, die sogenannte Zeichenquelle, zugrundeliegt.

Aber nicht nur vier Texte dieser Art wurden aus dem überlieferten Material zusammengestellt, und bei der Kanonisierung erfolgte die Auswahl danach, welche Texte die populärsten waren. Die übrigen, z.B. das Thomas-, das Nikodemusevangelium und die gnostischen Evangelien, gelten als apokryphe Schriften. Die Judenchristen hatten ihre eigenen Evangelien, die jedoch verlorengegangen sind und nur auszugsweise von einigen Kirchenvätern zitiert wurden.

Die Apostelgeschichte wurde wahrscheinlich vom Autor des Lukasevangeliums als dessen Fortsetzung verfaßt, schildert aber weniger das Wirken der Jünger Jesu als hauptsächlich die Missionstätigkeit von Petrus und Paulus und den Weg des letzteren in die damalige "Welthauptstadt" Rom. Sie zeichnet damit vor allem auch die Loslösung des Heidenchristentums vom Judentum und von Jerusalem nach und liefert Hinweise, die für die Erforschung des frühen Christentums nützlich sind.

Wie bereits erwähnt gehoren zu den Schriften des NT 22 Briefe, zu deren Urhebern vor allem Paulus gehört. Sie sprechen als Lehrbriebe überwiegend heidenchristliche Gemeinden an und nehmen Stellung zu deren Problemen. Auch hier wird die Loslösung vom Judentum deutlich, manchmal sogar in Äußerungen, die von Juden mit Recht als diskriminierend empfunden werden können. Ihre Echtheit ist aber nicht überall gesichert.

Die Form eines Briefes hat auch die Johannesapokalypse, die vermutlich zwischen 90 und 95 n.C. von einem auf die Insel Patmos verbannten Seher namens Johannes (nicht zu verwechseln mit dem Evangelisten Johannes) verfaßt wurde und vor allem auf das bevorstehende Weltgeriche aufmerksam machen will.

Da die neutestamentlichen Schriften nicht Geschichtsschreibung, sondern Glaubenszeugnisse sein wollen, enthalten sie oft Aussagen, die für den modernen, rational orientierten Menschen schwer nachvollziehbar sind, wie z.B. die Wundergeschichten. Sie entstammen dem subjektiven Erleben gläubiger Menschen, das heute vielfach aus einer säkularisierten Distanz betrachtet wird, oder drücken in bildhafter Sprache Übersinnliches und Unvorstellbares aus, das den westlichen Menschen heute weniger interessiert als materiell Greifbares und historische Fakten.

Um diesen Problemkreis geht es in der von Mißverständnisse geprägten Diskussion um Verfahrensweisen wie "historisch-kritische Bibelarbeit und Entmythologisierung. Zur Vertiefung des Verständnisses ist es gerade bei einem so komplexen Text wie der Bibel notwendig, die historischen Begleitumstände seiner Entstehung und den "Sitz im Leben" zu rekonstruieren und zwischen Fakten und der Wahrheit seiner eigentlichen Aussage zu differenzieren. Dies sowie die weitere Interpretation erfordert nicht nur die entsprechenden theoretischen Kenntnisse, sondern auch Selbsterkenntnis und Disziplin, denn bei einer solchen Fülle von Informationen besteht immer die Versuchung eines sehr selektiven Vorgehens, das Querverbindungen außer acht läßt, und - was Rückschlüsse auf die Intention von Autoren betrifft - der Projektion. Was Berührungspunkte mit dem Transzendenten betrifft, z.B. bei prophetischen Erfahrungen, wäre es sicher um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen angebracht, sich nicht auf eine enge immanente Erklärung festzulegen, sondern die eigenen Grenzen zu erkennen und ggf. darauf hinzuweisen, daß Kommunikation mit dem Transzendenten mit den vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln weder erfaßbar noch widerlegbar ist.

Die historischen Qur'anarbeit ist ein Gebiet, das bereits sehr früh Muslime beschäftigte. Möglicherweise haben auch die Erfahrungen von Juden und Christen mit ihren Texten dazu geführt, daß besonders sorgfältige Maßnahmen zur Bewahrung der endgültigen Fassung des Qur'antextes ergriffen wurden.

