Einleitung

Warum hat meine Mutter keinen Haupttreffer gemacht?
Sie hat 40 oder 50 Jahre in der Österreichischen Klassenlotterie mitgespielt, mit einem Achtellos. Ein paarmal gewann sie den Einsatz zurück, und einmal, im Jahr 1935, einen Betrag in der Höhe eines Monatsgehaltes. Damit kaufte sie für mich eine komplette Garderobe, in vornehmen Stadtgeschäften. Ich war damals fünf Jahre alt. Meine Mutter arbeitete von 8-16 Uhr in einem Büro, und von 17-23 Uhr in einer Zeitungsredaktion. Sie war Sekretärin und Pressestenografin. Im Jahr 1938, zu Weihnachten, ging ich mit meiner Mutter in das Kaufhaus Gerngross auf der Wiener Mariahilferstraße. Ich wünschte mir eine Spielzeugeisenbahn, Marke Märklin, Spurweite 00. Ich bekam sie nicht, denn meine Mutter hatte zu wenig Geld.
Nicht einmal ein paar Schienen und diese Lokomotive da?
Nein, das können wir uns nicht leisten.
Warum habe ich damals keine Spielzeugeisenbahn bekommen?
Zweifellos war es für meine Mutter schmerzlich, meinen Wunsch nicht erfüllen zu können. Später, als ich schon selber Geld verdiente, sprach meine Mutter immer noch vom Haupttreffer. Sie wollte mir damit eine Freude machen. Über die Verwendung des Geldes im einzelnen sprach sie nie. Ihr genügte es, auf den Haupttreffer zu hoffen. Sie würde dann das Geld holen und mir geben.
Mehr wollte sie nicht.
Als meine Mutter schon älter war und ihre Doppelbeschäftigung aufgegeben hatte, ging sie nach dem Büro ganz gern in die Kapuzinerkirche in der Inneren Stadt. Sie wohnte dort der Messe bei und betete unter anderem auch zum heiligen Judas Thaddäus. Dieser Heilige hat in Wien einen sehr guten Ruf als Helfer in allen möglichen Anliegen. Wenn einer der Wünsche meiner Mutter in Erfüllüng ging, bekam der heilige Judas Thaddäus eine Kerze.
In bezug auf den Haupttreffer versagte der heilige Judas Thaddäus. Meine Mutter war ihm deshalb nicht böse.
Auch der heilige Antonius (von Padua) stand bei meiner Mutter in hohem Ansehen. Der heilige Antonius ist besonders für Verlorenes zuständig.
Einmal, als meine Mutter einen Wellensittich in Pflege hatte, flog der Vogel aus dem Fenster. Meine Mutter betete zum heiligen Antonius, und eine halbe Stunde später sah sie vom Balkon eine Passantin, die den Sittich auf der Straße einfing.
Der heilige Antonius bekam eine Kerze.
Aber auch der heilige Antonius vermochte meiner Mutter keinen Haupttreffer zu vermitteln.
Zu Gottvater oder zur Heiligen Dreifaltigkeit insgesamt hat meine Mutter nie um einen Haupttreffer gebetet. Auch nicht zum Gekreuzigten im besonderen. Meine Mutter hatte eine Scheu, die höchster Instanzen mit ihrer Bitte um einen Haupttreffer zu behelligen.
Zur Muttergottes hingegen betete meine Mutter auch um der Haupttreffer. Leider ohne Erfolg.
Als ich erwachsen war und Theologie studiert hatte, pflegte ich meine Mutter gelegentlich wegen ihrer Beziehungen zum heiligei Antonius und zum heiligen Judas Thaddäus zu hänseln.
Das war ein schwerer Fehler.
In den ersten Jahren nach Kriegsende, als die Lebensmittelversorgung sehr dürftig war, unternahm meine Mutter von Zeit zu Zei Expeditionen in die ländliche Umgebung von Wien. Sie tauscht Wäsche und Schmuck bei den Bauern gegen Nahrungsmittel. Bei diesen Unternehmungen führte sie auch ein Paket Wahrsagekarten mit sich. Solche Karten sind in Fachgeschäften erhältlich, und ein kurze Gebrauchsanweisung wird mitgeliefert. Meine Mutter kauft also Wahrsagekarten, und eine Bekannte sagte ihr die Grundregeln.
Meine Mutter war beim Kartenaufschlagen ganz geschickt, und di Bauern gaben ihr dafür ein paar Eier.
Obwohl ich zu dieser Zeit noch nicht Theologie studierte, übte ich Kritik an der wahrsagerischen Tätigkeit meiner Mutter. Ich sagte: Das ist ein Aberglauben!
Als die Zeiten besser wurden, habe ich die Wahrsagekarten vernichtet.
Auch das war ein schwerer Fehler.
Die Anhänglichkeit meiner Mutter an die Österreichische Klassenlotterie wurde gelegentlich von Zweifeln erschüttert. Meine Mutter sagte dann zu mir:
Glaubst du, soll ich weiterspielen?
Nein, sagte ich dann. Du siehst ja, daß du in den vielen Jahren noch immer nichts gewonnen hast.
Wiederum ein schwerer Fehler.
Meine Mutter hat trotzdem weitergespielt. Sie sagte:
Was nicht ist kann noch werden!
Dieser Satz drückt die gesamte Philosophie von Ernst Bloch aus.
Meine Mutter hat von Bloch nichts gelesen. Sie las Romane von Adlersfeld-Ballestrem, Galsworthy, Eschstruth, Ganghofer, Cronin
Meine Mutter war in eine Leihbibliothek eingeschrieben.
Sie las gerne im Bett und schlief meistens beim Lesen ein.
Im Portemonnaie meiner Mutter befand sich ein Foto von meiner Promotion zum Doktor der Philosophie. Auf dem Bild war der Augenblick der Überreichung der Promotionsurkunde festgehalten. Mein Doktorvater, im akademischen Ornat, lächelte freundlich. Ich trug einen dunklen Anzug mit Priesterkragen und lächelte auch. Das war 1961. Meine Mutter befand sich damals bereits im Ruhestand. Sie war 44 Jahre und 10 Monate berufstätig gewesen, seit ihrem 17. Lebensjahr. Meine Geburt ereignete sich im 33. Lebensjahr meiner Mutter. Bald danach dürfte sie ihr erstes Los bei der Österreichischen Klassenlotterie gekauft haben. Mein Vater sah sich außerstande, meine Mutter finanziell zu unterstützen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist schon lange tot.
Der Ruhestand meiner Mutter währte 15 Jahre und 4 Monate. Während dieser Zeit äußerte sie manchmal den Wunsch, mir ein größeres Geldgeschenk machen zu können. Vielleicht dachte sie immer noch an jene Spielzeuglokomotive, die sie mir nicht hatte kaufen können.
Die Österreichische Klassenlotterie besteht seit dem Jahre 1913. Sie untersteht dem staatlichen Glücksspielmonopol. Gespielt wird in sechs Hauptklassen und fünf Zwischenklassen. Jede Klasse bedeutet eine Ziehung (Auslosung), und die Spieldauer einer Lotterie beträgt etwa ein halbes Jahr. Die Zahl der Mitspieler beläuft sich derzeit auf rund 150000 Personen.
Jede dieser Personen wünscht sich einen Haupttreffer.
In jeder Lotterie gibt es nur einen Haupttreffer. Er wird auch «großes Los» genannt. Das große Los wird in der letzten Ziehung gezogen. Der zum Haupttreffer führende Vorgang wird «Zufall» genannt. Zufällig hat meine Mutter nie einen Haupttreffer gemacht. Eine (wissenschaftliche) Erklärung dafür gibt es nicht. Meine Mutter hat nach einer solchen Erklärung auch nie gesucht. Sie war über den ausbleibenden Haupttreffer nicht besonders unglücklich. Gelegentlich gestand sie mir, daß sie mit Gott gehadert hätte.

