Dreizehnte Lektion

Das siebte, was die Anfänger verlernen müssen, ist die Angst vor Veränderungen


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Der amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow trat bei einer Befragung an rund 80 Einzelpersonen und 190 Studenten mit folgender Bitte heran:
«Ich möchte, daß Sie an die wunderbarste Erfahrung oder die wunderbarsten Erfahrungen Ihres Lebens denken; die glücklichsten Augenblicke, ekstatische Augenblicke, Augenblicke des Entzückens, vielleicht des Verliebtseins, eines Musikerlebnisses oder des plötzlichen «Getroffenseins» durch ein Buch oder ein Gemälde, irgendeinen großen kreativen Augenblick. Zuerst führen Sie diese an. Und dann versuchen Sie mir zu berichten, was Sie in solchen akuten Augenblicken fühlen, wie verschieden Sie im Verhältnis zu anderen Zeiten empfinden, wie Sie in diesem Augenblick in mancher Hinsicht ein verschiedener Mensch sind.»
Wie man sieht, war Prof. Maslow bei seinem Experiment hinter der Mystik her. Die Gefühle, um die es ihm ging, nannte er «peak expenences» - Gipfelerfahrungen, Spitzenerlebnisse.
Auch der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Balthasar Staehelin (geb. 1923) beschäftigt sich mit solch lebensbejahenden Augenblicksgefühlen. Eine Leserin seiner Bücher, etwa 40 Jahre alt, schrieb ihm einen Brief, in welchem sie ein mystisches Erlebnis mitteilt:
«Nun saß ich also hin - gerade, entspannte Haltung, ruhige Atemzüge, vollständige Stille; Meditation hatte ich schon zur Zeit meiner Studien des Buddhismus geübt. Aber auch das Trachten nach Nichtdenken und Nichtwollen war schon zuviel. Eines Tages, so aus Zufall, ohne etwas zu beabsichtigen, saß ich einfach hin, und da geschah das Wunder. In überwältigender Realität blühte ein neues Bewußtsein in mir auf, es ist unmöglich, dies genau zu beschreiben, aber eines läßt sich sagen: ich fühlte mich allen Menschen, der ganzen Schöpfung auf wunderbare Weise verbunden, empfand das Göttliche im ganzen als unzerstörbares Licht, als alles durchleuchtende Liebe. »
Ein Spitzenerlebnis im Sinne von Prof. Maslow.
Solche Erfahrungen, so behaupten Maslow und Staehelin übereinstimmend, können prinzipiell von jedermann gemacht werden, mit wohl tätiger Wirkung auf die seelische Gesundheit bzw. als Ausdruck derselben.
Von kompetenter Seite werden die Anfänger auf diese Weise ermutigt; Mystik ist nicht nur für gottselige Nonnen und buddhistische Mönche da, wissenschaftliche Gründe sprechen für eine weitverbreitete Begabung zu mystischen Spitzenerlebnissen. Maslow und Staehelin verbreiten einen Optimismus; was einstens nur den auserwählten Wenigen vorbehalten war, kommt unters Volk; die Mystik wird sozusagen sozialisiert.
Die Anfänger werden fragen: Aber wie?
Nun, zum Beispiel durch den Griff nach verbotenen Früchten, durch das Denken verpönter Gedanken, im Sinne Evas, der Mutter der Lebendigen.
So stelle ich mir die Antwort der Eva auf die (eingangs zitierte) Umfrage von Prof. Maslow vor.:
Ich heiße Eva und lebe mit meinem Mann in einer dürftigen Steppengegend, wo hauptsächlich Dornen und Disteln wachsen. Früher haben wir in einer Oase gelebt, und dort hatte ich die wunderbarste Erfahrung meines Lebens. Die Oase war weitläufig und bestens gepflegt. Datteln und Feigen und Bananen wuchsen auf den Bäumen, in einem klaren Wasser schwammen allerlei wohlschmeckende Fische, und in einem kleinen Wald spielte ich mit Adam Verstecken. Alle Tiere waren freundlich zu uns, wir verstanden ihre Sprache. Außer uns beiden gab es keine Menschen in diesem Paradies. Wie wir dorthin gekommen sind, weiß ich nicht. Der Besitzer der Oase war ein alter Mann, ein gewaltiger Zauberer. Wir bekamen ihn selten zu Gesicht, nur manchmal ging er im Paradies spazieren und erzählte uns dann Geschichten. Wir fürchteten und verehrten ihn, und obwohl er in menschlicher Gestalt erschien, zweifelten wir nicht an seinem überirdischen Wesen. Wir nannten ihn: Herr Gott.
Einmal, als wir keine Kinder mehr waren, zeigte Herr Gott uns einen Baum, den wir bis dahin nicht besonders beachtet hatten. Die Früchte, die auf ihm wuchsen, waren uns unbekannt. Herr Gott sagte:
Rührt nicht an die Früchte dieses Baumes und esset sie auf gar keinen Fall, damit ihr nicht sterbet!
Als wir Herrn Gott fragten, was das denn für ein gefährlicher Baum sei, antwortete er: Das ist der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Seit dieser Baum verboten war, übte er auf mich eine starke Anziehungskraft aus. Ich sprach darüber mit der Schlange, dem klügsten Tier in unserem Paradies, und sie ermutigte mich, die geheimnisvollen Früchte zu kosten. Eines Tages, als Herr Gott nicht da war, pflückte ich eine Frucht von dem verbotenen Baum und ließ auch Adam davon kosten. Während wir aßen, verwandelte sich für uns die Welt. Wir sahen einander mit anderen Augen und fühlten eine Lebensfreude in uns, die wir vorher nicht gekannt hatten. Es ist schwer, dieses Erlebnis genau zu beschreiben, aber sicherlich waren wir beide seitdem verändert.
Wir wurden von Herrn Gott aus dem schönen Paradies vertrieben, und bald bekam ich mein erstes Kind, den Kain. Ich bereue es nicht, nach der verbotenen Frucht gegriffen zu haben.