Im Unterschied zur Bibel ist der Qur'an in einem relativ kurzen, historisch greifbaren Zeitraum entstanden. Während er heute in einer nach hermeneutischen Aspekten geordneten Reihenfolge vorliegt, war es von Anfang an ein Anliegen, auch die chronologische Reihenfolge der Textabschnitte nicht aus den Augen zu verlieren und Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Die Kenntnis der Offenbarungsanlässe (Asbâb an-Nuzûl) wie auch der historischen Begleitumstände einzelner Abschnitte sind eine wesentliche Voraussetzung für ihr Verständnis. Bereits in der Überschrift jeder Sura befindet sich daher (zumindest im Originaltext, aber auch in vielen Übersetzungen) die Angabe, ob der Text hauptsächlich der mekkanischen oder der medinensischen Periode zuzuordnen ist. Genauere Einzelheiten werden dann anhand der Stilistik, mit Hilfe zeitgenössischer Berichte, die ihrerseits überlieferungskritisch bearbeitet werden, und im Zusammenhang mit der Biographie des Propheten (s) und seiner Gefährtinnen und Gefährten untersucht. Wichtiges Hilfsmittel hierzu ist die Hadithliteratur, wobei eine detaillierte Methodik entwickelt wurde, einen überlieferten Bericht durch Ermittlung seiner Gewährspersonen (isnâd) und inhaltliche Untersuchungen zu überprüfen, um die Wahrscheinlichkeit seiner Echtheit festzustellen. Bedeutende Kommentatoren wie Tabari haben mit dieser Methodik gearbeitet und sie weiterentwickelt, um den historischen Hintergrund des Qur'an auszuleuchten. Diese historische Arbeit gehört ebenso wie die sprachliche Analyse zum Grundwerkzeug jedes eigenständigen Exegeten.

Wichtig für das Verständnis des Qur'an ist auch eine gründliche Erforschung der vorislamischen Geschichte und Kultur des arabischen Raumes und seiner Gesellschaftsordnung, Wirtschaft und religiösen Vorstellungen und Praktiken. Der Qur'an setzt das seit der Erzväterzeit in Arabien überlieferte Material als bekannt voraus, nicht unbedingt in der Version der "Kinder Israel", wie sie in der Bibel Niederschlag gefunden hat, sondern in der noch zur Zeit des Propheten Muhammad (s) lebendigen, wenn auch mit polytheistischen Vorstellungen vermischten Version der "Kinder Ismail". Die Bezeichnung Jahiliya (Unwissenheit) für die vorislamische Zeit bedeutet nicht, daß die Araber ihre kulturellen Wurzeln nicht kannten, sondern daß ihr Wissen um ethische und spirituelle Werte verschüttet war.

Der Qur'an versteht sich selbst inhaltlich nicht als Geschichtsbuch, obgleich er immer wieder Erinnerungen aus der Vergangenheit wachruft und dazu auffordert, aus historischen Erfahrungen zu lernen. Anhand meist aus der gemeinsamen Überlieferung bekannter Beispiele gibt er vielmehr Anleitung dazu, eine für die Zukunftsgestaltung nützliche Geschichtsphilosophie zu entwickeln. Es steht uns natürlich frei, die mit dem überlieferten Material verbundenen Fakten - soweit dies überhaupt möglich ist - zu erforschen. Oft greift der Qur'an Vorgänge aus der Vergangenheit auf einer ganz anderen Ebene auf, um bestimmte Lehren zu veranschaulichen. Wichtig ist die den drei abrahamitischen Religionen gemeinsame Vorstellung, daß Gott in der Geschichte wirkt; der Qur'an drückt dies auch dadurch aus, daß in der Geschichte - wie auch in der Natur, dem Inneren des Menschen und in den Heiligen Schriften - Zeichen, d.h. Mitteilungen Gottes zu finden sind, die wir begreifen sollen.