Ihre Versuche, den Zufall zu beeinflussen, waren religiöser Art, wie bereits erwähnt. Sie betete zum heiligen Judas Thaddäus und zum heiligen Antonius, allenfalls auch zur Muttergottes. Ihre Wünsche, die sie in ihren Gebeten vorbrachte, waren keineswegs dunkel. Sie wußte, was sie sich wünschte. Unter ihren Wünschen war auch jener nach einem Haupttreffer.
Er ging zeit ihres Lebens nicht in Erfüllung, was sie aber nicht hinderte, weiterzuspielen.
Diese Haltung ist gar nicht so selten unter den Menschen anzutreffen. Anderenfalls gäbe es keine Lotterien und keine Religionen.
Meine Mutter war nie politisch aktiv.
Ihre Stimme gab sie den Christlichsozialen, und erst im Jahr 1970 probierte sie es mit den Sozialdemokraten. Im Jahr 1938 stimmte sie gegen Hitler, und als sie von ihren damaligen Vorgesetzten aufgefordert wurde, der Partei beizutreten, weigerte sie sich. Man legte ihr dann nahe, aus der katholischen Kirche auszutreten, was sie aber auch nicht tun mochte. Da sie in ihrem Beruf tüchtig war, durfte sie dennoch ihren Posten behalten.
Ihr Achtellos wurde während dieser Zeit von der Deutschen Klassenlotterie ausgegeben.