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So weit das Spitzenerlebnis der Eva. Ihre Neugier war stärker als ihre Angst vor dem Verbot, und das war gut so, denn sonst wäre die Erde menschenleer geblieben.
Auch Abraham hat seine Angst vor einer ungewissen Zukunft besiegt. Er verließ seine Verwandtschaft und seine Heimat und begab sich auf eine weite Reise in ein unbekanntes Land. Die Bibel erzählt, daß er dafür mit mehreren Spitzenerlebnissen belohnt wurde, mit Wahrträumen und Gotteserscheinungen.
Und erst Moses! Wie mißtrauisch und ängstlich er doch war, als ihm zum erstenmal seine Berufung klar wurde, beim brennenden Dornbusch! Trotzdem hat er den Exodus aus Ägypten für sein Volk bewerkstelligt, und zahlreiche Wunder werden aus seinem Leben erzählt.
Unermüdlich haben es die jüdischen Propheten gepredigt, bis zu Johannes dem Täufer und Jesus aus Nazareth, und viele von ihnen wurden deshalb ermordet: Ändert euch!
Haben die ersten Christen nicht wie die Verrückten auf die Posaunen des Jüngsten Tages gewartet, auf die völlige Verwandlung der Dinge?
Und als die Christenpriester satt und zufrieden geworden waren in ihren Pfarrhäusern, bei Weihrauch und Weihnachtsgans, da wurden sie gestört von denen, die weniger vergeßlich waren als sie und auch weniger satt. Manchmal brannte dann ein reiches Kloster, das war dann ein Spitzenerlebnis für die Rebellen - häufig ihr letztes.
Es ist zu beobachten, wie die Kinder und Kindeskinder der besiegten Rebellen in eine Sanftlebigkeit sich fügen, gezwungenermaßen, mit allerlei Innerlichkeit und Einkehr und Stillsitzen und Gottesbeschauung im Kämmerlein und Einssein mit dem All und Gewährenlassen und Seinsfrömmigkeit und Seelenkultur und Geistesfreundschaft und blauer Mystik, nicht roter.
Aus kriegerischen Taboriten wurden friedfertige Böhmisch-Mährische Brüder und Herrenhuter; aus wilden Wiedertäufern gedämpfte Mennoniten, die wanderten nach Amerika aus.
So kommt das Stillsitzen der von Prof. Staehelin zitierten Briefschreiberin (oben Nr. 57) nicht ganz von ungefähr. Dieses Stillsitzen hat seine triftigen historischen Gründe, in die sind wir verstrickt und wissen es gar nicht einmal mehr. Aus der Tiefe der Zeiten flüstert ein oftmals niedergeschlagener Veränderungswille, der ist den Juden und Albigensern und Böhmen ausgetrieben worden, mit dem Resultat des Stillsitzenmüssens und schließlich eben sogar Stillsitzenwollens.
Womit der Gedanke sich nahelegt, daß die verbreitete Angst vor dem Neuen und der Veränderung nicht der Menschennatur entspringt, sondern der bitteren brutalen Vorvätererfahrung, die ist älter als die Bibel und lautet: Da kann man nichts machen.
Hierbei handelt es sich um die Erfahrung der Besiegten. Besonders deutlich in Indien, wo die Kultur des mystischen Stillsitzens ebenso alt ist wie die Kastenordnung - und die kam nicht von selbst, sondern wurde den dortigen Menschen von fremden Eroberern aufgezwungen.
Jene Mystiken des Stillsitzens, an deren Ursprung eine (später verdrängte) Unterdrückung steht, möchte ich die blauen Mystiken nennen, in Anlehnung an die blaue Blume der Romantik. Ihr gemeinsames Merkmal: Seinsfrömmigkeit und Seinlassen. Ein Respekt vor dem Bestehenden wird von den blauen Mystiken transportiert, ja verewigt. Die (ohnehin seltenen) Verzückungen des Subjekts bewirken nichts in der Außenwelt, die heiligen Kühe bleiben ungeschlachtet.
Auf dem Markt der industriellen Seelenarzneien haben die blauen Mystiken eine Monopolstellung errungen, als Therapie gegen Daseinsangst und Frustrationsgefühle, Stress und Schlaflosigkeit, Kontaktarmut und Lebensüberdruß. Ein vielfältiges Eiapopeia, ein Raunen vom Daseinsgeheimnis vorm Einschlafen.
Wie gesagt (in der achten Lektion): Nichts gegen eine Prise Opium, solange der Patient über die Zusammensetzung des Medikamentes Bescheid weiß und seine Abhängigkeit von der Droge ironisieren darf. Solange die stimulierenden Mittel nicht unterschlagen werden, als wertvollerer Teil der Seelenarzneien.

