ICH BIN UNSCHULDIG von Martin Engel
Der Mann hieß Louis Adams und war 38 Jahre alt. Er schwitzte und atmete flach. Sie hatten ihn vor 5 Minuten geholt und in die Kammer geführt. Jetzt lag er festgeschnallt auf dem Operationstisch und wartete auf den Tod. Es war 23 Uhr 58. Die Exekution war auf eine Minute nach Mitternacht angesetzt. Noch 3 Minuten also. Doch die Zeit schien stillzustehen. Eine knisternde Spannung lag in der Luft und er hörte seinen hektischen Atem. Jetzt hing alles vom Gouverneur ab. Sie würden ihn vielleicht töten. Aber wofür eigentlich?
"Ich erinnere mich noch genau als wäre es gestern gewesen. Sie behaupten ich hätte vor 10 Jahren einen Bankangestellten erschossen. Aber das stimmt nicht. An der Waffe waren zwar meine Fingerabdrücke aber ich war nicht am Tatort, ich schwöre es. Ich bin erst dazu gekommen, als ich die Schüsse hörte. Ich fuhr zusammen als ich das blutüberströmte Gesicht des Mannes sah. Er lebte noch. Ich wollte ihm helfen doch ich war so dumm die Waffe anzufassen. Dann waren plötzlich Hände über mir. Passanten rissen mich von meinem Opfer fort und hielten mich fest. Ich war selbst blutbesudelt. Warum habe ich die Pistole berührt? Hätte ich es nicht getan dann...
Auf dem Polizeirevier haben sie mich über 12 Stunden lang mit Elektroschock und russischem Roulett gefoltert um mir das Geständnis zu entlocken. Und schließlich gestand ich den Mord. Es war mir alles egal Hauptsache nur keine Schmerzen mehr. Während der Verhandlung widerrief ich mein Geständnis. Doch es half nichts. Mein Anwalt sagte, da ich nun einmal gestanden habe, sei das Todesurteil unvermeidbar da könne auch er mir keinen Schuh mehr drehen. Ich sagte vor Gericht die Polizei habe mich gefoltert. Noch nie hatte ich Leute so lachen hören. Die Geschworenen, ja sogar die Gerichtspersonen lachten, dass der Saal davon wiederhallte und die Zuschauer fielen mit ein. Aber es stimmt, was ich damals gesagt habe. Ich habe nur der Schmerzen wegen gestanden. In Wirklichkeit aber bin ich völlig unschuldig. Wenn sie mir nur glauben würden dann..."
"Sie werden zum Tode verurteilt Mister Adams.", hatte mein Anwalt mir schon lange vor Prozessbeginn verkündet. Und so war es dann auch gekommen. Der Anwalt war vom Gericht bestellt worden. Aber er hatte noch nie einen Todeskandidaten vertreten. Er hatte es nicht für nötig befunden, sich in meinen Fall mehr einzuarbeiten als nötig. Er ist Schuld daran, dass ich 10 Jahre meines Lebens hier im Staatsgefängnis von San Quentin habe schmachten müssen. Ich hätte schon vor Jahren draußen sein können, wenn ich mich anders verhalten hätte. Ich hätte ihn schon längst entlassen müssen. Er hat einen Antrag nach dem anderen vor Gericht eingereicht und es hat Jahre gedauert, bis die Gerichte ihn endlich ablehnten. Ein Glück, dass er jetzt tot ist. Gott verzeih mir aber ich bin heilfroh darüber. So habe ich noch eine Chance bekommen.
Mein Hinrichtungstermin war festgesetzt worden. Ich stand Todesängste aus und konnte nicht mehr schlafen, konnte nichts mehr essen. Die können sich nicht vorstellen, welche Ängste sie damit bei mir ausgelöst haben. Ich hatte nie ernsthaft daran gedacht, dass es soweit kommen könnte. Ich musste einen Anwalt suchen. Und vor 3 Tagen habe ich dann einen gefunden. Er machte sich mit einigen Kollegen daran Zeugen zu suchen die bestätigen konnten, dass ich zum Zeitpunkt der Tat nicht am Tatort war. Es gelang ihnen einen Mann zu finden der gesehen hatte wie ich die zweiundvierzigste Straße entlang ging die sich 2 Blocks vom Tatort entfernt befindet. Und er hatte gesehen wie ich als ich die Schüsse gehört hatte in Richtung Bank gerannt war. Das war nicht das erstemal gewesen, dass ich so etwas getan hatte. Vor einigen Wochen war es mir gelungen, einen Mann festzuhalten der eine alte Frau hatte ausrauben wollen.
Und heute um 12 Uhr legte mein Anwalt dem Gouverneur ein Gnadengesuch vor."
"Bitte entscheiden sie schnell Gouverneur. Sie können sich nicht vorstellen was dieser Mann für Qualen aussteht wenn sie ihre Entscheidung lange auf sich warten lassen. Fällen sie sie schnell und bitte positiv. Dieser Mann hat das Verbrechen nicht begangen. Er hat auch eine Familie und sie fügen ihr Schmerzen zu, wenn sie diesen Mann hinrichten lassen." Und die Angehörigen des ermordeten Bankangestellten sagten:
"Sie und wir Gouverneur wissen doch ganz genau, dass dieser Mann den Tod verdient. Er hat mir meinen Sohn genommen. Er war mein ein und alles. Ich weiß dass der Tod von Louis Adams mir meinen Sohn nicht zurückbringen wird, doch ich werde mich wenn er tot ist wesentlich besser fühlen. Sie dürfen es diesem Mann nicht gestatten weiterzuleben. Er hat kaltblütig ein Menschenleben ausgelöscht und ich will ihm in ein paar Stunden in die Augen sehen und hoffe, dass er bis zum jüngsten Tag in der Hölle schmoren wird. Sorgen sie dafür, dass er stirbt, Gouverneur. Ich sage ihnen nur Auge um Auge, Zahn um Zahn."
