„Ein Wahnsinn“

 

Bald geschafft, denkt Willhelm Kertzel und klappt zum letzten Mal das Kunststoffwaschbecken zurück. Dann verlässt er zum letzten Mal seine Kabine, um sich aufs Promenadendeck zu begeben, wo schon die meisten Passagiere warten. Es ist kurz vor 16 Uhr am 6. Mai 1937, als er die Kabinentür hinter sich schließt. Das war die letzte Nacht auf der gottverdammten Hindenburg, die letzte Nacht von dreien neben einem lauten Schnarcher, der durch die dünne Schaumstoffwand, die ihre Kabinen voneinander trennt, gut zu hören gewesen war und ihn eifrig wachgehalten hatte. „Ein Wahnsinn“, murmelt Kertzel angesichts der Tatsache, dass dieser zigarettenförmige Zeppelin von 200000 Kubikmetern Wasserstoff getragen wird. Eine tickende Zeitbombe.  Mit Sauerstoff kombiniert ergäbe sich eine tödliche Mischung, nämlich Knallgas. Er weiß um die Gefahr, ist sich ihr bewusst. Nur das monotone Brummen der gewaltigen Dieselmotoren ist zu hören, als er sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen in Bewegung setzt. Doch sie hatten es nur gut gemeint, als sie ihm diesen Flug von Frankfurt nach Lakehurst hier in Amerika buchten. Er, Kertzel, ist schließlich nicht nur stolzer und überzeugter NSDAP-Angehöriger, sondern gehört überdies zum Stab des Reichsluftfahrtministers. Hermann Göring, das weiß er, ist stolz auf ihn, den genialen Ingenieur, der bis vor sechs Monaten noch Maschinen geflogen war und nun im Begriff ist, zu den höchsten Stellen aufzusteigen. Freilich ist es bis dahin noch ein weiter Weg. Göring gönnt ihm einen erholsamen Urlaub. Er soll einmal gesagt haben: „Alles, was fliegt, gehört mir.“ Also auch die Zeppeline. Doch Kertzel hätte lieber das Schiff genommen. Er hat sich während der ganzen Fahrt nicht wohl gefühlt, obschon ihm der Luxus eines Hotels geboten war: Fließend warmes und kaltes Wasser, sowie Speisesaal, Schreib- und Leseraum und einen Rauchsalon, der allerdings durch eine Überdruckschleuse gesichert ist, in dem sich die Passagiere ihre Zigaretten und Zigarren mit Spezialfeuerzeugen anzünden müssen, gibt es. Dort hat Kertzel die meiste Zeit verbracht, obgleich er die Idee für irrsinnig hält. Denn er weiß: Ein Funken kann den Vogel vom Himmel holen. Doch sobald er erst in den Genuss der Zigaretten gekommen war, waren alle Sorgen wie weggeblasen. Er ist Kettenraucher. Beruhigt hat ihn außerdem die Tatsache, dass die Hindenburg zum Ruhm der deutschen Industrie und des Dritten Reiches fährt. Und er findet es amüsant, dass ein Hakenkreuz auf einer der 300 Quadratmeter großen Leitwerkflächen platziert ruht. Jetzt erreicht er die Treppe, die zum Promenadendeck hinaufführt. Er war bis vor einigen Jahren, ohne Geschwister und Eltern, mittellos, bis er irgendwie den Weg zur Luftfahrt fand. Und er ist fasziniert von den Fliegern. Wenn er gekonnt hätte, wäre er schon im ersten Weltkrieg mit Bombern gegen England geflogen. Doch unglücklicherweise war er damals noch zu jung. Ihm kam die Beförderung zum Ingenieur zu schnell, da er es genossen hatte, im Flieger zu sitzen, auch wenn es unglücklicherweise nie Kampfeinsätze gewesen waren. Doch vielleicht kann er sich noch an den Gedanken gewöhnen, ein Schreibtischtäter zu sein. Die Zeppeline, denkt er, sollten mit einem nicht so brennbaren Gas und einer ansehnlichen Bewaffnung ausgerüstet zu Truppentransporten verwendet werden. Nicht zum Passagiertransport. Denn er ist der Ansicht, dass jedes Flugobjekt in die Hand des Soldaten gehört. Nur einen schnelleren Antrieb müsste man haben. Die Hindenburg hat den Flug von Frankfurt nach Lakehurst einmal in fünfzig Stunden geschafft. Doch diesmal ist sie wegen ungünstiger Wetterverhältnisse bereits um Stunden im Rückstand. Kapitän Pruss hat die Zwischenlandung in New York vor zwei Stunden nur zur Ergänzung der nötigsten Vorräte benutzt, um zumindest einen Teil der Verspätung wieder aufzuholen. Kertzel hat die Promenade erreicht und drängt sich zwischen den Passagieren hindurch auf die rechte Seite. Sie beachten den kleinen schweigsamen Mann nicht.