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Einer seltsamen und geheimnisvollen Gilde ist hier zu gedenken, jener der Alchemisten. Es gab sie gut 1500 Jahre lang, bevor sie verschwunden ist, in der Neuzeit. Stets getarnt und äußerst verschwiegen, hat diese Bruderschaft allmählich ein feines internationales Beziehungsnetz über Länder und Zeiten gelegt, von Bagdad bis London, von Cordoba bis Prag, mit Juden, Muslimen und Christen als verschworenen Adepten. Nicht wegen der Goldkocherei wird ihrer hier Erwähnung getan. Sondern wegen der Röte in ihrer Mystik, will sagen ihrer Materiefreundlichkeit, der allemal lehrreichen und konsequent unterdrückten, ausgehend von der aufgehenden Sonne der nobelsten menschlichen Strebung, der nach Verwandlung.
Ums Jahr 1000, als der christliche Westen ein ungehobelt barbanscher Vorposten der (von Japan bis Gibraltar reichenden) zivilisierten Welt war, eine armselig bäuerliche Landschaft aus Lichtungen und verstreuten Siedlungen, hinterwäldlerisch im Vergleich zu Byzanz und Bagdad, ohne sonderlichen Handel und Wandel, da diskutierten im Morgenland die «Lauteren Brüder» mit dem gelehrten Arzt, Naturwissenschaftlicher und Philosophen Ibn Sina (= Avicenna) über das Wesen der Materie. Diese lauteren Brüder (oder «treuen Genossen»), ein Geheimbund oppositioneller Gebildeter aus dem Irak, verfaßten eine umfangreiche Sammlung wissenschaftlicher Traktate, eine Art Enzyklopädie. Für die Geschichte der modernen Naturwissenschaften ist dieses Werk eine der wichtigsten Quellen, nicht zuletzt wegen der darin überlieferten Chemie. (Arabisch: al kimija = Chemie.) Die Sprache der lauteren Brüder war eine esoterische (= nur den Eingeweihten verständlich), also kodierte, mit allerlei dunklen Anspielungen und Tarnungen versetzt. Solche Praxis der Verhüllung ihrer Lehren hatten die lauteren Brüder von oppositionellen Traditionen der griechisch-römischen Antike übernommen, den Pythagoreern, den Hermetikern, Gnostikern, Manichäern, Neuplatonikern. Tatsächlich lassen sich die Weisheiten der Alchemie bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert mit Sicherheit zurückverfolgen, in jene Epoche also, in der sich ein siegreiches Christentum über die buntscheckige Kultur des späten Hellenismus gelegt hat. Damals schlossen sich die aus ihren Tempeln vertriebenen ägyptischen Priester zu Geheimbünden zusammen und hüteten ihr altes Wissen, das offiziell verboten war und als heidnisch galt. Dieses Wissen führte allerlei technische Anweisung für den Umgang mit Metallen und Essenzen mit sich, begleitet von der Absicht der Entbindung des Feinstofflichen aus dem Groben.
In dem gnostischen Kauderwelsch der erhaltenen Schriften dieser Art, exemplarisch in denen des Zosimos († um 303) webt eine Mystik, die hat - aller Versponnenheit zum Trotz - eine Befreiung im Sinn, bleibt beweglich und quecksilbrig, blickt nach den Sternen, laboriert an der Versöhnung der gespaltenen Welt. Wenn manchen Alchemisten die Materie als böse galt, dann deshalb, weil sie ein Urlicht gefangen hält, und das soll heraus. Andere dachten vom Stoff weit höher, nicht klotzig oder atomistisch, sondern gärtnerisch. Milden Hitzen wurden die Grundsubstanzen ausgesetzt, mit Geduld und über Monate, im Sinn einer Art Herausdestillierung der latenten feinmateriellen Samen zu neuen Gebilden.
Wohl wahr: Mit dieser Art Behutsamkeit bei mäßigen Temperaturen, mit diesem Respekt vor den gewaltigen schlummernden Stoffkräften konnte nie an eine Zertrümmerung des Atoms gedacht, geschweige denn ein derartiger Gewaltakt in Angriff genommen werden. Zur modernen Atomphysik wäre die Alchemie niemals gelangt -was nicht unbedingt gegen sie spricht.
Die scheinbare Harmlosigkeit der alchemistischen Experimente steht im Kontrast zu der Tatsache, daß diese verschwiegenen chemischen Brüder über die Zeiten hinweg so konsequent vorsichtig blieben, ihr Kemwissen nur den lange Geprüften weitersagten, nach außen hin als fromme Muselmanen, Juden oder Christen lebten.
Zu erinnern ist hier an den Grundsatz (oben Nr. 9), daß das Vorhandensein von Geheimnissen ein sicheres Indiz für soziale Konflikte ist.
Einen Hinweis für die Gefährlichkeit der Alchemie für die Obrigkeiten des Mittelalters, Kalifen und Päpste, können wie den Beziehungen der «treuen Genossen» zu Avicenna entnehmen. Letzterer, von Päpsten und Kalifen gleichermaßen verdammt, lehrte die Ewigkeit der Materie und ließ aus ihr die Welt blühen, unverursacht von Gott. Der (philosophische, keineswegs konfessionelle) Gott des Avicenna ist als freundlich fördernde Instanz gedacht, die schickt Intelligenzen herab, über Planetengeister zum Mond, von wo die Vernunft demokratisch auf die Menschen verteilt wird, unterschiedslos. Das Aufblühen von unten findet in diesem System ein obrigkeitliches Entgegenkommen, Lichtsphäre und Materialität sind aufeinander angewiesen. Solches Denken war ein Affront gegen das feudalistisch hierarchische Wesen der Epoche, ohne Zweifel.
Ferner: Wenn die Vernunft gar allen Menschen gemeinsam ist, dann fällt die Absolutheit der konfessionellen (islamischen oder christlichen) Orthodoxie dahin; die menschliche Vernunft hat ihr Licht von Gott und nicht vom Papst oder Kalifen.
Solch kirchenfremde Gedanken gingen auch unter den alchemistischen und sufistischen Mystikern um, mit vorhandener Beziehung zu Albigensern und Freigeistern, bis hin zu Eckhart und den Linksfranziskanern im Hochmittelalter.
So haben die Alchemisten nicht nur mit Schwefel und Quecksilber experimentiert, sondern die obrigkeitlichen Orthodoxien heimlich relativiert, den öffentlichen Kult zwar mitvollzogen, aber in ihrem stillen Sinn als Verschleierung der Wahrheit verstanden, wenn nicht gar als Opium des Volks. Aufklärungsgedanken sind also auf diesem ost-westlichen Diwan gedacht worden, 600 oder 700 Jahre vor Lessing. Dessen Ringparabel (im «Nathan») läßt sich denn auch - übe Boccaccio - bis zum Hof des sarazenisch beeinflußten zweiten Friedrich von Hohenstaufen zurückverfolgen. An der von Friedrich gegründeten Universität in Neapel arbeiteten und lehrten christliche, jüdische und arabische Gelehrte einträchtig nebeneinander, unte ihnen Alchemisten, mit allerhöchster Protektion.
Solch obrigkeitliche Förderung für die Alchemie war jedoch sel ten, und erst das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen hat einige von jenen Ideen politisch verwirklicht, die im Mittelalter als gefährliche Schwarmgeisterei galten - die religiöse Toleranz und die Freiheit in Forschung und Lehre.
Andere alchemistische Gedankengespinste warten hingegen bis heute darauf, daß man mit ihnen öffentlich experimentiert, daß deren Mystik politisch wird, nämlich nützlich für alle, wie die in Akupunktur-Praxis umgesetzte Yang-Yin-Theorie.
Welche Gedankengespinste?
Um die Phantasie und den Widerspruch der Anfänger herauszufordern, darf die Antwort chiffnert gegeben werden:
Die Auferstehung des Fleisches - hüben und nicht drüben; die Transsubstantiation - als gesellschaftlich besiegter Tod. Oder, in Anlehnung an den Herzenswunsch meiner Mutter: Der Haupttreffer für jedermann.
An der Frage, ob der Haupttreffer für jedermann möglich ist (irgendwann, irgendwo, aber hienieden), scheiden sich die Geister. Die Anhänger der blauen Mystik werden sagen: Nein. Und sie werden hinzufügen: Und außerdem ist das Geistige wichtiger als ein Haupttreffer.
Die Anhänger der roten Mystik werden sagen: Ja. Und sie werden hinzufügen: Was könnte man unternehmen, daß alle Menschen ihren Haupttreffer bekommen?
Daß ich der roten Mystik zuneige, wird angesichts der marktbeherrschenden Stellung der blauen Mystik nicht überraschen.