"Doch dieser Gouverneur ist sehr konservativ.", fuhr Adams fort. "Er hat noch keinen Verurteilten begnadigt. Ich habe ihn im Fernsehen gesehen, als er ins Capitol einmarschierte und der Presse verkündete:
"Ich schwöre die Terroristen zur Rechenschaft zu ziehen und für ihre gerechten Bestrafung zu sorgen. Das bin ich den Bürgern dieses Staates schuldig. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Merken sie sich das."
Wie konnte der Gouverneur so etwas sagen? Wie kann er Bibelzitate zur Auslegung der Todesstrafe benutzen? Warum merkt er nicht, dass diese beiden Dinge nicht unter einen Hut gehen?
Zu diesem Zeitpunkt befinden sich Hunderte von Demonstranten für die Todesstrafe vor dem Gefängnis, und etliche vor dem Gouverneurssitz. Bestimmt beschimpfen ihn einige gerade und andere flehen ihn an, er möge mich verschonen. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass er es auch tun wird."
Adams drehte den Kopf und sah durch das Fenster des Zeugenraumes ein Gesicht. Es war seine Frau. Sie hatte ihm eine Tochter geschenkt die jetzt fünf Jahre alt war. Sie konnte von alledem nur begreifen, dass ihr Dad gehen würde. Für immer. Seine und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ihre Blicke sich kreuzten.
Um 22 Uhr hatte der Gefängnisdirektor verkündet, es sei nun Zeit für sie zu gehen. Sie hatte sich unter Tränen geweigert und die Gefängniswärter hatten sie mit sanfter Gewalt aus der Zelle entfernen müssen. Danach war Adams selbst heulend zusammengebrochen und hatte mehrmals das Bewusstsein verloren. Der Arzt hatte ihn mit Medikamenten stärken müssen. "Warum muss man für die Hinrichtung ganz gesund sein?" Als sie ihn dann in den Hinrichtungsraum hatten bringen wollen, hatte er sich gewehrt. Er hatte um sich geschlagen und geschrieen. Vier Mann waren nötig gewesen. Sie hatten ihn in die Kammer geschleift. Dann hatten sie ihn auf dem Tisch festgeschnallt und an ein EKG angeschlossen. "Ein EKG ist doch dazu da um Menschleben zu retten. Oder irre ich mich?" Danach hatten sie die Kanülen in seine Venen eingeführt. Im Chemieraum bereiteten sie die Spritzen vor.
"Schachmatt.", sagte der Arzt und grinste seinen Assistenten an. Die beiden Henker hielten sich im Hintergrund. Sie würden zur gleichen Zeit jeder auf einen Knopf drücken und der Computer würde entscheiden wer von beiden die tödliche Injektion ausgelöst haben würde. Wollten sie damit ihr Gewissen beruhigen?
Es war jetzt 23 Uhr 59. Das Telefon schrillte. Plötzlich war Adams hell wach. Der für den Ablauf der Hinrichtung zuständige Gefängnisbeamte stürzte an den Apparat. Adams Herz schlug ihm bis zum Hals und er sah unverwandt seine Frau an. Er blickte in ihre hellen treuen Augen. "Eine Glasscheibe trennt uns nicht Liebling." Dann legte der Gefängnisbeamte wieder auf und flüsterte dem Direktor etwas ins Ohr. Die Entscheidung war gefallen.
"Gott willst du zulassen, dass ich unschuldig sterbe? Willst du das meinen Lieben antun?"
Der Gefängnisdirektor erhob sich und trat ans Mikrofon:
"Durch den Gouverneur wurde ich angewiesen um Null Uhr eins durch Injektion einer oder mehrerer Substanzen das Todesurteil an Louis Adams zu vollstrecken. Die Injektion erfolgt in entsprechender Dosis und so lange, bis der Tod des Verurteilten Louis Adams eingetreten sein wird." Der Direktor setzte sich wieder. Jetzt fing Adams an zu schreien. Es war ein so fürchterlicher Schrei, dass er sogar den beiden Henkern durch Mark und Bein ging. Gefängnisbeamte rannten durch die ovale Tür in den Hinrichtungsraum und verstopften Adams den Mund. Des Direktors stählerne Miene veränderte sich nicht. Er drehte sich langsam zu den beiden Henkern um und nickte. Die beiden Henker rührten sich nicht.
"Tun sie ihre Pflicht.", schrie er sie an. "Nein.", rief einer der Henker und stürzte aus dem Raum. Der Direktor nickte dem anderen Henker zu, dieser hob mechanisch die Hand und drückte auf den Knopf. In diesem Moment schrie Adams Frau los. Ihre Augen waren unvermittelt auf die ihres Mannes gerichtet. "Ihr Mörder, Mörder!" Sie schlug gegen die Glasscheibe. Ein anderer Mann unter den Zeugen jubelte.
"Jetzt weißt du wie es einem geht, der meinen Sohn ermordet." Gefängniswärter kamen in den Raum und schleppten sie hinaus damit die Anderen dieses sadistische Schauspiel in Ruhe genießen konnten. Ein letztes Mal sah sie auf ihren Mann. Sah, wie dessen Züge sich langsam entspannten. Das Gift begann zu wirken. Dann war sie draußen.