Mißverständnisse löst in diesem Zusammenhang oft der Begriff der Verbalinspiration aus, der vielfach so verstanden wird, als ob er historisches Arbeiten mit dem Text ausschließe. In der Tat enthält der Qur'an ausschließlich die Worte, die der Prophet (s) zu verschiedenen Anlässen als textus receptus verkündete, im Unterschied zu seinen eigenen Erläuterungen, erklärenden Verhaltensweisen und Meinungsäußerungen, die zusammen mit anderen damit eng verbundenen Berichten separat davon in der Hadithliteratur gesammelt wurden, abgesehen von biographischen Darstellungen (sira), Kommentaren (tafsir) usw., die, wie wir uns erinnern, in der Bibel ebenso in den uns jetzt vorliegenden Text eingearbeitet wurden wie ggf. wörtlich oder sinngemäß inspirierte Äußerungen prophetischer Personen. Die islamische Theologie unterscheidet konsequent zwischen dem Textus receptus und erläuternden Texten aller Art. Darüberhinaus wird unter Anwendung der oben erwähnten Methodik durchaus die Frage diskutiert, ob tatsächlich alle Texte in den heute vorliegenden Qur'an aufgenommen wurden, und ob ggf. verschiedene Lesarten möglich sind. Eine Untersuchung der Art und Weise, wie Offenbarung zustandekommt, ist dann auch nicht mehr Aufgabe der Geschichtswissenschaft; in diesem Bereich kann man sich auf die Aussage beschränken: "Der Qur'an ist der inhaltliche Niederschlag der religiösen Erfahrung des Propheten Muhammad (s)." Die Frage nach dem Wie der Offenbarung bleibt allerdings nicht ausgeklammert. Sie wurde zusammen mit den psychischen und spirituellen Aspekten anderer religiöser Erfahrungen von den Experten der islamischen Mystik eingehend untersucht. In Unkenntnis dessen verbinden christliche Gesprächspartner mit dem Begriff Verbalinspiration meist eine Analogie zu der seit dem 16. Jahrhundert vor allem im Protestantismus verbreiteten Vorstellung, die gesamte Bibel sei wörtlich inspiriert, irrtumslos und nicht hinterfragbar, ein Dogma, auf das die moderne Bibelkritik eine Reaktion ist. Unumgänglich ist jedoch, daß wir von den in der Vergangenheit erarbeiteten Methoden wieder verstärkt Gebrauch machen und sie weiterentwickeln, um den Geist des Textes besser erfassen und ihn für die Bewältigung der im postindustriellen Zeitalter auftretenden Fragen nutzen zu können.

4. Zur weiteren Arbeit mit dem Text

Bei der weiteren Arbeit mit dem Text geht es darum, ihn in der jeweiligen Zeit und Lebenssituation zu verstehen und auszulegen, denn Sinn und Ziel Heiliger Schriften ist es, den Menschen Orientierung anzubieten. Dies bezeichnet man als Hermeneutik, vom griechischen hermeneiou, "erklären", "dolmetschen". Wichtiger Bestandteil ist die sytematische Arbeit mit dem Text, indem man mit bestimmten Fragen an den Text herantritt und feststellt, was er dazu aussagt, z.B.: "Was sagt die Bibel über die Schüpfung und die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung aus?" oder "Wie steht die Bibel zu Krieg und Frieden?" usw.

Die Frage nach Geboten und Verboten liefert auf diese Weise im Judentum die Grundlage für eine für die Praxis wichtige Gesetzeslehre, und die Frage nach heilsgeschichtlichen Ereignissen bewirkt ein einzigartiges Geschichtsbewußtsein des jüdischen Volkes, das zudem durch die Vergegenwärtigung einzelner Geschehnissen in den Festen des Jahreszyklus immer wieder neu belebt wird und Verbundenheit schafft.