Hier ist ein Zitat aus meinem Buch «Jesus in schlechter Gesellschaft» (das Schlußkapitel):
So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Diese Formulierungen, das darf nunmehr gesagt werden, beschreiben angemessen den Impuls, aus dem heraus unser Buch geschrieben wurde. Es will eine Übung im Möglichkeitsdenken sein, ohne Realitätsverlust, und Jesus ist der Mensch, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte.
Das folgende Zitat ist aus meinem Buch «Tod und Teufel» (das Schlußkapitel):
Zwischen Wandlung und Kommunion fallen meine Augen einige Male auf die verwandelte Hostie. Meine Augen neigen dazu, keinerlei Veränderung wahrzunehmen. Sie sind für die Wahrnehmung der Wandlung denkbar ungeeignet. Gleichwohl geschieht es dann und wann, daß für Augenblicke ich mir vorkomme, als ob ich mit den Augen in die Hostie eindringen, in sie einsinken würde, zusammen mit dem Gefühl, mich in einer Wölbung zu befinden. Diese Empfindungen habe ich wirklich. Ich möchte sie ungern unterdrücken. Ich vermag sie andere Menschen, auch befreundete, nicht zu lehren. Sie ist mir wichtiger als die Wahrnehmung zweier Menschen auf dem Mond auf dem Bildschirm eines Fernsehgerätes. Für mich ist die Wandlung wirklicher als die Mondlandung.
Wandlungsempfinden und Möglichkeitsdenken drücken die Bewegung in meiner Mystik aus, als Jetztschon und Nochnicht. Beide stehen, aufgrund meines Lebenslaufs und der für mich maßgebenden Kultur, in einem Zusammenhang mit der Jesusgestalt - nicht der kirchenoffiziellen, sondern der ketzerischen roten wärmegebenden.
Angesichts der fröhlichen Gottlosigkeit halte ich es für unangemessen, meine Hostienempfindungen und Heilandsgefühle den Anfängern zur Vorschrift zu machen. Ich vermag lediglich mitzuteilen, was ich aus diesen Gefühlen gelernt habe, welche Arbeit sie in mir getan und wie sie sich mit mir verändert haben. Ferner kann ich versuchen, meine eigenen Verwicklungen in (antike und mittelalterliche) Vergangenheiten zu verfolgen und die Frage zu stellen: Was soll vergessen bleiben und was nicht.
Der alchemistische Jesus bringt uns in die Neuzeit. Er setzt den Hostienjesus (die Transubstantiation) und den Auferstehungsheiland voraus und läßt mit sich experimentieren, als lebendige Blüte der Materie. Hinter den rosenkreuzerischen Ausschmückungen der späten westlichen Alchemie (vor ihrem Erlöschen) werden Absichten merklich, die der junge Marx - beispielsweise - treffsicher aufgenommen hat, Böhme zitierend:
«Unter den der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie.»
Die Tendenz dieses Materialismus hat mit dem heute geläufigen, west-östlich auf den Hund gekommenen wenig gemein. Weshalb es berechtigt ist, älteren Tendenzen der Materie-Mystik nachzuforschen als den neuzeitlich zum Zuge gelangten ausbeuterischen, nach Mineralöl stinkenden.
Christliche Spuren einer materialistischen Frömmigkeit sind, als Einsprengsel sozusagen, im Heilandsglauben anzutreffen. Ein gewisser Johannes von Damaskus beispielsweise, zwischen 650 und 750 als christlicher Theologe unterm Islam lebend, hat die Gottesgegenwart in der Christusgestalt schon recht prinzipiell verstanden, als Einwohnung Gottes in der Materie, mit dem Christus als reeller Ikone des ewigen Vaters: «Ich beuge mich nicht vor der Materie, sondern ich beuge mich vor dem Schöpfer der Welt, der um meinetwillen Materie wurde und geruht hat in der Materie zu wohnen, und durch die Materie mir Erlösung gebracht hat. Ich werde nicht aufhören, die Materie zu verehren.»
Das war orthodox gemeint und gegen die Zertrümmerung der Christus-Ikonen geschrieben, welch letztere nur dem Hostienheiland die göttliche Materialität zuerkannten, nicht aber den gemalten Bildern.
Immerhin war, bei den orientalischen Freunden und Feinden der Christus-Ikonen, von göttlicher Materie ganz allgemein und geradezu selbstverständlich die Rede - ein Unding für die okzidentale Orthodoxie bis heute. Weshalb die Andacht vor der Materie sich nur im Untergrund der westlichen Christgläubigkeit fortgepflanzt hat, vornehmlich bei den Alchemisten.
Tendenziell fromm-materialistisch sind, neben der grundlegenden Menschwerdungsidee, im Heilandsglauben zwei Inhalte: Die Hostienandacht und die Sprengung des Grabes am Ostermorgen.
Beide Inhalte transportieren - als gottesdienstliche Mysterien - die Wandelbarkeit der Materie, nicht-dualistisch (oben Nr. 6), widersprüchlich bewegt: Brot bleibt Brot und ist (wird) doch der Gott. Der Auferstehungsleib bleibt menschlich, in und gegen seine verklärende Transformierung.
Was nun den alchemistischen Jesus anlangt, so führt er die Bewegungsrichtung von unten durch, in der Karsamstagdämmerung des versiegelten Grabes. Dort arbeitet der göttliche Stoff, nicht mehr Leiche und noch nicht Phönix, an seiner Verwandlung. Nicht von oben her samenhaft einschießend wird dieser Prozeß gedacht, sondern aus sich heraus seine Transsubstantiierung betreibend.
Der Alchemist, als Laie mit keinerlei priesterlichen Zauberkräften begabt, ist vor der Versuchung der Sakramentenverwalter gefeit: den Prozeß mit seinem Ergebnis zu verwechseln und Gnadengewißheit als trügerische Leibhaftigkeit des Heils zu verkaufen, als Taufe und Abendmahl. Der Statur nach ein Experimentierer, hält der Alchemist die Spannung zwischen Nochnicht und Halleluja aus, es gibt für ihn keine letzten Wahrheiten, das Offenbarwerden der gottbegabten Stoffkräfte ist unabgeschlossen, also offen nach vorn, im Widerspruch zum zweiten Satz der Thermodynamik befindlich, demzufolge der allgemeine Wärmetod bläulich bevorsteht, als letztes Ziel des Umgangs der Materie mit sich selbst.
Ins Soziale übersetzt, hat der alchemistische Jesus seine maskulinen Eigenschaften abgelegt und befindet sich damit in Opposition zum aggressiv männlichen Zivilisationsbetrieb der Epoche. Ferner arbeitet er von unten her am Wandlungsprozeß, nicht gesetzgeberisch obrigkeitlich, vielmehr seufzend und unter Tränen, mit mancherlei mißlungenen Experimenten und gelegentlich explodierenden Versuchsgefäßen.
Dieser Gottesleib nimmt, in seinem höchsten Wunschwesen, als verwandeltes Brot und als grabsprengender Todüberwinder, nie von seiner Leibhaftigkeit Abschied, setzt somit ein Kontra gegen die Spirituskocherei der hauptberuflichen Vergeistiger. Im alchemistischen Jesus lebt eine gute Urwüchsigkeit jenes Volksglaubens fort, der niemals auf den Wunsch nach Reichtum und gutem Leben verzichten hat mögen, auf sinnliche Bedürfnisbefriedigung als Bitte an die Götter, seit altersher. Nicht Verzückungen spiritueller (und blauer) Art, um ein Beispiel zu geben, hat Moses seinen Leuten versprochen, sondern ein Land, das von Milch und Honig fließt.
Der Wunsch nach dem Haupttreffer ist religionsgeschichtlich bestens belegt, und der alchemistische Jesus hat volles Verständnis für ihn.

