Neunte Lektion

Das fünfte, was die Anfänger verlernen müssen, ist das Opferbringen


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Geschlagen wurde ich von meiner Mutter insgesamt drei Mal, energisch und auf das Hinterteil, mit der Hand und im Zorn. Meine Mutter war jähzornig. Sie wurde, daran erinnere ich mich, vom Zorn gepackt, als ich in einen Laib Brot biß, ohne darauf zu warten, bis man mir ein Stück abschnitt. Damals schlug sie mich in der beschriebenen Weise. Ich erinnere mich an keine Schmerzen, was vielleicht damit zusammenhängt, daß der Zorn meiner Mutter keinen Aufschub zuließ und mir somit das Ausziehen der Hose ersparte. Die Hose dämpfte die Wirkung der Schläge
Diese Erziehungsmaßnahme nannte meine Mutter «salzen» oder «durchsalzen».
Durchgesalzen wurde ich im Schlafzimmer meiner Mutter. In diesem Zimmer hing ein ziemlich großes Bild in einem Goldrahmen, eine Reproduktion. Das Bild zeigte viele schöne Frauen, vielleicht einen Harem. Meine Erinnerung an das Gesalzenwerden ist mit der Erinnerung an das Bild mit den schönen Frauen verknüpft.
Meine Mutter schlief allein.
Daneben, im Kabinett, schlief ich.
Meine Großmama schlief im Wohnzimmer.
Mit meiner Großmama war ich leiblich nicht verwandt. Sie war eine Beamtenwitwe, Sozialdemokratin und Freidenkerin. Mit den Eltern meiner Mutter war sie befreundet gewesen, und als diese gestorben waren, hatte sie sich meiner Mutter und meines Onkels Franz angenommen. So kam es, daß ich sie Großmama nannte. Meine Mutter sprach von ihr als von der Frau Walch.
Die Frau Walch hat mich nie durchgesalzen.
Von der Frau Walch wurde ich «verwöhnt», dem Urteil meiner Mutter zufolge.
Meine Mutter konnte sich ihren Erziehungsaufgaben nur sozusagen nebenher widmen, wegen ihrer Berufstätigkeit. Einmal, es war das in den ersten Wochen meines ersten Schuljahres, zerriß sie -wiederum im Zorn - mein Schreibheft. Ich hatte Auf- und Abstriche zu üben und zog ungebührlich lange Verbindungslinien (Aufstriche), um früher mit der Übung fertig zu werden. Ich wollte spielen gehen, zu den anderen Kindern, «hinunter».
Ich bin schon fertig. Kann ich jetzt hinunter gehen?
Hinunter, das war «der Garten». Dieser war ein Komplex von Kleingärten, um die herum, in einem großen Rechteck, die Wohnhäuser gebaut waren. Die Wohnsiedlung stammte aus dem Jahr 1922 und war von der Gemeinde Wien errichtet worden. Man ging damals von dem Gedanken aus, jedem Mieter einen kleinen Garten zu geben. Die kleinen Gärten durften von uns Kindern nicht betreten werden, es sei denn, es handelte sich um den «eigenen» Garten der Eltern eines der Kinder. Meist spielten wir auf den Wegen, die zwischen den Gartenkomplexen angelegt waren. Wir spielten «Verfolgung», eine Art Versteckenspiel.
Als meine Mutter sah, was ich geschrieben hatte, zerriß sie das Heft, schickte mich in die Papierhandlung um ein neues, und ließ mich noch mal anfangen.
In meinen Träumen lief ich manchmal durch den Garten, verfolgt von einer Frau mit langen schwarzen Haaren. Diese Träume hatte ich in Vollmondnächten, und der Zusammenhang der Frau mit dem Mond war mir im Traum durchaus geläufig, ja selbstverständlich.
Warum sie mir wohl nachgelaufen ist, die Mondfrau?
Warum ich ihr wohl davongelaufen bin?
Sie hat ein Opfer gesucht, und das Opfer sollte ich sein, und was sie mit mir machen wollte, war nicht einmal im Traum vorstellbar, war namenlos schrecklich.
So lief ich durch das «kleine Wegerl». Das kleine Wegerl nannten wir Kinder einen schmalen Weg zwischen den Gärten. Büsche und Zweige von Bäumen wuchsen über diesen Weg, und deshalb hieß er auch «der heimliche Weg». Die Mondfrau verfolgte mich im heimlichen Weg. Erwischt hat sie mich nie, ich wachte früher auf.
Ich wollte nicht geopfert werden.

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Im Jahr 1950, ich war damals im Priesterseminar, schlug mir mein Beichtvater vor, mich der Muttergottes zu «weihen». Ich war einverstanden, und mein Beichtvater gab mir ein kleines Kärtchen, auf dem folgender Text stand:
«O meine Gebieterin, O meine Mutter! Ich schenke mich Dir ganz, und zum Beweise meiner Hingabe weihe ich Dir heute meine Augen, meine Ohren, meinen Mund, mein Herz und mich selbst ganz und gar. Weil ich nun Dein bin, O gute Mutter, so bewahre mich, beschütze mich als Dein Gut und Eigentum. »
Diese Weihe fand in dem Ordenshaus statt, in dem mein Beichtvater wohnte, in einer kleinen Hauskapelle. Ich las den Weihetext laut vor und unterschrieb ihn danach. Auch mein Beichtvater setzte seine Unterschrift auf das Kärtchen und das Datum. Es war der 1. November. Wir beteten gemeinsam das Ave Maria. Sonst war niemand anwesend.
Vier Jahre später, am Abend vor meiner Weihe zum Priester, schrieb ich in mein Tagebuch:
Von neuem rufe ich Dich zu meiner Patronin an; ich bitte Dich, erflehe mir die Gnade, als Priester mich ganz der geheimnisvollen Liebe Gottes zu überantworten.
Mit «Patronin» war die Muttergottes gemeint.
Den Ausdruck «Weihe» vermied ich in meinem damaligen Text.
«Geweiht» bedeutet «zum Opfer bestimmt».
Opfer werden getötet.

