Heute ist der fünfzehnte Februar 1953. Doch ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich war damals knapp zwanzig Jahre alt, als es geschah. Und bis dahin lebte ich unbeschwert in dieser herrlichen Stadt Nagasaki. Doch heute bin ich von Therapien und allerlei anderer Strahlenbehandlungen zerrüttet und habe den Tod schon vor Augen. Doch ich will nichts vorwegnehmen und von vorne beginnen, damit die, die mich überleben werden, niemals vergessen können, was am 9. August 1945 um elf Uhr zwei geschah:
Ich hatte noch geschlafen und fühlte mich plötzlich emporgerissen und an die Decke geschleudert, nur um danach einem Stein gleich wieder zu Boden zu stürzen. Als ich zu mir kam, stand mein zwei Jahre jüngerer Bruder über mir.
„Was war das?“, fragte er sichtlich überrascht.
„Ich habe einen grellen Blitz gesehen.“
„Ich nicht“, antwortete ich.
„Ich habe noch geschlafen.“ Er war unverletzt geblieben. Ich sah auf meine Uhr. Es war jetzt elf Uhr zehn.
„Die Nachbarhäuser und die Apotheke stehen in Flammen. Und sie sind alle tot.“ In seine Züge malte sich Entsetzen. Auch ich war fassungslos und sichtlich verwirrt.
„Wir müssen hier raus“, antwortete ich und erhob mich. Wir verließen rasch das Haus:
Dort, wo einst noch unser Garten gewesen war, war nichts mehr. Nichts als nackte Erde. Da waren kein Gras und keine Sträucher mehr. Als ob eine gigantische Druckwelle alles einfach hinweggefegt hätte. Dort standen auch keine Bäume mehr, sondern nur noch tote verkohlte Baumskelette. Und als ich nach oben starrte, bemerkte ich eine riesige schwarze Staubwolke, die ich, soweit das Auge reichte, sehen konnte. Ich rannte mit meinem Bruder los und bemerkte erst jetzt, dass Glassplitter in meinem Gesicht hingen und mir das Blut in den Mund zu tropfen drohte. Es mochten wohl auch allerlei Einrichtungsgegenstände, darunter meine Sammlung verschiedenster Glaskrüge, umhergeschleudert worden sein. Als wir die Straße hinunter liefen, packte uns erneut das Grauen. Alle Häuser waren wie vom Erdboden verschwunden oder standen in Flammen. Wir gingen in Richtung Hospital. Niemand begegnete uns. Die auch um diese Tageszeit sonst so lebendige Stadt schien wie ausgestorben. Etwa eine halbe Stunde später bogen wir endlich in die Straße ein, wo das Krankenhaus stand. Doch es war auch nicht mehr da! Dort, wo es gestanden hatte, war nur noch Staub. Zwei Ärzte kamen uns entgegen. Sie sahen sofort, dass ich verletzt war.
„Kommen Sie mit!“, riefen sie und wir folgten ihnen. Sie führten uns auf einen großen Platz, nicht weit vom Hospital entfernt, wo bereits mehrere Verletzte lagen. Ich schlug die Hände vor die Augen. Einigen fehlten Gliedmaßen: Hier fehlte ein Bein, dort ein halber Arm oder eine Hand. Oder noch blutende Körperteile lagen herum. Die Ärzte hatten alle Hände voll zu tun und verfügten nicht über ausreichenden Verbandsstoff. Ich setzte mich auf einen Stuhl.
Mein Gesicht blutete immer noch und ich hatte Kopfschmerzen.
„Sie müssen warten“, sagte einer der Ärzte zu mir.
„Erst kommen die Schwerverwundeten dran.“ Mein Bruder wurde mit zu den Hilfskräften eingezogen. Ich hörte irgendwo Feuer knistern. Ich wandte den Kopf in die Richtung und sah zwei Männer und eine Frau auf uns zurennen. Ihre Kleider waren ihnen vom Körper gebrannt und Fetzen hingen herab. Nein, es war kein Stoff. Es war Haut. Schon nach wenigen Minuten wurden Tote weggetragen. Hinter dem verbrannten Spital hob man Gruben aus und man legte sie, oder vielmehr das, was noch von ihnen übrig geblieben war, ohne Sarg hinein. Auch viele Kinder waren unter ihnen. Die Hilfskräfte waren zunehmend überfordert, denn immer neue Patienten wurden gebracht, immer neue schrecklich verstümmelte Menschen. Und es gehörte eigentlich viel Phantasie dazu, sie noch als Menschen bezeichnen zu können. Ihre Körper waren von entsetzlichen Brandwunden gezeichnet. Ich nahm alles um mich herum nur schemenhaft wahr. Schließlich kam jemand zu mir, entfernte die Glassplitter aus meinem Gesicht und verband es. Danach machte auch ich mich daran zu helfen. Und meine Hilfe wurde dringend gebraucht. Denn fast alle Ärzte in der Stadt waren tot oder verwundet.