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Meine wöchentlichen Besuche bei meiner Mutter verliefen nach einem einfachen Ritual. Ich besuchte sie am Sonntagabend. Zuerst kam das gemeinsame Essen. Dann las ich Zeitung und Kriminalromane, während meine Mutter Patiencen legte. Manchmal, wenn unser Gespräch sich der Vergangenheit zuwandte, kramte meine Mutter Fotografien und Briefe hervor, und wir erinnerten uns gemeinsam an alte Zeiten. Auf diese Weise kam die Rede auch einmal auf die von mir vernichteten Wahrsagekarten, und ich nahm mir vor, ein neues Paket zu kaufen.
Mit diesen Karten haben wir dann einen unterhaltsamen Abend verbracht. Meine Mutter versuchte sich noch einmal in der Kunst des Wahrsagens, in eher spielerischer Weise, unter Berücksichtigung meiner (ebenfalls anwesenden) Herzensdame.
Die Dame trägt in den Wahrsagekarten die Nummer 29, der Herr die Nummer 28. Diese beiden Karten sind die wichtigsten.
Die erwähnten Wahrsagekarten befinden sich noch in meinem Besitz. Sie stammen aus der Wiener Spielkartenfabrik Ferdinand Piatnik & Söhne, Produktionsnummer 69, zu 36 Blatt. Der beiliegenden Erklärung ist zu entnehmen, daß das Wahrsagespiel eine genaue Kopie jener Karten darstellt, mit Hilfe derer die berühmte Wahrsagerin Mlle. Lenormand dem Kaiser Napoleon I. seine zukünftige Größe voraussagte.
Jedes Kartenblatt trägt ein Bild und eine Nummer.
Zum Beispiel:
Nr.3: Schiff. (Reichtum durch Erbschaft oder Handel. Ist diese Karte Dir nahe, so machst Du eine weite Reise.)
Nr.7: Schlange. (Bringt Verrat oder Verlust.)
Nr.13: Kind. (Bezeichnet guten Umgang und zarte Güte.)
Nr.14: Fuchs. (In der Nähe warnt er vor listigen Personen und Neidern; in der Ferne hat diese Karte keine Deutung.)
Nr.24: Herz. (Ein Beweis des Glückes und der Freude.)
Und so weiter.
Die Karten werden von links nach rechts aufgelegt, in vier Achterreihen untereinander. Die restlichen vier Karten legt man als fünfte Reihe, indem man unter der dritten Karte der vierten Reihe beginnt. Ist die Person, welcher wahrgesagt wird, männlichen Geschlechts, dann dient die Nummer 28 als Bezugskarte, bei weiblichen Personen die Nummer 29. Am wichtigsten sind jene Karten, die der Bezugskarte am nächsten liegen.
Ein Beispiel für ein dauerndes Glück zweier Liebender:
Nr.28 und Nr.29 liegen nebeneinander, umgeben von Nr.4 (Haus), Nr.9 (Blumenstrauß), Nr.16 (Stern), Nr.18 (Hund), Nr.20 (Garten), Nr.35 (Anker).
Ein Beispiel für einen plötzlichen Verlust:
Sarg (Nr.8) in der Nähe des Herrn; Brief (Nr.27) und Wolken (Nr. 6) bei der Dame.
Ein Beispiel für eine Ortsveränderung:
Die Bezugskarte ist umgeben von Nr.17 (Storch: Lokalveränderung), Nr.3 (Schiff: weite Reise), Nr.26 (Buch: Geheimnis), Nr.22 (Wege: Auswege aus mißlichen Lagen). Und so weiter.
Es ist auffällig, daß es kaum eine Karte in dem Wahrsagespiel gibt, die eine dauernde Feststellung im Glück anzeigt. (Allenfalls der Stern und der Baum, letzterer in entfernter Position, sowie der Berg, ebenfalls in entfernter Position, können als solche Indikatoren aufgefaßt werden.) Die überwiegende Mehrzahl der Karten zeigt Veränderungen an, günstige bzw. ungünstige. Reine Glückskarten bzw. Unglückskarten sind selten und halten einander das Gleichgewicht (fünf zu fünf Karten). Alle übrigen Karten sind zweideutig, je nach ihrer Position können sie Glück oder Unglück anzeigen. Die Grundkategone der Wahrsagekarten ist demnach die der Veränderung.
Es ist dies auch die Grundkategorie der materialistischen Denker, von Avicenna bis Marx.
Meine Mutter war im Grunde ihres Wesens ein ängstlicher Mensch, und von Veränderungen erwartete sie sich eher Ungünstiges als Günstiges. Als ich sie einmal nach kindlichen Schreckenserlebnissenfragte, konnte sie sich nur an den Keller erinnern, in den sie zur Strafe manchmal gesperrt wurde, von ihrer Mutter. (Die Mutter meiner Mutter hieß mit Vornamen Anna und stammte aus Dalmatien.)
Die Grundlage für die fundamentale Ängstlichkeit meiner Mutter in bezug auf die Zukunft lag jedoch nicht in ihrer Kindheit, denn die war heiter, behütet und sorglos. (Der Vater meiner Mutter hatte einen gutgehenden Kleingewerbebetrieb, er fertigte Jabusien an.)