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Einweihungen («Initiationen») simulieren, auf dem Höhepunkt des Rituals, einen Tötungsvorgang. Unmittelbar danach werden die Weihekandidaten zu einem «neuen Leben wiedergeboren».
So bei den Wilden, gelegentlich der periodisch wiederkehrenden Umwandlung der Knaben in Männer.
So in den antiken Mysterien, in mancherlei Formen.
So bei der Taufe, die ursprünglich durch Untertauchen gespendet wurde.
So bei der (katholischen) Priesterweihe. Unmittelbar vor ihr liegen die Kandidaten ausgestreckt auf dem Boden.
Auch ich bin auf diese Weise getötet worden, gewissermaßen «symbolisch».
Diesem Symbolismus entsprach real das Keuschheitsgebot.
Die Mondfrau (oben Nr. 28) hatte mich eingeholt, nach 20 Jahren.
Eine äußerst geduldige Person, diese Mondfrau, mit jahrtausendalter Erfahrung.
Sie erwischt alle, an denen ihr gelegen ist.

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Irgendwann (vor langer Zeit) ist irgendwo ein Mensch auf den absurden Gedanken verfallen, durch die Vernichtung von Sachwerten, Pflanzen, Tieren oder Menschen ein gottwohlgefälliges Werk zu tun. Dieser (im genauen Sinn des Wortes) destruktive Einfall steht am Beginn der Kulturgeschichte des Opferbringens.
Der Erfinder des Opferbringens war offenkundig verrückt. Er stellte sich Gott als ausgesprochenen Sadisten vor, mit einem starken Verlangen nach verbranntem Korn, blutigen Kadavern und Kinderleichen. Die Predigt des ersten Opfers war einfach, und in ihr ist der Erfolg seiner Erfindung begründet. Er behauptete:
Wir alle sind Sünder. Um Gott versöhnlich zu stimmen, müssen wir ihm Opfer bringen.
Diese erste Opferpredigt ist allem Anschein nach unter traurigen Umständen gehalten worden - während einer Dürreperiode zum Beispiel. Heitere und zufriedene Menschen hätten den ersten Opfertheologen bestenfalls ausgelacht. (Unter den Jägervölkern, welche die früheste und längste Kulturstufe der Menschen vertreten, findet sich das Opferbringen nicht.) Unter verzweifelten Bauern (Kain!) und Viehzüchtern (Abel!) hat der Opfergedanke jedoch Fuß fassen können.
Noah war bereits ein Opferexperte: «Er nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Als Gott den lieblichen Duft roch, sprach er zu sich selbst: Ich will die Erde nicht wieder um der Menschen willen verfluchen.»
Das Schwein ist in diesem Zusammenhang zu beglückwünschen. Weil es unrein war, entging es dem Geopfertwerden.
Es ist den Juden hoch anzurechnen, daß sich unter ihnen der erste Protest gegen den Unsinn des Opferbringens geregt hat, trotz Noah und Abraham (der beinahe sein eigenes Kind geopfert hätte). Während in Jerusalem und anderswo die Priester alle Hände voll mit Opferbringen zu tun hatten, agitierten die Propheten mit voller Lautstärke gegen die frommen Schlächter. Der Einfachheit halber sprachen die Propheten sozusagen mit der Stimme Gottes, in der ersten
Person:
Was soll ich mit der Menge eurer Schlachtopfer?
Satt habe ich die Brandopfer von Widdern und das Fett der Mastkälber.
Das Blut von Stieren, Lämmern und Böcken mag ich nicht!
So zu lesen im Buch des Propheten Jesaja, im ersten Kapitel.
Eine schwere Geschäftsstörung des Tempelbetriebs.
Ein paar hundert Jahre später haben die Juden das Opferbringen auch tatsächlich abgeschafft, in Vollstreckung jenes Testaments, das von den Christen abschätzig das alte genannt wird. Es lautet:
Liebe will ich, nicht Opfer.
Dementsprechend haben sich auch die antiken Christen über die hinterwäldlerischen Opferbräuche der römischen Staatspriester hinweggesetzt, wozu ihnen ebenfalls zu gratulieren ist.
In sublimierter, nämlich unblutiger Form hat sich das Opferbringen jedoch unter den Christen sehr wohl erhalten, ausgerechnet unter Berufung auf jenen Jesus, der den Opferschafen im Tempel die Freiheit gegeben hatte, in heller Wut und mit der Peitsche in der Hand.
Ein unbekanntes Genie aus den Kreisen frommer Judenchristen hat - bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Tode Jesu und noch vor dem Auftreten des Paulus - aus Jesus ein Opferschaf gemacht. Paulus nahm diese Version begeistert auf, und seither gehört sie zum Kernbestand der christlichen Überlieferung.
Daß Jesus sich nicht einmal im Traum als Opferschaf gesehen hat, störte die christlichen Opfertheoretiker überhaupt nicht.
Besonders ärgerlich ist, daß die Deutung Jesu als Opferschaf auch in die Abendmahlsworte gerutscht ist («. . . mein Blut, das für viele vergossen wird») und somit die nachhaltigste Wirkung hatte.
In der Theorie eines tiefsinnigen Opfertheologen aus dem Mittelalter (Anselm von Canterbury, † 1109) findet sich folgender Gedankengang:
Die Menschen haben Gott durch ihre Sünden schwerstens beleidigt bzw. in seiner Ehre gekränkt. Aus der Rechtsprechung weiß man, daß eine Beleidigung um so schwerer wiegt, je höher der Rang der beleidigten Person ist. Für die Menschen war es juristisch unmöglich, als sterbliche bzw. endliche Wesen dem unsterblichen bzw. unendlichen Gott Genugtuung zu leisten. Infolgedessen mußte der Gottmensch sterben, wodurch die gekränkte Ehre Gottes wiederhergestellt wurde.
Ein durchschnittlich begabtes Schulkind kann diesen Tiefsinn ohne weiteres durchwaten, mit folgender Frage:
Warum müssen wir dann immer noch sterben?
Trotzdem wird das anselmische Opfertheorem weiterhin gedruckt und gelesen - in der Hauptsache allerdings nur von Opfertheoretikern. Zu den Opfertheoretikern gehören alle jene, die an der Erhaltung und Verstärkung des menschlichen Sünden- und Schuldbewußtseins interessiert sind. Opfertheoretiker haben ein pessimistisches Menschenbild. Sie reden und schreiben gerne von Schuld und Sühne, von Tragik, Verstrickung, Verhängnis, Scheitern, Leid, Blut und Tod.
Ich kenne dieses Vokabular recht genau.
Ich war selber ein Opfertheoretiker, aus beruflichen Gründen.
Oftmals mußte ich, während meiner Zeit als aktiver Pfarrseelsorger, an die Opferbereitschaft der Pfarrkinder appellieren, wegen der Nächstenliebe im allgemeinen und des Pfarrbudgets im besonderen. Liebe und Opferbringen bildeten in meinen Predigten ein harmonisches Paar. Ich hatte dabei den Propheten Hosea vergessen, für den Liebe und Opferbringen in einem Gegensatz zueinander stehen, wie bereits zitiert:
Liebe will ich, nicht Opfer.
(Diesen Satz kann man nicht oft genug zitieren; auch Jesus hat ihn zitiert, zweimal, nach Matthäus, in dieser Fassung: Erbarmen will ich und nicht Opfer.)
Hier ist eine Frage für die Anfänger:
Warum schließen die Liebe (bzw. das Erbarmen) und das Opferbringen einander aus?
Die richtige Antwort lautet:
Weil das Opferbringen mit Schuldgefühlen verbunden ist, die Liebe hingegen nicht.

