Tarot-Karte:
Der Turm
(The House Of God)

Hier eine Erläuterung der Karte (aus: Rachel Pollack, Tarot. 78 Stufen der Weisheit, München 1985):

Wie der Teufel hat dieser Trumpf sehr viele Bedeutungen, und die meisten Tarotbücher beschäftigen sich mit seinen oberflächlichen moralischen Lehren.
Man sagt vom Turm, er sei die materialistische Vorstellung vom Universum, und der Blitz sei die Zerstörung, die ein Leben trifft, das nach rein materialistischen Prinzipien aufgebaut ist. Selbst in dieser Interpretation finden wir sehr subtile Gesichtspunkte. Obwohl es so aussehen mag, als ob irgendeine äußere Kraft den engstirnigen Menschen zu Fall bringt, leitet sich die Gewalt, die auf dieser Karte zu sehen ist, in Wirklichkeit von psychologischen Prinzipien ab. Der Mensch, der nur für die Befriedigung seiner Ich-Bedürfnisse nach Wohlstand, Ruhm und körperlichem Vergnügen lebt und dabei die Innenschau und die spirituelle Schönheit des Universums ignoriert, baut ein Gefängnis um sich herum auf. Wir sehen diesen Menschen in dem Turm, grau, an dem Felsen klebend, mit einer goldenen Krone. Gleichzeitig baut sich im Inneren der Psyche ein Druck auf. da das Unbewußte an seinen Fesseln zerrt. Die Träume werden belastend, Streitereien und Depressionen werden immer häufiger, und wenn der Mensch diese Erscheinungen auch verdrängen mag. so wird das Unbewußte doch eine Gelegenheit finden hervorzubrechen.
Dieses Hervorbrechen kann als äußere Katastrophe erscheinen; unsere Freunde und unsere Familie wenden sich gegen uns, unsere Arbeit bricht zusammen. Gewalttätigkeit in der einen oder anderen Form macht uns zu schaffen. Es ist tatsächlich eins der Geheimnisse des Lebens, daß ein Unglück selten allein kommt. Aber wieviel von diesen Problemen auch aus lange vernachlässigten oder falsch behandelten Situationen stammen mag, jetzt, da sie uns treffen, machen sie uns verwundbar. Und wenn Schwierigkeiten. wie Krankheit oder der Tod von Menschen, die uns nahestehen, ökonomische Probleme in der Gesellschaft oder auch Naturkatastrophen wie Stürme - oder Blitzschlag! - zur gleichen Zeit auftreten wie persönliche Probleme, dann zeigt ein solches Zusammentreffen wieder einmal, daß das Leben in der Tat mehr enthält als das, was wir direkt vor Augen haben.
Wir sollten nicht meinen, daß die Psyche oder das Leben uns Katastrophen beschert. einfach um uns zu bestrafen. Die Feuertropfen. die auf beiden Seiten des Turmes herabfallen, haben die Form des hebräischen Buchstaben Yod, des ersten Buchstabens des Namens Gottes. Sie symbolisieren nicht Zorn. sondern Gnade. Das Universum und die menschliche Psyche werden es nicht zulassen, daß wir für alle Zeiten in unserem Turm der Illusion und der Verdrängung gefangen bleiben. Wenn wir uns nicht selbst auf friedliche Weise befreien können. dann werden die Kräfte des Lebens eine Explosion herbeiführen.
Ich will damit nicht sagen, daß wir die schmerzvollen Erfahrungen, die uns aufrütteln, irgendwie genießen oder daß wir die heilsamen Wirkungen solcher Entwicklungen erkennen; ich glaube auch nicht. daß dieser Prozeß immer zur Freiheit führt. Sehr oft wird eine Serie von Katastrophen oder eine Zeit heftiger Emotionen eine im Grunde starke Persönlichkeit lähmen. Entscheidend ist nur, daß das Unbewußte, wenn ihm keine anderen Ausdrucks-möglichkeiten gegeben werden, überall um uns herum hervorbrechen wird, und daß wir diese Erfahrung nutzen können, um ein besseres Gleichgewicht zu finden. In einigen Spielen wird diese Karte »Das Haus des Teufels« genannt; in anderen jedoch heißt sie »Das Haus Gottes» und erinnert uns daran, daß es die spirituelle Kraft ist, die unser psychisches Gefängnis zerstört.