Die Besorgtheit meiner Mutter hatte ihre Wurzeln vielmehr in der langen Erfahrung unsicherer wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es war dies der Zeitraum, in dem meine Mutter die kräftigsten und bewegtesten Jahre ihres Lebens verbrachte, und gute Nachrichten standen damals nur selten in der Zeitung. Die Arbeitsplätze waren meist knapp, und ebenso verhielt es sich mit dem Geld, jedenfalls für meine Mutter.
Die ständig wiederkehrende Frage meiner Mutter an mich, auch während meiner fetten Jahre, lautete: Hast du finanzielle Sorgen?
Eine gut materialistische Frage.
Die Konflikte mit der Obrigkeit, in die ich während der letzten zehn Jahre vor dem Tod meiner Mutter geriet, verfolgte sie mit Angst und Sorge. Besonders die gelegentlichen Knalleffekte in diesem Streit (Fernsehauftritte, Zeitungsmeldungen usw.) machten ihr Kummer, und sie bat mich, doch endlich Ruhe zu geben. Mehrmals sagte sie zu mir: Beim nächstenmal wird mich bestimmt der Schlag treffen.
Meine Mutter hatte ein krankes Herz.
Gleichzeitig hat sie ihren zunehmenden Unwillen über die «Schwarzen» nicht verleugnen mögen. (In Österreich heißen die konservativ klerikalen Kreise «die Schwarzen».) Als die Sozialdemokraten («die Roten») nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Zeitungsbetrieb übernahmen, in dem meine Mutter gearbeitet hatte, wurde sie entlassen. Für die Roten galt meine Mutter als Schwarze, weil sie durch die Vermittlung der Schwarzen (im Jahr 1934) angestellt worden war. Für die Roten war meine Mutter deshalb eine «Austrofaschistin».
Diese Kränkung durch die Roten hat meine Mutter nicht daran gehindert, ihre beruflichen, politischen und kirchlichen Erfahrungen (letztere durch mich) mit den Schwarzen kritisch zu verarbeiten. Ihre Beurteilung der Schwarzen wurde zunehmend aggressiver, sie sprach gelegentlich von der «schwarzen Brut».
Die allmählichen Veränderungen meiner grundlegenden Einstellungen (zu den Frauen, zur Politik, zum kirchlichen Dogma) haben meine Mutter weitaus weniger beunruhigt als die von ihr befürchteten unangenehmen ökonomischen Konsequenzen aus meinem konflikthaltigen Anderswerden. Sie hat jedenfalls nie zu mir gesagt:
Bleib, wie du bist.
Diesen Rat erhielt ich von meinem Beichtvater, im Jahr 1954, zwei Monate vor meiner Priesterweihe, in brieflicher Form.
Hier ein Auszug:
«Was ich eigentlich am Sonntag wollte? Vielleicht wirst Du Dich etwas wundern. Ich wollte mit Dir ins Zimmer gehen und dort mich vor Dich niederknien und Dich mit aufgehobenen Händen bitten nein, nicht bitten, beschwören, nein auch nicht, bestürmen, oder darf ich es sagen, wie ich es spüre, hinausschreien: Adolf, bleib, wie Du bist! Bleib doch so, immer, bis an Dein Lebensende, bis Du so, so, wie Du bist, vor den ewigen Richter hintreten darfst!!! O, wenn Du wüßtest, wie mir das aus tiefstem Herzen kommt! Wie bange mir oft um Dich ist!»
Der Anlaß dieses Briefes war eine Äußerung von mir, meine Einsamkeitsgefühle betreffend. Die Antwort des Beichtvaters, mündlich und schriftlich: «Bleib lieber allein! Solange Du allein bist, gibt es ein geistliches Leben. Dann nicht mehr.»
Das Bleib-wie-du-bist des Beichtvaters bezog sich aufs Alleinbleiben meinerseits. Seine Bangigkeit um mich, seine Angst, daß ich mich ändern könnte, hatte eine mögliche Gefährtin im Auge, als Ausschließungsgrund fürs geistliche Leben, mithin für die Mystik.
Daß nur der Einsame zur Erleuchtung gelangt, ist ein Kernsatz der blauen Mystik, mit dem Philosophen Plotin († 270 n. Chr.) als klassisch antikem Ahnherrn, inklusive fernöstlichen Einflüssen. Die Gedankengänge des Plotin sind nicht-materialistisch. Obwohl selber kein Christ, hat er den christlichen Neuplatonismus nachhaltig geprägt, und der wiederum lief, über Augustinus (siehe oben Nr. 35) und Dionysios den Areopagiten (um 500) in die mittelalterliche rechte Mystik, zu Hugo († 1141) und Richard († 1173) von St. Victor nach Paris, von wo er dann schließlich zu mir gelangt ist, sozusagen unverfälscht und in knappster Form: Bleib lieber allein.