Um 19 Uhr 21 ist Lakehurst längst in Sicht und der Unmut der Passagiere regt sich, da Kapitän Pruss, obwohl sich die Wetterverhältnisse inzwischen gebessert haben, vor der Landung zurückscheut. Zwar zieht im Westen eine Gewitterfront auf, doch es bliebe noch immer genug Zeit zur Landung. Kertzel flucht, da er nicht auf der Brücke steht, denn er glaubt, den Vogel sicher herunterbringen zu können. Die Hindenburg schwebt jetzt 120 Meter über dem Erdboden. Kertzel kann von seinem ganz hinten gelegenen Platz aus den etwa 300 Meter entfernten 25 Meter hohen Ankermast sehen, der nur aus Stahl besteht. „Hoffentlich bringt Pruss den Vogel bald nach unten“, wendet sich ein Fahrgast an ihn. „Hoffe ich auch“, antwortet Kertzel knapp. Einige Besatzungsmitglieder sitzen im Bug des Zeppelins und lassen die fünf Zentimeter dicken, aus Hanf bestehenden Landeseile ab. Die Bodencrew benutzt die Seilwinde, um die Hindenburg langsam näher zu ziehen, da sie es aus eigener Muskelkraft nicht schaffen. Vier Minuten später, um 19 Uhr 25, spüren Kertzel und die anderen Passagiere einen Stoß, der viele von den Beinen wirft. Sie haben kaum Zeit sich zu wundern, denn plötzlich stehen sie in einem Flammenherd!  Eine Wand aus 1000 Grad heißem Feuer frisst sich ihnen von hinten entgegen. Sie sind hilflos. Kertzel sieht all seine Befürchtungen bestätigt. Und er kann sich schon denken, was die Ursache für das Feuer ist: Ein Funken. Dahin ist der Ruhm der deutschen Industrie und des Dritten Reiches, für den die Hindenburg fuhr, denkt er. Er will sich zuerst zur linken Seite durchschlagen, weil der Wind dort Rauch und Flammen etwas abhält. Doch dann belässt er es dabei, denn er sieht, dass ein Mann seine Filmkamera als Hammer verwendet und so eine Scheibe einschlägt. An die Handfeuerlöscher, die an den Wänden hängen, denkt keiner mehr. Wozu auch? Sie würden bei dieser Feuerwalze ohnehin keine Wirkung mehr erzielen. Und dann fällt Kertzel auf, dass die Hindenburg extrem hecklastig ist. Jetzt stürzt sie, mit dem Heck und dem Leitwerk voran, sechzig Meter steil in die Tiefe. Und es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis die erste Knallgasexplosion erfolgen wird. Der Boden liegt noch schätzungsweise dreißig Meter unter ihnen. Kertzel greift seine Reisetasche und schleudert sie aus einem geborstenen Fenster in die Tiefe. Einen Passagier, der sich hinter ihm aus demselben Fenster schwingen will, stößt er zurück. Dann schwingt er sich hinaus, es sind noch zwanzig Meter bis zum Boden, und lässt die Außenhülle des Giganten los. Als er aufprallt, fährt ein scharfer Schmerz durch seinen rechten Fuss. Er muss ihn sich verstaucht oder gebrochen haben. Doch er beachtet den Schmerz nicht weiter, sondern sucht seine Reisetasche. Als er nach oben starrt, ist das Leitwerk des Zeppelins gerade über ihm und im nächsten Moment verschwindet er darunter, als der Koloss in einer gewaltigen Detonation auf den Boden schlägt. Er wird nie geborgen.

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