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Hosea (bzw. Gott) und Jesus sind mit ihrer Kritik am Opferbringen nicht besonders erfolgreich gewesen; die Juden blieben eine kleine Minderheit unter den Menschen, und die siegreichen Christen betrachteten Jesus als Opferschaf für einen beleidigten Gott.
Für die Erfolglosigkeit der Opferkritiker gibt es eine einfache Erklärung. Sie ist so einfach, daß sie von der landläufigen Religionswissenschaft, der Sozialpsychologie und der politischen Ökonomie meist übersehen wird. Die Erklärung lautet:
Das Opferbringen ist intim mit dem Geldwesen verknüpft.
Schon die ursprüngliche Opferidee enthält einen durchaus geschäftlichen Zug, im Sinne eines schlichten Tauschhandels zwischen Menschen und Göttern. Währungseinheiten und Wechselkurse mochten in den verschiedenen Kulturen durchaus schwanken, aber der Vorgang selber ist klar:
Einer menschlichen Opfereinheit entspricht eine göttliche Gnadeneinheit.
Zum Beispiel: Eine getötete Jungfrau für ein ausgiebiges Regenwetter.
Der nächste Schritt führt uns in die hochkulturellen Opferfabriken Ägyptens und Mesopotamiens. In diesen Betrieben haben Zehntausende gearbeitet, es handelte sich um wohlorganisierte Wirtschaftskörper, mit eigenem Grund und Boden, Werkstätten (für die Herstellung der Götterbilder) und sogar einer besonderen Polizei.
Der sozusagen kleingewerbliche Opferbetrieb der Dorfpriester mutet demgegenüber geradezu rückständig an.
In den großen Opferzentren der alten Welt ist dann - aus betriebswirtschaftlichen Gründen - eine Rationalisierung im Umgang mit den Opfergaben zu beobachten. Diese Rationalisierung geschah durch Auslese, Wertung und Typisierung der Opfergaben.
Durch Auslese: Alte Hühner werden zurückgewiesen.
Durch Wertung: Ein Schwert bringt mehr Gnade als ein Beil.
Durch Typisierung: Der Opferstier hat einjährig und fehlerlos zu sein.
In der deutschen Sprache läßt sich dieser fromme Geldschöpfungsvorgang noch verfolgen: «Geld» (althochdeutsch «gelt», angelsächsisch «gild») hat ursprünglich «Opfer» bedeutet, der Ausdruck «gelten» soviel wie: «besonders auf Opfer bezogen».
Auf diese Weise wurde der Opferwert einer Sache (oder eines gut gewachsenen Haustieres) zum Richtmaß im Warenverkehr, auch außerhalb der Tempel. Die Bewertung lag ausschließlich im Ermessen der Obrigkeit.
Daß die Aufzucht eines Stieres mit einem weißen Fleck auf der Brust ebensoviel Arbeitskraft kostet wie die Aufzucht eines vollkommen schwarzen Tieres, interessierte die Priester nicht. Sie nahmen - wieder ein Beispiel - nur einfarbige Tiere, im Interesse der Götter.
Dementsprechend hoch war, um im Beispiel zu bleiben, der Marktwert eines einfarbigen Jungstiers. Ein solcher Stier war ebenso gut wie Geld. Er war Geld.
Auch die Priester wollten leben. Sie lebten von jenem Teil der Opfergaben, auf die göttlicherseits verzichtet wurde. Auch die Könige sicherten sich ihren Anteil und belohnten damit in der Folge ihren Hofstaat.
Der nächste Schritt ist so einfach wie betriebswirtschaftlich genial:
Statt eines Stieres wird ein Stück Edelmetall als Opfergabe entgegengenommen, ab dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Älteste Münzen trugen dann tatsächlich das Bild eines Stieres, wie etwa in Lydien. Geprägt wurden die Münzen selbstverständlich von der Obrigkeit, und man kann sich die erbitterten Kämpfe zwischen zivilen und sakralen Machtapparaten um das Münzrecht unschwer vorstellen.
Alle Münzen, im Altertum und im Mittelalter, bis in die Neuzeit, wurden mit religiösen Zeichen versehen. (In Ungarn und Bayern hielt sich die Muttergottes bis ins 19. Jahrhundert auf manchen Münzen.) Auf den Münzen der USA liest man bis heute den Spruch: In God We Trust.
Die urtümliche Vorstellung von Gott als (loyalem) Partner beim Opfergeschäft ist in diesem Spruch noch leidlich erkennbar.
Was bedeuten ein paar Bibelsprüche (Hosea, Jesus) gegen eine solch altrenommierte Ordnung der Dinge?
Wenig, wie die Kulturgeschichte lehrt.
Andererseits muß festgehalten werden:
Die Mystik ist dem Opferbringen ebenso entgegengesetzt wie das Erbarmen dem Geldwesen.
Wir registrieren, innerhalb der Bibel, zweierlei Gott.
Der eine freut sich über die Opfer, der andere nicht. Der eine wünscht Zerknirschung, der andere Liebe.
Dem einen entspricht Jesus als Opferschaf (das hinwegnimmt die Sünden der Welt), dem anderen der Jesus in schlechter Gesellschaft.
Der eine heißt in Wirklichkeit Mammon, weil er auf Bezahlung der Schuld besteht; er ist, wie in Nr. 5 bereits gesagt wurde, eine Mystifikation - allerdings, wie nunmehr hinzugefügt werden darf, eine ungemein wirksame.
Den anderen Gott könnte man den unbekannten Gott nennen. Er lebt, wie die jüdischen Mystiker das ausgedrückt haben, in der Verbannung.