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Die Angst der blauen Mystik vor der Veränderung durch sinnliches Liebesglück entspricht genau ihrer idealistischen Haltung, ihrer Bevorzugung des «Geistigen». Sie entspricht ihrer politischen Stillheit ebenso genau. Die mystisch Vereinzelten sollen sich nicht assoziieren zum Zweck der Veränderung der Verhältnisse.
Es ergibt sich der Merksatz:
Die blaue Mystik wirkt dissoziativ.

Daß meine Mutter vorm Tod keine Furcht hatte, wirkt auf mich noch heute erstaunlich, bei ihrer sonstigen Ängstlichkeit. Gelegentlich äußerte sie den Wunsch nach einem raschen, schmerzlosen Ende. Dieser Wunsch ging in Erfüllung.
Der Tod fällt, nicht nur im System der Wahrsagekarten, in die Kategorie der unangenehmen Veränderungen. Dennoch hat er meine Mutter nicht sonderlich beunruhigt, sie hat über dieses Thema in sachlichem Ton gesprochen, und nur der Gedanke ans Abschiednehmenmüssen von mir hat sie traurig gestimmt.
Meine Mutter hat den Tod als Verwandlung betrachtet, ohne sich freilich von den damit verbundenen Wunschinhalten (Himmel, ewiges Leben, Wiedersehen im Jenseits usw.) sonderlich beeinflussen zu lassen.
An ihrem Todestag wurde sie, wegen eines plötzlich aufgetretenen Lungenödems, rasch ins Spital gebracht. Ich traf sie dort bei vollem Bewußtsein, mit der Klammer des Sauerstoffgeräts an den Nasenflügeln. Es wurde nicht viel gesprochen. Sie meinte, daß es nun mit ihr zu Ende gehe, und bedankte sich bei mir «für alles». Als ich von ihrem Bett zurücktrat und sie von den Krankenschwestern ein wenig höher gebettet wurde, veränderte sich ihr Zustand ganz unerwartet, und es wurde ein Herzalarm gegeben. Ich mußte den Krankensaal verlassen. Als ich, nach nicht einmal zehn Minuten, wiederum hineindurfte, war alles vorüber.
Aus dem Nachlaß meiner Mutter nahm ich, neben anderen Andenken, einen kleinen Blumentopf mit Parmaveilchen zu mir. Die Veilchen begannen nach zwei oder drei Monaten zu blühen, und ich gieße sie täglich.
Die Farbe der Veilchen ist rotlila.



Anmerkungen zu diesem Kapitel

  1. Mit folgender Bitte: Maslow, Psychologie des Seins, S.83. (Die deutsche Übersetzung gibt «peak-experience» mit «Grenzerfahrung» wieder.)

  2. Nun saß ich also hin: Balthasar Staehelin, Urvertrauen und zweite Wirklichkeit, Zürich: Editio Academica, 1973, Seite 117f.

  3. Ändert euch: Vgl. beispielsweise Matthäus 3,2. Die übliche Übersetzung («kehret um», «bekehret euch») gibt die Bedeutung des (griechischen) Originals nur ungenau wieder; sinngemäß müßte es heißen: Ändert euren Sinn, denkt um. (Die am meisten verbreitete lateinische Übersetzung, die sog. «Vulgata» des Hieronymus, übersetzt die Stelle mit «paenitentiam agite», was so viel wie «tut Buße» bedeutet; in der englischen King-James-Version heißt es dementsprechend «repent ye», womit die moralisierende Tendenz, mit Sündenbewußtsein und Reue, voll ausgebildet ist. Vgl. auch Walter Jens, Am Anfang der Stall, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1972, Seite 11: «Ändert euch! Tut Buße!» - Der Kompromiß, den Jens mit dieser Übersetzung macht, ist offenkundig. Eine pointierte Übersetzung mit gegenläufiger Tendenz könnte etwa lauten: Laßt euch endlich etwas Neues einfallen.)