Die erste mir erinnerliche politische Unterweisung von meiner Mutter erhielt ich im Alter von zehn oder elf Jahren. Ich war damals pflichtgemäß bei der Hitler-Jugend und erklärte meiner Mutter, daß jetzt das Tausendjälrrige Reich begonnen hätte.
Meine Mutter sagte: Nur Gott ist ewig.

Als ich meiner Mutter meinen Wunsch gestand, katholischer Priester zu werden, zeigte sie sich nicht sonderlich erfreut. Der einzige Rat, den sie mir gab, bestand in der Ermahnung, mir die Sache gut zu überlegen. Sie erkannte die Unwiderruflichkeit dieser Wahl. Später, als ich meine Wahl getroffen hatte, begann sie häufiger als vorher in die Kirche zu gehen.
Als ich anfing, gegenüber den kirchlichen Verhältnissen eine kritische Haltung einzunehmen, erteilte mir meine Mutter einen weiteren Rat. Sie sagte: Wenn du den Mund aufmachen willst, mußt du finanziell unabhängig sein.
Diesen Rat habe ich nicht befolgt, und der Wunsch meiner Mutter nach einem Haupttreffer erhielt dadurch eine neue Aktualität.

Die geduldige Spannkraft hinter dem Wunsch meiner Mutter nach einem Haupttreffer beginnt sich mir erst jetzt, nach ihrem Tod, langsam zu erschließen. Auch an die Wahrsagekarten denke ich mit Wärme, und der Schein der Kerzen, die meine Mutter dem heiligen Judas Thaddäus und dem heiligen Antonius gespendet hat, vermittelt mir den Eindruck von stiller Unverwüstlichkeit.
Das ist meine Mystik, und nicht nur meine. Sie ist öfter vorhanden, als man denkt, und ihr möchte ich meine Worte leihen. In den zahlreich erschienenen Büchern über Mystik kommt sie so gut wie gar nicht vor. Diese Bücher beschäftigen sich mit virtuosen Mystikern und Mystikerinnen, in sozusagen sensationeller Weise, mit lauter Außeralltäglichkeit drumherum.
Meine Mystik ist alltäglich, und mein Wissen soll dazu dienen, sie zu entdecken.

Die Leser meines Buches werde ich «Anfänger» nennen, weil ich mit ihnen eine Art Kurs veranstalten möchte. Die 14 Lektionen dieses Kurses haben folgendes Lehrziel:
Die geläufige Beherrschung der Alltagsmystik in Wort und Schrift. Auf die Verwendung großspuriger Etiketten für mein Buch («Bewußtseinserweiterung», «Kreativitätstraining», « Ichstärkung» usw.) möchte ich verzichten.
Warum?
Das steht in der ersten Lektion.

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