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Meine Mutter hatte eine schöne und gut lesbare Handschrift.
Sie führte eine Art Tagebuch, in dem sie alles notierte, was ihr in bezug auf mich erinnernswert schien: Beförderungen, Auslandsreisen, Todesfälle, öffentliche Auftritte, Übersiedlungen usw.
Wenn in den Zeitungen über mich geschrieben wurde, schnitt sie die Artikel aus und legte sie in ihr Heft. Der Gegenstand ihrer Chronik war ausschließlich ich.
Im letzten Jahr ihres Lebens wurde die Schrift meiner Mutter zittrig und konnte nicht mehr genau die Zeilen einhalten. Das Schreiben machte ihr zusehends Mühe, wie sie mir sagte. Trotzdem führte sie ihre Chronik weiter. Die letzte Eintragung geschah vier Monate vor ihrem Tod.
Meine Mutter hat, wenn man es so ausdrücken darf, für mich gelebt.
Hat sie sich, wie manche Leute das ausdrücken würden, für mich «aufgeopfert»?
Nein.
Sie war keine Masochistin.

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Es gibt eine weitverbreitete Form der Mystik, vor der insbesondere die Anfängerinnen nachdrücklich gewarnt werden müssen. Es handelt sich um eine masochistische Mystik, und sie zieht aus den widerwärtigsten Erfahrungen den größten Lustgewinn.
Die bedeutendste Heilige der masochistischen Mystik heißt Maria Magdalena dei Pazzi (1566-1607), eine Karmeliterin aus Florenz. Sie gilt als eine der hervorragendsten Mystikerinnen ihres Ordens. Sie wälzte sich in Dornen, ließ sich gerne heißes Wachs auf die Haut tropfen, aufs Gesicht treten und auspeitschen. Ihr Herzenswunsch:
«Pati non mori.»
Immer leiden ohne zu sterben.
Weitere heiliggesprochene Mystikerinnen dieser Art sind:
Die heilige Angela von Foligno (1248-1309). Sie trank das Waschwasser von Aussätzigen, laut eigener Aussage mit Wonne.
Die heilige Katharina von Genua (1447-1510). Sie kaute Schmutz von alten Armenkleidern, wobei sie auch die Läuse verschluckte.
Die heilige Marguerite Mane Alacoque (1647-1690). Sie schnitt sich ein Jesusmonogramm in die Brust und brannte es, als es wiederum zuheilte, mit einer Kerze frisch aus.
In der Persönlichkeitsforschung wird derlei unter dem Merkmalskomplex des sogenannten «weiblichen Masochismus» erörtert. Er ist nicht nur unter mittelalterlichen und barocken Nonnen anzutreffen, sondern auch, in milderen Formen, unter modernen Hausfrauen. Er wird mit Hilfe des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) getestet.
Unter weiblichem Masochismus kann die freudige Bereitschaft zu Schmerz und Unglücklichsein und Verzicht auf Triebbefriedigung verstanden werden, im Zusammenhang mit einem Geborgenheitsgefühl in einer autoritären Familie.
Wie der Psychologe Bales hinzufügt, handelt es sich hierbei um ein weitverbreitetes (common) weibliches Rollenverhalten.
Es entspricht der Haltung des (freudigen) Opferbringens, und die modernen Volkswirtschaften ziehen aus ihm einen nicht unbeträchtlichen. Gewinn.
Nach dem Urteil von Galbraith ist die dienende Rolle der Frau von ausschlaggebender Bedeutung für die Expansion des Konsums in der modernen Wirtschaft. Ausgedrückt in Geldwert, kann der Anteil der Hausfrauentätigkeit am Bruttosozialprodukt auf ein Viertel geschätzt werden. Das ist gar nicht so wenig, wenn man bedenkt, daß für die Hausfrauentätigkeit in der Regel keine Bezahlung vorgesehen ist. Um die Frauen trotzdem bei Laune zu halten, wird ihnen von Kindheit an der hohe Wert des (freudigen) Opferbringens beigebracht, mit allerlei Weisheitslehren.
Zum Beispiel:
Man muß auf vieles im Leben verzichten.
Die Anfänger werden gebeten, auf diesen Spruch mit der Frage zu antworten:
Warum?
Daß meine Mutter auf vieles im Leben verzichten hat müssen, kann ihrer Kurzbiographie am Beginn dieses Buches entnommen werden. Das Verzichtenmüssen hat sie nicht als wertvoll empfunden, entgegen der Auffassung der Opfertheoretiker, die aus jedem Magengeschwür eine Stufe zum Himmel machen. Nicht einmal abgefunden hat sie sich mit dem Verzichtenmüssen, wie aus ihrem Wunsch nach dem Haupttreffer hervorgeht. In diesem Wunsch ist ihr Protest gegen die ihr aufgezwungene Lebenswirklichkeit enthalten.
Daß meine Mutter keine Revolution gemacht hat, wird man ihr schwerlich zum Vorwurf machen können.

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Der weibliche Masochismus findet sich auch unter Personen des männlichen Geschlechts, beispielsweise den Opfertheoretikern.
Die Idee, der Muttergottes meine Augen, meine Ohren, meinen Mund, mein Herz und mich selbst «ganz und gar» zu weihen (= zu opfern), ist eine opfertheoretische Idee. Mein Beichtvater, der mich auf sie brachte (oben Nr. 29), hat sie nicht erfunden. Sie hat ein hohes kulturgeschichtliches Alter. Wenn sie beim Wort genommen wird, führt sie zur Selbstverstümmelung, vornehmlich an jenen Organen, die im Text meiner Marienweihe nicht ausdrücklich erwähnt werden:
Die Priester der Kybele, einer aus Phrygien stammenden Mysteriengöttin der Antike, wurden kastriert.
Die Nachrichten über solche Radikalweihen sind spärlich; überaus zahlreich dagegen die Zeugnisse einer Lebensauffassung, derzufolge der Verzicht aufs Liebesleben den Aufstieg in sonst unzugängliche geistige (und mystische) Höhen ermöglicht.
Ein gewaltiger Männerchor, aufsteigend aus verstaubten Folianten, singt das Lied von der Enthaltsamkeit. Brahmanen, buddhistiche Mönche, christliche Asketen, Manichäer, Kirchenväter, Bogumilen, Katharer, Skopzen preisen die Keuschheit. Sie gehören den gebildeten Oberschichten der jeweiligen Kulturen an, sie sind die Intelligenzija des Triebverzichts.
Die Chinesen, die Juden, die vorchristlichen Griechen und Römer fehlen in diesem Chor.
Auch Jesus hat nicht mitgesungen.
Hingegen hat Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.), Bischof und Kirchenlehrer mit allseits anerkannter Autorität bis ins späte Mittelalter, eine Solopartie im Keuschheitschor übernommen.

