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Die Gnade eines wilden Stroms
___________________________ Henry Roth

Ein alter Mann spricht mit seinem Computer und erzählt ihm Geschichten - Lebensgeschichten. Das ist für sich genommen noch nichts besonderes. Aber wenn der alte Mann Henry Roth heißt, dann sind die Geschichten seines alter ego Ira Stigman etwas vom Feinsten, das die amerikanische Literatur derzeit zu bieten hat.

Zusammen mit dem kleinen Ira, Kind jüdischer Einwanderer, erleben wir New York - Harlem - vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis ungefähr 1920. Ira ist ein schüchterner Junge, der "es haßt, Jude zu sein", gefangen in dieser Identität, der sich verbissen und mit wütendem Eifer aus seinem jüdischen Umfeld - der Welt des osteuropäischen Schtetls - herausarbeitet und sich seiner Herkunft entledigt, um ein freier selbstbewußter Amerikaner zu werden. Denn nur so kann er in der feindlichen christlichen Umgebung überleben. Daß ihn seine verleugnete Herkunft immer wieder einholt, versteht sich von selbst und hat auch etwas damit zu tun, daß Henry Roth diesen Roman - seinen zweiten - nach fast sechzig Jahren Schweigen veröffentlicht hat. Der erste Roman heißt "Call it Sleep" (1934) und gilt als eines der Meisterwerke des jüdisch-amerikanischen Romans.

Es sind die hoffnungslosen Versuche von Iras Vater Chaim -genannt Pop- mit ständig wechselnden Jobs zu etwas Geld zu kommen, ein macher zu werden, die das Leben der Familie Stigman bestimmen;Hoffnungslos, weil zum Scheitern verurteilt, denn Pop hält es nirgendwo lange aus. Wohlstand ist für ihn eine Frage des Glücks - masel - und nicht der eigenen Arbeit. "Das gescheft ging in Konkurs. Oder richtiger: Pop konnte es mit verzweifelter Mauschelei jemand anderem aufs Auge drücken." Der sprunghafte und in seinem Scheitern gewalttätige Pop prügelt Ira und tyrannisiert seine Frau, so daß Ira - nach Pops Abreise zu einem neuen aussichtlosen Projekt in St. Louis - eine Atempause hat und die "Freude einer neuen Freiheit". Eine Freiheit, die Ira nutzt, um seine Umgebung zu erkunden, im Mt. Morris Park herumzustreifen, den chejder, die jüdische Elementarschule, zu schwänzen und sich Bücher in den Leihbüchereien zu holen, die er verschlingt. Während Lieblingsonkel Louie seiner Schwägerin Lea, Iras Mutter, den Hof macht, von dieser aber zurückgewiesen wird. Zu Iras größtem Bedauern, denn Louie ist amerikanischer Briefträger und trägt eine stattliche Uniform, und nichts wünscht sich Ira sehnlicher, als Amerikaner zu werden, am liebsten Offizier.

Die Einberufung seines zweiten Lieblingsonkels Moe, der sich jetzt Morris nennt, zur Armee und seine Verschiffung nach Europa - "wo der Weltkrieg wütet" - , führt Ira und seine Familie fast in die Katastrophe, als nämlich Iras Großmutter, die Bobe - eine alte jüdische Matrone - jede Nahrungsaufnahme verweigert und vor Kummer zu sterben droht. "Sie schicken dich auf die Schlachtbank. Ich will nicht mehr leben." Vergeblich versuchen der Sejde, Iras Großvater und orthodoxer Patriarch, und der Rest der Familie der alten Frau die Abreise ihres Ältesten nach Frankreich zu verheimlichen.

Aber das Leben des kleinen Ira Stigman hat auch seine sonnigen Seiten. Zwischen bulkeß und kischke, blinzeß und gefilte Fisch, besucht Ira die christliche Gemeindeschule, liest Unmengen von Büchern ("wahllos und gierig"), schießt mit dem Luftgewehr auf Ratten und arbeitet nachmittags als Botenjunge in einem Delikatessenladen; so erhält oder verschafft er sich Einblicke in die Welt der gojim, der rotgesichtigen irischen Gassenjungen sowie der "Reichen und Prächtigen" im New York der roaring twenties, die ihn fortan nicht mehr loslassen wird.

1985, nach fast achtzig Jahren, tippt Henry Roth - alt und von Arthritis gequält, seine Lebenserinnerungen in einen Computer. Diese Einschübe, die zweite Stimme des Romans, unterbrechen die Fragmente der Erinnerung immer häufiger, je weiter man in den ca. 400 Seiten liest. Die Zwiesprache mit dem Schreibsystem genannt "Ekklesias" ist Henry Roth´s Versuch, das zu tun, "was ich in dem einzigen Roman, den ich bislang geschrieben habe, erfolgreich vermieden habe: mich damit auseinanderzusetzen". Was mit "damit" gemeint ist, wird von Roth nur angedeutet, oft auch bewußt verschwiegen, wie er selber zugibt. So sehr setzen ihm die "schrecklichen Verstümmelungen" auch heute noch zu. "Warum gräbst du das alles wieder aus?", fragt Ekklesias. " Vielleicht um das Sterben leichter zu machen, willkommener, für mich und meine Mitmenschen".

Die Gnade eines wilden Stroms ist der erste einer auf sechs Bände angelegten Reihe autobiographischer Romane von Henry Roth. Man darf gespannt sein, wieviele noch aus dem Nachlaß erscheinen werden, denn Henry Roth ist 1995 im Alter von fast 90 Jahren in New Mexico gestorben.

© G!G 6.5.97 Lese!zeichen


Henry Roth: Die Gnade eines wilden Stroms. Roman
Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer
Beltz Quadriga Verlag, Weinheim 1996, 390 Seiten,
42,00 DM

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