  4. Böhmisch-Mährische Brüder: Cohn, Tausendjähriges Reich 210.

  5. Ein vielfältiges Eiapopeia: Der gegenwärtige Boom fernöstlicher Versenkungsübungen (vgl. meinen Beitrag in der «Weltwoche» vom 14.4 1976) ist tendenziell asozial (= ungesellig) und apolitisch. Die sozialpathologischen Tatsachen (als Zunahme psychosomatischer Symptome in den Industrieländern längst registriert), denen sich der Meditationsboom strukturell verdankt, wurden während der letzten Jahre in ihren kollektiven Wirkungen durch die Krisenerscheinungen der Weltwirt schaft verstärkt und aktualisiert. In den USA, wo der Innerlichkeitstrend am deutlichsten ist, wird Vietnam und Watergate zusätzlich in Rechnung gestellt werden müssen. Das folgende Beispiel einer Tranceübung ist wegen seiner geschickten Verbindung von autogenem Training mit tiefenpsychologischen Techniken und fernöstlichem Gedankengut ausgewählt worden (Robert Masters-Jean Houston, Mind Games, New York Viking Press, 1972, Seite 8-11):
    «Eine kleine Gruppe befreundeter Menschen setzt sich in einem ruhige Zimmer zusammen (kein Telefon!) und lauscht in möglichst entspannter Haltung den folgenden Anweisungen: <Macht es euch jetzt so bequem wie möglich, entspannt euch so gut ihr könnt und hört mir genau zu, damit ihr euch noch besser entspannen könnt. Entspannt euren Körper nach und nach. Beginnt mit den Zehen. Laßt eure Zehen ganz locker und entspannt werden. Dann den Rest der Füße und die Knöchel. Fühlt, wie die Knöchel ganz locker und entspannt werden. Fühlt, wie die Entspannung von unten herauf euren ganzen Körper ergreift, die Waden, die Knie, herauf zu den Schenkeln. Wie der ganze Körper ganz, ganz locker wird, von unten herauf, nach und nach. Jetzt wird der Unterleib locker, entspannt sich, entspannt sich, dann Bauch und Magen, herauf zur Brust, alles wird locker und gelöst. Die Finger, die Unterarme, die Ellbogen die Oberarme. Jetzt die Schultern. Wie sie sich entspannen, wie alle Belastung aus ihnen weicht. Auch im Nacken haben wir nun das Gefühl der Lockerung, in den Kinnbacken, den Lippen, den Wangen, hinauf den Augen und zur Stirn und über den ganzen Kopf. Für eine kleine Weile wollen wir nun die Augen schließen und langsam aus- und einatmen, ganz entspannt. Denkt jetzt nur ans Atmen. Einatmen, Ausatme ein und aus, ein und aus... Hört mir genau zu, denn ich werde euch jetzt etwas Wichtiges und Wertvolles mitteilen. Erinnert euch jetzt ohne Vorbehalt und möglichst lebendig an einen Traum, den ihr als Kind oftmals geträumt habt. Vielleicht habt ihr ihn vergessen, aber je erinnert ihr euch an ihn, während ich euch die Einzelheiten dieses Traums ins Gedächtnis rufe. In der Nacht, als ihr noch kleine Kind wart, hattet ihr immer wieder denselben Traum, und ihre wußtet nicht einmal, ob es sich um einen Traum handelte. Immer wieder, wie im Traum, seid ihr aus dem Bett gestiegen und durch das Zimmer zum Kasten gegangen und habt im Kasten, in der hinteren Wand des Kastens eine Tür gefunden. Niemals habt ihr diese Tür finden können, während ihr wach wart, obwohl ihr öfter nach ihr gesucht habt. Aber jetzt öff net sie sich für euch wie im Traum, ihr geht durch sie hindurch und befindet euch jetzt vor einer Wendeltreppe. Sehr alt sieht sie aus, diese Wendeltreppe, sie ist aus Stein, und in dem schwachen Licht beginnt ihr sie jetzt hinunterzusteigen, gar nicht ängstlich, Schritt für Schritt, begierig hinunter zu kommen, Stufe um Stufe, immer tiefer, bis ihr schließlich unten angelangt seid, am Wasser, am dunklen Wasser, und da ist auch schon das Boot. Und jetzt liegt ihr ausgestreckt im Boot, laßt euch treiben und treiben, langsam schaukelt das Boot, treibt abwärts in der Stille und Dunkelheit. Hört das Plätschern des Wassers, während das Boot sich einer Öff nung nähert und langsam durch sie hindurch ins Freie schaukelt, ins warme Sonnenlicht. Fühlt den sanften Wind, der über das Boot streicht, hört das Zwitschern der Vögel an den Ufern des Flusses, riecht den Duft frisch gemähter Wiesen . . . Bis euer Boot sich dem Ufer nähert und leise knirschend auf eine flache Sandbank läuft. Ihr steigt jetzt aus und geht über eine blühende Wiese und setzt euch nieder, lehnt euch an den Stamm des großen schattigen Baumes, unter dem ihr euch niedergelassen habt, fühlt die Harmonie, in der sich diese Welt befindet, ohne Zeitgefühl, eine Welt in der es keine Trennung mehr gibt, in der ihr eins seid mit allem, was ist.» (Meine Übersetzung, mit leichten Kürzungen.)

  6. Alchemisten: Vgl. zum folgenden Gerhard Wehr, Esoterisches Christentum, Stuttgart: Klett, 1975, Seite 192-208. - Walter Böhm, Die Naturwissenschaftler und ihre Philosophie - Geistesgeschichte der Chemie. Wien: Herder, 1961, Seite 9l-116.
  7. Die Gefährlichkeit der Alchemie: Über die Beziehung Avicennas zu den «treuen Genossen» und die morgenländische kirchenfremde Mystik vgl. Ernst Bloch, Das Materialismusproblem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972, Seite 48-89.

  8. Ringparabel: Bloch ebd. 487. - Zu den Alchemisten an der Universität in Neapel vgl. Herbert Nette, Friedrich II. von Hohenstaufen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975, Seite 6Sf.

  9. Adolf Holl, Jesus in schlechter Gesellschaft, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1971, Seite 190.

  10. Adolf Holl, Tod und Teufel, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973, Seite 247

  11. Der junge Marx: Friedrich Engels - Karl Marx, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik, Berlin: Dietz, 1971, Seite 135.

  12. Einwohnung Gottes in der Materie: Das Zitat findet sich in: Russische Ikonen, Sonderausgabe der Zeitschrift «Das Kunstwerk». Baden-Baden: Woldemar Klein Verlag, 1951, Seite 16. (Johannes von Damaskus befand sich - im sog. Bilderstreit - auf seiten der Befürworter der Ikonen. Die Bildergegner vertraten hingegen die Auffassung, nur die Eucharistie dürfe als Christus-Ikone aufgefaßt werden, und nur in dieser Form zieme der Materie göttliche Verehrung- a.a.O. S. 21.)

  13. Im Widerspruch zum zweiten Satz der Thermodynamik: Über den Zusammenhang zwischen bürgerlicher Krise und theoretischer Physik vgl. Bloch, Materialismusproblem, S.338-342. - Unter «Wärmetod» versteht man jenen Zustand der Welt, in dem die Energie gleichförmig auf alle Materie verteilt ist und sich ein vollständiges thermodynamisches Gleichgewicht eingestellt hat - vgl. Eigen-Winkler, Das Spiel, S.388, 162-181.

  14. Urwüchsigkeit des Volksglaubens: Vgl. Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weitreligionen, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Band 1. Tübingen: J. C. B. Mohr, 1963, Seite 544: «Alle urwüchsige, sei es magische oder mystagogische Beeinflussung der Geister und Götter im Interesse von Einzelinteressen erstrebte, neben langem Leben, Gesundheit, Ehre, Nachfahren und, eventuell, Besserung des Jenseitsschicksals, den Reichtum als selbstverständliches Ziel, die eleusinischen Mysterien ebenso wie die phönikische und vedische Religion, die chinesische Volksreligion, das alte Judentum, der alte Islam und die Verheißungen für die frommen hinduistischen und buddhistischen Laien.»
    (Der - wichtige - Hinweis Webers, daß erst die sublimierte Erlösungsreligion in ein zunehmendes Spannungsverhältuis zum rationalen Wirtschaften und damit zum Reichtum geriet, kann hier nicht näher verfolgt werden.)

  15. Kategorie der Veränderung: Vgl. Dorothee Sölle, Die Hinreise, Stuttgart, Kreuz Verlag, 1975, Seite 112: «Wieviel <Weg nach innen> brauchen wir, um wirkliche Veränderung herzustellen?»

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