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Der Gott des Augustinus befiehlt Enthaltsamkeit. Was die Ehe betrifft, gestattet er sie zwar, rät aber einen Zustand an, der ihr «überlegen» ist.
Diesen Zustand wählte Augustinus im August des Jahres 386, auf dem Höhepunkt einer Seelenkrise, «nur noch ganz wenige Tage vor den Weinleseferien», in Mailand. Dort war Augustinus Professor für Rhetorik und Sprachwissenschaft. Seine «Bekehrung» hat Augustinus selbst geschildert, im 8. Buch seiner berühmten «Bekenntnisse». «Eines Tages kam ein gewisser Ponticianus zu mir, ein Landsmann aus Afrika, der in angesehener Stellung am kaiserlichen Hof lebte.» So beginnt Augustinus die Darstellung seiner Lebenswende, die viele hundert Jahre lang beispielgebend war.
Augustinus und sein Freund Alypius, mit dem er zusammen lebt, empfangen den vornehmen Gast. Man nimmt Platz, und der Blick des Besuchers fällt auf ein Buch, das auf einem Spieltischchen liegt. Er nimmt es zur Hand und blättert darin. Es handelt sich um ein Exemplar der Briefe des Apostels Paulus. Angenehm berührt, gesteht Ponticianus, daß er Christ sei, und man beginnt über religiöse Fragen zu plaudern.
(Augustinus ist zu dieser Zeit noch nicht getauft; seine philosophischen und theologischen Interessen hatten ihn im Alter von 20 Jahren zur Glaubensbruderschaft der Manichäer geführt, einer aus Persien stammenden Weisheitskirche. Er trennte sich erst nach zehn Jahren von ihr, nachdem ihm manichäische Freunde den Posten in Mailand verschafft hatten.)
Ponticianus beginnt von Antonius dem Einsiedler zu erzählen, einem der ersten christlichen Mönche in Ägypten. Augustinus bemerkt, daß er noch nie etwas von den Mönchen gehört hätte, und Ponticianus beginnt sich für den Gesprächsgegenstand zu erwärmen. Er berichtet von den vielen christlichen Klöstern, allenthalben sind sie zu finden, sogar in Mailand gibt es eins. Folgende Geschichte habe er selbst erlebt:
Als er in Trier stationiert gewesen, sei er mit drei Freunden an einem langweiligen Nachmittag in den Gärten vor der Stadtmauer spazierengegangen. Mehr oder weniger zufällig habe man sich getrennt - er und sein Begleiter seien nach rechts, die beiden anderen nach links gegangen. Letztere seien ohne besonderes Ziel weitergeschlendert und dabei auf eine Hütte gestoßen, in der einige jugendliche Weltflüchtlinge lebten. Mit denen seien sie ins Gespräch gekommen, und auch ein Buch mit der Lebensbeschreibung des Mönches Antonius sei ihnen dabei in die Hände gekommen. Der eine habe darin zu lesen begonnen, mit zunehmender Betroffenheit, und unterm Lesen habe er den Plan gefaßt, ein ebensolches Leben zu beginnen.
Sag mir bitte, so habe er zu seinem Freund gesagt, worauf wir mit allen unseren Anstrengungen hinauswollen. Was suchen wir? Aus welchem Grunde dienen wir? Haben wir bei Hofe noch eine höhere Aussicht als das Amt und den Titel «Freund des Kaisers» zu erringen? Und was ist an einer solchen Stellung nicht hinfällig und gefahrvoll? Und wie lange dauert es, bis man sie erlangt? Ein Freund Gottes hingegen kann ich, wenn ich will, gleich auf der Stelle werden.
So hätten sich beide zum Mönchtum entschlossen. Sie waren verlobt, und als ihre Bräute die Neuigkeit erfuhren, hätten sie ebenfalls den Zölibat gewählt.
Augustinus hört kaum mehr zu, als Ponticianus die Rede auf die Angelegenheit bringt, derentwegen er gekommen ist. Nachdem sich der Besuch verabschiedet hat, beginnt sofort die große Szene.
Augustinus, schreiend: «Was lassen wir uns da gefallen? Was ist das, was wir da gehört haben? Die Ungebildeten stehen auf und holen sich den Himmel, und wir, mit unserer Bildung ohne Herz, wir wälzen uns in Fleisch und Blut!»
Alypius ist perplex.
Augustinus läuft in den Garten, der Freund geht ihm nach.
In einem entfernten Winkel des Gartens setzen sich die beiden nieder; Augustinus - «ich hatte den Verstand verloren und starb, um neues Leben zu gewinnen» - rauft sich das Haar, schlägt sich an die Stirn, umklammert mit verkrampften Fingern die Knie.
Augustinus zu sich selbst: «Jetzt ist bald Schluß! Jetzt ist bald Schluß! »