Im Christentum stand die Person Jesu oder vielmehr die Christusgestalt im Vordergrund, und von diesem Ausgangspunkt her wurden die Fragen in Angriff genommen. So galt bereits bei den frühen Heidenchristen das "Gesetz des Alten Bundes" nicht mehr als verbindlich, aber anhand der Lehren Jesu und daran gemessener Weisheit der hebräischen Bibel entstand eine christliche Ethik, die sich im Spannungsfeld mit der staatlichen Gesetzgebung bewähren mußte. Frühe theologische Aussagen bei Paulus ziehen aus den in den Evangelien geschilderten Ereignissen bereits richtungsweisende Schlußfolgerungen und bilden die Grundlage für die spätere kirchliche Dogmatik. Das Bewußtsein der frühen Christen war stark von der Erwartung des nahen Weltgerichts und Gottesreiches geprägt, wie es vor allem bei Paulus, im Johannesevangelium und in der Johannesapokalypse zum Ausdruck kommt; die Eschatologie wurde später unter griechischem Einfluß zum dogmatischen Gegensatz zwischen Irdischem und Himmlischem und darum wiederum zur Grundlage verschiedener Schlußfolgerungen, von asketischer Weltabgewandtheit über bewußte tätige Nächstenliebe bis zur Staatsreligion des Heiligen Römischen Reiches und einem nicht immer friedlichen Sendungsbewußtsein.

Im Mittelalter ging man von der These des "vierfachen Schriftsinns" aus, d.h. man unterschied zwischen 1. dem literarischen oder historischen Sinn; 2. dem allegorischen Sinn, dem Hinweise auf dogmatische Lehrgehalte entnommen wurden; 3. dem moralischen Sinn, der das sittliche Verhalten bestimmte; und 4. dem analogischen Sinn, dem Hinweise auf metaphysische und eschatologische Geheimnisse entnommen wurden. Daraus wurde die Lehre der katholischen Kirche entwickelt, die sich als Maßstab für das theologische und philosophische und sogar für das naturwissenschaftliche Denken verstand. Um die Bibel vom Dogma zu lösen und für dieses wieder zur kritischen Norm zu machen, ließ die Reformation zumindest im Prinzip nur noch den literarischen oder historischen Sinn gelten. Nach der Aufklärung und in ihrem Geist verbreitete sich im 18. Jhd. die historisch-kritische Methode, die biblische Texte grundsätzlich nach den gleichen Regeln interpretierte wie andere Texte. In der Praxis erwies sich diese Methode jedoch, auf sich selbst gestellt, als unzureichend für die Fragen der Gegenwart und dem modernen Menschen verständliche theologische Aussagen.

Der Vielfalt der Möglichkeiten, die sich hier eröffnet, stehen grundsätzliche Überlegungen gegenüber. So ist es zunächst wichtig, sich das Verständnis bewußt zu machen, mit dem man dem Text begegnet, und dieses daraufhin ggf. zu revidieren; dies bezeichnet man als hermeneutischen Zirkel. Da stellt sich auch die Frage nach dem Kontinuum, das den Interpreten mit seinem Text verbindet, z.B. die Konstante eines bestimmten menschlichen Selbstverständnisses oder einer historischen Entwicklung. Wesentlich ist auch die Frage, wo die "Mitte der Schrift" gesehen wird, d.h. nach dem Blickwinkel, von dem aus der Text betrachtet wird. So werden z.B. einzelne Lehren von Jesus oder Paulus als Maßstab gesehen, nach dem der gesamte Text bewertet wird. Auf diese Weise geschieht es von christlicher Seite oft, daß auch die hebräische Bibel unter christologischen Gesichtspunkten interpretiert wird, und hier liegt naturgemäß Zündstoff für Konflikte zwischen jüdischen und christlichen Interpreten. Andererseits stellt sich für Christen die Frage, ob die hebräische Bibel "nur" als Vorgeschichte gelten soll oder auf einer Ebene mit dem NT Zeugnis von Gottes Wirken ablegt. Alle exegetischen Überlegungen sind natürlich auch im Hinblick auf Bibelübersetzungen notwendig. Als Beispiel für neue Ansätze aus jüngster Zeit erscheinen mir die beiden folgenden erwähnenswert:

A) Die tiefenpsychologische Interpretation sucht in den Geschichten und Gleichnissen der Bibel Hilfe für die innere Entwicklung des Menschen und damit verbundene Lebensfragen. Sie nutzt dabei die Erkenntnisse vor allem von C.G. Jung und schöpft aus den Erfahrungen der Menschheit mit Bildern und Symbolen. Der historische Tatsachengehalt ist hier sekundär, und der zeitlose Wahrheitsgehalt wird in den dargestellten Urerfahrungen menschlicher Veränderungen gesehen, die in eine dem modernen Menschen verständliche abstrakte Sprache übersetzt werden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse sind vor allem für Seelsorge und Religionspädagogik wichtig, aber auf dieser Ebene bieten sich sicher auch neue Ansätze im Dialog mit anderen religiösen Traditionen, die einen persönlichen Weg der Selbsterziehung und inneren Läuterung kennen.

B) Die feministische Interpretation ist eine Reaktion auf die traditionelle androzentrische Sichtweise der Kirchen. Sie beginnt bereits bei der sprachlichen und historischen Analyse und versucht, die in vielen biblischen Darstellungen vernachlässigte Rolle der Frauen und ihre religiösen Erfahrungen zu rekonstruieren und zu rehabilitieren, oft unter Zuhilfenahme von Schlußfolgerungen aus der Sozialgeschichte, und frauenfeindliche Äußerungen, die in der Kirchengeschichte oft tragische Folgen hatten und bis heute das Selbstwertgefühl von Frauen mitbestimmen, in ihre Grenzen zu weisen. Fernziel ist eine ganzheitliche Sicht und ein erweiterter Zugang zu religiöser Erfahrung.

Voraussetzung für die systematische Arbeit mit dem Qur'an sind außer den sprachlichen und historischen Untersuchungen auch grundsätzliche Überlegungen. Dazu gehört u.a. die Unterscheidung zwischen allgemeingültigen ('amm) und speziellen (khass), zusammengefaßten (mujmal) und erläuternden (mufassir) usw. Aussagen, aber auch - da der Text nach hermeneutischen Gesichtspunkten geordnet ist - die Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem eine Aussage steht, da dieser für ihr Verständnis ebenso wesentlich ist wie der historische Hintergrund. Darüberhinaus wird seit jeher berücksichtigt, daß der Qur'an in seiner buchstäblichen (zâhir) und seiner übertragenen (bâtin) verstanden werden kann. Im übrigen weist und der Qur'an selbst wiederholt darauf hin, daß er im Zusammenhang mit anderen Zeichen Gottes in der Natur, der Geschichte, im menschlichen Inneren usw., d.h. mit Erkenntnissen auf anderen Gebieten des Daseins, verstanden werden will.

Bei der systematischen Arbeit spielt ähnlich wie im Judentum die Arbeit mit rechtlich-ethischen Aussagen eine wichtige Rolle. Sie bilden zusammen mit der Lebenspraxis (sunna) des Propheten (s), einer vernunftbestimmten Herleitungsmethodik und dem Konsens der kompetenten Gelehrten die Grundlage der Rechtswissenschaft (fiqh). Bereits im Qur'an selbst wird in Verbindung mit Geboten und Verboten meist ein Grund (illa) und eine dahinterstehende Weisheit (hikma) erwähnt, woraus nicht nur Hinweise auf ihr tieferes Verständnis und ihre Anordnung entnommen werden können, sondern auch darauf, daß die Frage nach ihrem Sinn durchaus legitimer Bestandteil dieser Arbeit ist. Aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und zeitbedingten Voraussetzungen und Arbeitsmethoden haben sich die Rechtsschulen (madhâhib) entwickelt.

In engem Zusammenhang damit steht die gesellschaftlich-politische Interpretation. Soziopolitische Überlegungen waren in der Frühzeit des Islam nicht selten Auslöser für allgemeine theologische Stellungnahmen. Sie gewinnen heute wieder an Bedeutung, nachdem sie durch die Machtinteressen der Herrscherdynastien und die Kolonialzeit an den Rand gedrängt worden waren. Der Text wird im Hinblick auf Gesetzmäßigkeiten bezüglich Aufstieg und Fall von Nationen und Kulturen, Unterdrückung und Befreiung, Krieg und Frieden sowie auf Aussagen im Zusammenhang mit der politischen Entscheidungsfindung und wirtschaftlicher Gerechtigkeit bearbeitet. Auf Üuberlegungen dieser Art gründen z.B. moderne Verfassungsentwürfe, staatstheoretische Gedanken, soziologische Ansichten, befreiungstheologische Ansätze usw., darunter auch die Befreiung des Frauenbildes von traditionsbedingtem Ballast.