Gegen Nachmittag machte ich mich, zusammen mit meinem Bruder und zwei anderen Helfern daran, Notdächer für die Nacht zu errichten. Wir stolperten in den Trümmern umher und suchten alles zusammen. Gegen Abend kauerten wir uns unter einem Dach zusammen. Und gerade noch rechtzeitig, denn es begann kurz darauf aus der schwarzen Wolke über uns zu regnen. Große schwarze Tropfen fielen herunter und alles Grün, das es noch in der Stadt gab, verdorrte.
Als ich aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ich erkundigte mich bei einem Helfer gleich nach meinem Bruder und erfuhr, dass er sich hatte hinlegen müssen. Ihm sei schwindelig gewesen und er habe sich erbrochen. Ich bedankte mich und begann mich zu kämmen. Zu meiner Verwunderung blieben mir mehrere Haare im Kamm hängen.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich einen Arzt, der gerade an mir vorbeilief.
„Ich weiß es nicht“, gab er zur Antwort.
„Aber sie werden schon wieder nachwachsen.“ Ich ging, um nach meinem Bruder zu sehen.
„Wie geht es dir?“
„Übel“, antwortete er und ich sah, dass seine Nase blutete.
„Was ist mit deinen Haaren?“, fragte er. Sie fielen mir jetzt büschelweise aus.
„Sonderbar“, antwortete ich.
Ich verbrachte einen Großteil des Tages am Bett meines Bruders. Ansonsten war ich noch damit beschäftigt, anderen Patienten zu helfen. Ich weiß nicht mehr, wie viele im Lauf des Tages starben. Doch es müssen viele hundert gewesen sein. Das Nasenbluten meines Bruders hörte nicht wieder auf. Zuerst hatte ich noch geglaubt, es werde schnell wieder vorübergehen. Aber ich hatte mich getäuscht. Auch am nächsten Tag änderte sich sein Zustand nicht. Ein Arzt kontrollierte sein Blutbild: Die Zahl der weißen Blutkörperchen war auf mehr als die Hälfte herabgesunken. Der Arzt schaute bedenklich drein und ging wortlos davon. Und dann erbrach sich mein Bruder wieder. Es war so viel, dass wir eine Badewanne brauchten, um alles auffangen zu können. Ich wusste keinen Rat mehr. Am Abend sagte mein Bruder zu mir: „Pass auf dich auf.“ Das waren seine letzten Worte. Kurz darauf starb er. Und seinen Tod sollte ich nie mehr völlig überwinden.
Am dritten Tag musste auch ich mich wieder behandeln lassen. Ich hatte stecknadelkopfgroße Geschwüre auf der Mundschleimhaut und fühlte mich wie seekrank. Schließlich verfiel ich in eine Ohnmacht von fast zwei Wochen.
Was mir erst viel später klar geworden ist und was ich bis heute noch nicht richtig begriffen habe ist die Tatsache, dass wir alle einer Atombombe zum Opfer gefallen sind. Und es war nur eine Wetterlaune, die es soweit hatte kommen lassen. Die Bombe wurde von den Amerikanern abgeworfen. Zum einen, um den Krieg, in dem wir damals noch lagen, zu beenden, zum anderen, nur um die Wirkung ihrer genialen Atombombe zu testen. Und die schrecklichen Verletzungen, Verbrennungen und Verstümmelungen, von denen ich berichtet habe, kamen nicht bloß von den Wirkungen der Bombe selbst, sondern von den radioaktiven Strahlen, die Nagasaki bis heute verseuchen. Unter ihnen litt und leide ich bis heute und sie haben, zusammen mit meinem Bruder, mehr als 10000 unschuldige Menschen dahingerafft und tun es noch heute. Eine Barbarei ist das! Und überdies waren diese Opfer völlig sinnlos. Es wird noch Jahre dauern, bis die Stadt wieder strahlenfrei ist. Doch ich, das spüre ich, werde es nicht mehr erleben.