Dann spürt er die Tränen in sich aufsteigen, bittet Alypius, ihn allein zu lassen, und geht weg. «Ich habe mich unter einen Feigenbaum geworfen und den Tränen freien Lauf gelassen. In Strömen brachen sie aus meinen Augen hervor. »
Im Weinkrampf: «Wann denn, wann denn? Morgen und morgen? Warum nicht in dieser Stunde das Ende meiner Schmach?»
In diesem Augenblick hört Augustinus aus dem Nachbarhaus eine Kinderstimme, die in singendem Ton wiederholt: Nimm, lies! Nimm, lies!
Sofort steht Augustinus auf, er ist überzeugt davon, ein Buchorakel befragen zu müssen. (Diese Sitte war in der Antike beliebt.)
Er geht ins Haus zurück, nimmt den Band der Paulusbriefe und schlägt ihn auf. Sein Auge fällt auf folgende Stelle:
«Nicht in Fressen und Saufen, nicht auf Lagerstätten und in Unzüchtigkeiten, nicht in Streit und Mißgunst! Sondern den Herrn Jesus Christus sollt ihr antun, und den Leib nicht zur Erregung der Lüsternheit hätscheln.»
Damit ist die Entscheidung gefallen; Augustinus hatte sich zum Zölibat entschlossen. «Die Verstrickung in das Weib» war gelöst, im Alter von 32 Jahren. Fortan lebte Augustinus vollkommen keusch.
Bereits mit 19 Jahren war in Augustinus, bei der Lektüre einer philosophischen Erbauungsschrift, der Wunsch nach einem keuschen und nur dem Studium der Weisheit hingegebenen Leben erwacht. Allerdings hatte er damals bereits einen Sohn, der stammte aus einer eheähnlichen Verbindung («concubinatus») mit einer Afrikanerin. Diese Verbindung dauerte 15 Jahre, und die beiden haben einander zweifellos geliebt.
In den besseren Kreisen der damaligen Gesellschaft war das Konkubinat eine durchaus übliche und auch legale Form der Regelung des Liebeslebens der jungen Herren vor der offiziellen und standesgemäßen Heirat. Die entsprechenden Mädchen stammten aus einfacheren Kreisen und wurden zum gegebenen Zeitpunkt «entlassen».
Das hatte auch Augustinus getan, einige Monate vor seiner «Bekehrung», und zwar auf Betreiben seiner Mutter Monica. Diese war Witwe geworden und nach Mailand gekommen. Sie war getaufte Christin und drängte den Sohn zu einer Vernunftheirat. Tatsächlich wurde eine geeignete Braut gefunden, die hatte nur einen Fehler: sie war um zwei Jahre zu jung zum Heiraten. Mit der Unterzeichnung des Verlobungsvertrages war das Konkubinat unmöglich geworden. Augustinus schickte seine Frau zurück nach Afrika, der Sohn blieb bei ihm.
Für die Zwischenzeit hielt sich Augustinus eine Freundin.
Das war die Situation, in der sich Augustinus zur radikalen Keuschheit entschloß.
Ich interpretiere: Als triebstarker und rastloser Mann blickte Augustinus mit ähnlichem Unbehagen in die Zukunft wie die beiden jungen Beamten in Trier aus der Geschichte des Ponticianus. Die berufliche Karriere Augustinus' war auf ihrem Höhepunkt: in Mailand befand sich zu dieser Zeit der kaiserliche Hof. Dann noch die Ehe, eine Villa vielleicht, für die Sommermonate, am Lago Maggiore.
Dagegen stand ein anderes Ideal, der Bios philosophikos, die philosophische Lebensweise, weitab vom Getriebe, nur dem Studium der Wahrheit hingegeben.
Eine Philosophenkolonie, auf einem Landgut.
Im Freundeskreis des Augustinus war dieses Projekt allen Ernstes diskutiert worden, inklusive Gütergemeinschaft. Zehn Herren wollten sich auf diese Weise zusammentun, alle aus gutem Hause, einige mit Vermögen.
«Nachher aber begann man zu überlegen, ob die Frauen, die einige von uns schon hatten, während wir anderen sie noch haben wollten, das Ganze zulassen würden, und da zerrann uns der schön ausgearbeitete Plan unter den Händen, er zerbrach und wurde verworfen.»
Einige Jahre später, als Augustinus bereits Bischof im nordafrikanischen Hippo Regius war, hat er die Idee einer Weisheitskommune verwirklicht, ohne Frauen, als klösterlicher Männerbund.
Meine These: Die klösterliche Abseitshaltung vorindustrieller intellektueller Eliten war eine abwehrende Reaktion auf die rigide Familienordnung, ein Protest gegen lebenslanges Gebundensein an Ehepartner und Kind, inklusive Geldwesen und gesicherter Existenz. Der Preis für die gesicherte Existenz war manchen zu hoch, sie wollten höher hinaus.
Geschlechtsekel, Frauenhaß: Das sind dann die Katalysatoren für neue chemische Verbindungen im libidinösen Haushalt.