Die Verbindung vom Haus Gottes mit dem Haus des Teufels hat auch noch eine tiefere Bedeutung. die in der Tatsache zum Ausdruck kommt. daß das hebräische Wort für Schlange den gleichen Zahlenwert hat (und daher als gleichbedeutend gilt) wie das Wort für »Messias». Der Teufel ist der Schatten Gottes. Bei Trumpf 15 haben wir gesehen. daß der Mensch, der nach Einheit mit dem Leben sucht, die Energie, die normalerweise von der bewußten Seite der Persönlichkeit verdrängt wird, zulassen muß. Wenn wir uns jedoch auf den Teufel einlassen, gefährden wir die Ruhe und das Gleichgewicht, die in der Mäßigkeit dargestellt waren. Wir führen die Seele auf einen turbulenten Weg, der zu der Explosion des Turmes führt. Jung beschrieb das Bewußtsein als einen Damm, der das freie Strömen des Unbewußten blockiert. Die Mäßigkeit funktioniert als eine Art Schleuse, die das Wasser in kontrollierten Mengen hindurchläßt. Der Turm fegt den gesamten Damm hinweg, und die aufgestaute Energie wird als eine Flut freigesetzt.
Warum sollte man einen so gefährlichen Weg einschlagen? Die Antwort ist, daß es keinen anderen Weg gibt, um endgültig über die Grenzen des Bewußtseins hinauszugelangen und uns von dem zu befreien, was das Leben in Gegensätze aufspaltet und uns von der reinen Energie in uns abtrennt. Der Vorhang vor dem Tempel ist die bewußte Persönlichkeit, die uns vor dem Leben in seiner elementaren Form schützt. Mystiker, Schamanen und Ekstatiker haben immer wieder bezeugt, daß die Ewigkeit überall um uns herum gegenwärtig ist, blendend und überwältigend. Der unvorbereitete Geist kann eine solche Macht nicht aufnehmen; daher schützt uns das Bewußtsein und läßt dcii größeren Teil unserer spirituellen Energie nicht zu. indem es die Erfahrung in die Zeit projiziert und sie in gegensätzliche Kategorien aufspaltet.
Die Mystiker berichten uns auch, daß die Offenbarung wie ein Blitzschlag kommt, der die Illusionen der materiellen Welt in einem einzigen blendenden Lichtblitz zerstört, wie etwa bei der Bekehrung des Paulus auf seinem Weg nach Damaskus, oder bei Buddhas Erleuchtung unter dem Bo-Baum. Es spielt keine Rolle, wie lange jemand meditiert hat, oder wie viele Jahre des Gebets oder des okkulten Trainings er hinter sich hat, entweder bricht die Wahrheit in ihrer Ganzheit plötzlich durch, oder sie kommt überhaupt nicht. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Vorbereitung sinnlos war. Die Arbeit, die in den ersten beiden Reihen der Großen Arkana dargestellt wird, hat eine zweifache Funktion. Zum einen macht sie uns so stark, daß wir den Blitz, wenn er kommt, aushalten können; zum anderen bringt sie uns in eine Position, die den Blitz überhaupt erst möglich macht. Alle okkulten Übungen gehen von einer Annahme aus: daß es möglich sei, den Blitz der Offenbarung herabzurufen, daß ein Mensch bestimmte Schritte unternehmen könne, damit dieses Ereignis eintritt.
Diese Schritte beinhalten Belehrungen, Meditationen, den Tod des Egos und schließlich das Annehmen des Teufels. Indem wir diese Energie freisetzen, überwinden wir die Barrieren der Verdrängung und öffnen uns für den Blitz. Denn der Geist existiert zu jeder Zeit, nur wir sind blind für ihn. Indem wir in die Dunkelheit des Selbst hineingehen, öffnen wir uns für das Licht.
Ganz offensichtlich ist dies ein gefährlicher Prozeß. Der unvorbereitete Mensch kann sich in den Illusionen des Teufels verfangen. Wir werden auch noch sehen, daß es ganz spezifische Gefahren mit sich bringt. wenn die Psyche darangeht, die freigesetzte Energie in das Bewußtsein zu integrieren. Der Held, der sich auf dem Rückweg aus dem Zentrum des Labyrinths befindet, kann sich verirren, wenn er sich nicht sorgfältig vorbereitet hat.
Der Turm liegt unter der Hohenpriesterin, denn er zeigt, wie der Vorhang weggerissen wird. Gleichzeitig erinnert der Blitz an den Magier. Jene Energie und Wahrheit, die durch den Magier hindurchgeht, schlägt hier mit voller Kraft ein. Wir können die Trümpfe 1 und 2 auch in den beiden Menschen in dem blauen und in dem roten Mantel wiedererkennen. Die Polarität, die schon auf so vielen Karten bisher symbolisiert wurde, wird hier von der Einheit des Daseins überwunden. Zähle die Yod-Tropfen aus Feuer, und du wirst feststellen, daß es zweiundzwanzig sind - die Anzahl der Trümpfe. Außerdem wirst du sehen. daß sie in zehn und zwölf aufgeteilt sind. Die Sumerer verwendeten ein auf der Zehn (für die zehn Finger) basierendes Zahlensystem für weltliche Angelegenheiten und ein anderes, das dem Tierkreis entsprechend auf der Zwölf basierte, für spirituelle Zählungen. Auch diese Dualität ist eine Illusion. Beide Welten sind Manifestationen des gleichen Geist-Feuers.