Von Anfang an wurde der Qur'an selbstverständlich auf theologische Aussagen im eigentlichen Sinne hin gelesen, vor allem anhand der klassischen Fragen nach Gottesverständnis, Menschenbild, Prophetentum und Offenbarung, Gerechtigkeitsbegriff und Eschatologie. Als Ergänzung dazu galt die Hadithliteratur, die allerdings hier besonders kritisch untersucht wurde, so daß nur mehrfach gesicherte Überlieferungen für theologische Aussagen herangezogen werden dürfen. Fragen entstanden auch aus der soziopolitischen Situation, dem dialogischen und polemischen Austausch mit anderen Religionen und der Herausforderung durch die griechische Philosophie. Die Suche nach Antworten führte zur Entstehung der theologischen Schulen. In der klassischen Zeit stand die Theologie auch in einer fruchtbaren Wechselbeziehung mit den sich entfaltenden übrigen Wissenschaften, die erst durch die Mongolenstürme abriß; die Wiederbelebung, die diese Beziehung heute erfährt, liegt leider oft auf der apologetischen Ebene. Durch den konservativen Einfluß der Hoftheologen und die koloniale Überfremdung kam es zur Stagnation und zu einer Erstarrung der theologischen Ausdrucksfähigkeit, von der sich die islamische Welt bis heute noch nicht vollständig erholt hat. Damit hängt auch das vor allem unter Halbgebildeten verbreitete Mißtrauen gegenüber neuen Interpretationsmethoden zusammen.

Ähnliches gilt für die philosophische Betrachtung. Allerdings wurden hier noch mehr als in der Theologie Fragen und Antworten bis in die neueste Zeit, z.B. bei Tabatabai, weitgehend durch das griechische Denkmodell bestimmt und nehmen oft wenig Rücksicht auf die Möglichkeiten des semitischen Texthintergrundes oder aber auf das von Säkularismus, Nihilismus oder anderen zeitgenössischen Strömungen beeinflußte Denken und Fragen des Lesers. Im Zusammenhang mit der weltweiten ökologischen Krise bekommt vor allem die Frage nach dem Welt- und Menschenbild und dem Sinn des Daseins erneut Gewicht und führt weiter zu neuen ethischen und ontologischen Ansätzen.

Die Interpretationen islamischer Mystiker schließlich bezogen sowohl intellektuelle als auch intuitive Erkenntnisse mit ein. Sie beruhen auf einem lebendigen Dialog mit dem Text auf allen Ebenen im Zusammenhang mit der eigenen Lebenserfahrung und der Auseinandersetzung mit sich selbst im Bewußtsein der Gegenwart Gottes. Ibn Arabi beispielsweise interpretierte den Qur'an vom Gesichtspunkt der Einheit des Seins (Wahdat al-Wujûd) her, der seiner spirituellen Erfahrung entsprach und den Schlüssel zu seinem Schüpfungs- und Offenbarungsverständnis bildete. In diesen Bereich gehört auch die Arbeit mit Gleichnissen und Geschichten, die Hilfe für den inneren Entwicklungsweg bieten, sich aber nicht auf Tiefenpsychologie beschränkt. Ungeachtet aller äußeren Einwirkungen sind in den mystischen Traditionen solche Ansätze immer gepflegt und weiterentwickelt worden, und ihre Möglichkeiten sind alles andere als erschöpft.

In westlichen Sprachen liegen fortlaufende Kommentare bislang nur in Form von Fußnoten vor, so z.B. von Yusuf Ali, Muhammad Asad und Maududi in englischer Sprache und eine darauf aufbauende kommentierte deutsche Übersetzung, die die hier erwähnten Ansätze berücksichtigt, aber über einen Einstieg nicht hinausgeht.


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