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Aus dem Leben des Buddha († um 480 v.Chr.):
Als der Erhabene im siebten Jahr seiner Verheiratung lebte, begab er sich während einer schlaflosen Nacht in seinen Harem. Alle Frauen schliefen, und der Erhabene wandelte zwischen ihnen umher. Als nun der Erhabene so zwischen den Frauen umherwandelte und sie eingehend betrachtete, da war ihm auf einmal, als ging er unter lauter Leichen umher. Einer Frau rann Speichel aus dem geöffneten Mund, eine andere hatte der Schlaf wie in plötzlich geschehenem Tode zusammengekrümmt, eine dritte lag reglos und blaß auf dem Rücken, als sei sie für immer entschlummert. Ach, sprach da der Buddha, wie unbeständig und flüchtig ist doch die weibliche Schönheit, wenn schon der Schlaf sie so zu entstellen vermag! Und trat hinaus in die Nacht und entwich aus dem Palast seines Vaters, enthielt sich fortan der Frauen, wurde ein Mönch und gelangte zur wahren Erleuchtung.
Wie Augustinus - aber um 1000 Jahre früher - produziert der Buddha jene Ekelgefühle, deren Antriebskraft ihm den Start in eine ökonomisch und familiär unabhängige Existenz ermöglichen. Das Unbehagen des jungen Prinzen am Geltenden sucht sich einen faßbaren Gegner und findet ihn im Weibe.
In der Abwertung des Weibervolks gewinnt der konsequente Zölibatär sein seelisches und hormonelles Gleichgewicht, von Buddha bis Schopenhauer. Nicht einmal der verheiratete Sokrates kann ein Gegenbeispiel abgeben; seine Ehe mit Xanthippe hat nur als ironische Lebensweise einen Erinnerungswert.