Das Bild des zerstörten Turmes erinnert uns an den Turmbau zu Babel. Auf einer vordergründigen Ebene erklärt die Geschichte, warum die Menschen so viele Sprachen sprechen, und in moralischer Hinsicht mahnt sie uns, unser Vertrauen nicht auf menschliche Fähigkeiten zu setzen (der Turm als Bild für den Materialismus). Aber wir können auch noch eine andere Bedeutung in der Zerstörung Babels erkennen. In dem Blitz, von dem es getroffen wurde. sprach Gott direkt zur Menschheit und nicht, wie sonst, indirekt durch die normalen Phänomene der physischen Welt.
Für einen Augenblick ersetzt die Sprache Gottes die menschliche Sprache. die den Turm gebaut hat; Offenbarung ersetzt das Stück-für-Stück-Wissen der Sinne. Erinnern wir uns daran. daß die Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten die menschliche Sprache durcheinanderbrachte: die Menschen »sprachen in Zungen« oder machten tierische Geräusche. Und die Schamanen sprechen in ihrer Trance die Sprache der Tiere und der Vögel. Die menschliche Sprache ist ein Aspekt der Kultur und eine Begrenzung des Bewußtseins. Viele Linguisten, besonders Benjamin Whorf, haben gezeigt, daß die Sprache unsere Fähigkeit, die Realität wahrzunehmen, einschränkt, wie ein vor die Welt geschobener Filter. Und die Wahrheit kann, wie uns die Mystiker sagen, nicht in Worten ausgedrückt werden.
Die Quersumme der 16 des Turmes ist 7, der Wagen, der von Case und anderen mit der menschlichen Sprache in Verbindung gebracht wird. Bei dem Turm zerstört die Sprache Gottes in einem Moment all die sorgfältigen Konstruktionen der Kultur, der Sprache und des Bewußtseins. Und damit führt sie uns zurück zu dem Chaos des Meeres unter dem Rad des Schicksals und zu dem Wasserbecken hinter dem Vorhang der Hohenpriesterin.
In gewisser Hinsicht ist der Turm der komplexeste aller Trümpfe; seine subtileren divinatorischen Bedeutungen stehen im Gegensatz zu den offensichtlichen. Wie beim Teufel leiten sich die Orakel-Bedeutungen gewöhnlich von seiner offensichtlichen Seite ab. Meistens beziehen sie sich auf eine Zeit heftigen Aufruhrs (entweder ganz konkret oder in psychologischer Hinsicht), auf die Zerstörung lange bestehender Situationen. auf das Auseinanderbrechen von Beziehungen im Zorn oder sogar auf Gewalttätigkeit. Weil die Karte eine so furchteinflößende Bedeutung hat, schrecken viele Menschen bei ihrem Anblick zurück. Diese Reaktion wirft die wichtige Frage auf. wie man mit den erschreckenden Bildern des Tarot umgehen sollte. Wir müssen lernen, alle Erfahrungen zu gebrauchen, den Turm genauso wie die Liebenden. Wenn der Turm erscheint, müssen wir uns daran erinnern, daß er zur Freiheit führen kann; die Explosionen befreien uns von einer Situation, die einen unerträglichen Druck aufgebaut hatte. Sie können zu einem neuen Anfang führen.
Wenn wir sagen, daß das Erscheinen des Turms normalerweise schwierige Erfahrungen bedeutet, heißt das nicht, daß die tieferen Bedeutungen niemals eine Rolle spielen. Die Karte kann eine blitzartige Erleuchtung bedeuten, besonders wenn diese Erleuchtung eine begrenzte Sicht des Lebens ersetzt. Nur die Intuition und Erfahrung des Deuters sowie die Hinweise von den anderen Karten können jeweils die besondere Bedeutung bestimmen.
Der umgekehrte Turm zeigt eine modifizierte Version der Bedeutung der aufrechten Karte. Gewaltsamkeit und Sturm sind immer noch da, jedoch gemildert. Gleichzeitig hat der umgekehrte Trumpf noch die besondere Bedeutung der »Gefangenschaft«, wie Waite sie nennt. Dieses Paradox löst sich auf, wenn wir daran denken, daß der Turm in aufrechter Lage befreiend wirkt. Umgekehrt bedeutet die Karte dann, daß wir es nicht zulassen können, die Erfahrung voll und ganz zu durchleben. Indem wir unsere Reaktionen gut unter Kontrolle halten, vermindern wir den Schmerz; wir lassen nicht das gesamte verdrängte Material an die Oberfläche kommen. In unserem Innern geht die schmerzvolle Erfahrung weiter, weil wir sie niemals bis zu Ende ausgetragen haben. Wenn wir den Turm vor dem Blitz schützen, werden wir sein Gefangener.



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