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Die lange literarische Litanei der asketischen Mönche, Philosophen und Priester wird erstmals im Mittelalter unterbrochen, durch eine intelligente junge Frau. Sie hieß mit Vornamen Heloise und war die Nichte eines gewissen Fulbert, welcher als wohlhabender Kanonikus in Paris lebte. Onkel Fulbert hatte es übernommen, für die höhere Bildung der schönen Heloise zu sorgen. Die dritte Person des Dramas heißt Peter Abaelard, Kleriker und Theologieprofessor. 1113 hatte er in Paris eine Schule für Philosophie und Theologie eröffnet. Er war damals 34 Jahre alt. Fulbert nahm ihn zum Hauslehrer für Heloise.
Die junge Dame wurde schwanger, und Abaelard brachte sie - so jedenfalls hat er die Sache dargestellt - in seine Heimat in der Bretagne und bewog sie zu einer nicht-öffentlichen Heirat. (Eine offizielle Ehe hätte seine Karriere als Theologieprofessor beendet, wegen der kirchlichen Vorschriften.)
Über diese Schande war wiederum die Verwandtschaft der Heloise erbittert; Abaelard wurde eines Nachts überfallen und entmannt. Die Gewalttäter wurden bestraft, aber für Abaelard und Heloise blieb kein anderer Ausweg als ins Kloster zu gehen. Sie taten dies am selben Tag - er in Saint Denis, sie in Argenteuil.
Einige Briefe der Heloise an Abaelard sind erhalten geblieben. Obwohl im Kloster geschrieben, ist ihr Ton gefühlsklar und ungebrochen:
«Nichts habe ich je an Dir gesucht als Dich. Rein Dich und nicht das Deine habe ich begehrt, keinen Ehebund, keine Morgengabe erwartet. Und wenn der Name einer Gattin für heiliger und gesünder gilt -mir war immer das Wort Freundin lieber, sogar Bettschatz oder Dirne. Hätte mich Augustus auf seinem Weltenthron der Ehre seiner Ehe gewürdigt und mir die ganze Erde zum dauernden Besitz verschrieben - kostbarer schien es mir und würdiger, Dein Bettschatz zu heißen als seine Kaiserin.»
Heloise kritisiert mit erstaunlicher Treffsicherheit die Ökonomie der herkömmlichen Ehe, in der aus Liebespaaren Partner im Besitzstreben werden. Gleichzeitig liegt es ihr fern, deshalb die sinnliche Liebe zu denunzieren:
«Alle die Freuden der Liebenden, die wir gemeinsam erlebten, waren mir so süß, daß sie mir nicht häßlich vorkommen und dem Gedächtnis nicht entfallen wollen.»
Mitten in der feierlichen Messe, Heloise gesteht es in ihren Briefen, erinnert sie sich ans Liebeslager, und ihr Bedauern gilt weniger der Störung einer vorgeschriebenen Andacht als ihrer gekränkten Weiblichkeit. Sie hat klar gesagt, was sie für wünschenswert hielt: Eine außereheliche Liebesbeziehung ohne Soll und Haben, jenseits von Dein und Mein.
Sie dürfte mit diesem Wunsch nicht allein stehen.
Daß sie für ihn bestraft wurde, konnte sie nicht beirren. Sie hat aus der Not keine Tugend gemacht, und deshalb ist ihre Haltung lehrreich. Hätte sie sich brechen lassen und ihre Beziehung zu Abaelard als «Jugendsünde» bereut, dann wäre sie als fromme Büßerin vielleicht in den Heiligenkalender gekommen, als leuchtendes Vorbild fürs Opferbringen und freudige Verzichtleisten.
So aber hat sie noch in der Kutte Widerstand geleistet, und die Opfertheoretiker haben bei ihr das Nachsehen.
Über den Ausgang der Schwangerschaft Heloisens habe ich in den Quellen nichts finden können.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Einen kleinen Garten: Die Idee zu solchen Kleingarten-Anlagen stammt von Dr. Daniel Schreber († 1861), weshalb man auch von Schreber-Gärten spricht. Schreber-Gärten neigen nicht selten zur Naturmystik.

  2. Unter den Jägervölkern: Einen guten Überblick über die neuere einschlägige Forschung gibt Fromm, Destruktivität a.a.O.115-134.-Vgl. dazu Adolf E. Jensen, Mythos und Kult bei den Naturvölkern, Wiesbaden: 1960. Jensen beschäftigt sich eingehend mit verschiedenen Formen ritueller Tötung bei Pflanzervölkern und weist darauf hin, daß derlei bei den Jägern und Sammlern nicht zu finden ist. Nach Jensen stößt man erst in den archaischen Hochkulturen auf die Idee des Opfers, als einer «degenerierten Form» der pflanzerischen Tötungsrituale (a.a.O. 194-206)

  3. Noah: Genesis 8,20f.

  4. Liebe, nicht Opfer: Hosea 6,6.

  5. Ein unbekanntes Genie: Eine matenalreiche und detaillierte Studie über die Traditionsgeschichte des Opfergedankens im Christentum, von den Anfängen bis Thomas von Aquin, bietet Hans Kessler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesus, Düsseldorf: Patmos, 1970.

  6. Anselm von Canterbury: Kessler a. a. O.83-165.

  7. Erbarmen, nicht Opfer: Matthäus 9,13 und 12,7.

  8. Opferbringen und Geldwesen: Die Religion in Geschichte und Gegenwart Band 2, Spalte 970f.

  9. Mammon: Vgl. Lukas 16,9.11.13.

  10. Weiblicher Masochismus: Robert F. Bales, Personality and lnterpersonal Behavior, New York: Holt, Rinehart and Winston, 1970, Seite 286.

  11. Die dienende Rolle der Frau: John Kenneth Galbraith, Wirtschafi für Staat und Gesellschaft, München: Droemer, 1974, Seite 47-56.

  12. So beginnt Augustinus: Aurelius Augustinus, Dreizehn Bücher Bekenntnisse. Übertragen von Carl Johann Perl. Paderborn: Schöningh, 1964, Seite 190-204.

  13. Die große Szene: Bekenntnisse a. a. O.

  14. Nachher aber begann man zu überlegen: Bekenntnisse a. a. O.143.

  15. Als der Erhabene: Pierre Grimal (Hrsg.), Mythen der Völker Band 2. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei, 1967, Seite 144f.

  16. Heloise: Wolfram von den Steinen, Der Kosmos des Mittelalters, Bern:Francke, 1959, Seite 280-285.

  17. Einige Briefe sind erhalten geblieben: J. T. Muckle (Hrsg.), in: Mediaeval Studies 15 (1953) 17 (1955).

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