John Bradley an Christian Günther

Ich bin mir nicht klar darüber, warum Sie das Christentum zu einer Anzahl von Thesen reduzieren wollen. Vielleicht, weil es dadurch ordentlicher aussieht? Ein solcher wohlbekannter Ver­such führte im 19.Jahrhundert zu dem Ausdruck „Fundamentalismus“, teilweise im Zusammenhang mit BB Warfield und GI Scofield, und bestand darin, fünf „fundamentale“ Doktrinen festzustellen:
  1. Beim Betrachten Ihrer 10 Thesen wäre ich mit der ersten nicht einverstanden. Wenn es richtig ist, von Jesus als einem zu sprechen, der seine göttliche Vollmacht beweist, dann gilt das mehr für seine Auferstehung als für seinen Tod. Sein Tod am Kreuz beweist das Ausmaß seiner Liebe und seine Bereitschaft, den niedrigsten Platz einzunehmen.
  2. Bei der zweiten denke ich, dass die Bibel gegen Sie ist. Das Konzept des Opfers, das im Verlauf des Alten Testaments entwickelt wurde, basiert auf dem Glauben, daß die Strafe für die Sünde einer Person auf das Leben übertragen werden kann, das stellvertretend hinweggenommen wird. Jesaja 53, welches oft auf das Neue Testament bezogen wird, prophezeit, dass Gottes erwählter Knecht alle Sünde Israels auf sich nehmen werde. Je­sus selbst sagte, dass er gekommen sei, um sein Leben als Lösegeld für viele hinzuge­ben.
  3. Wie verstehen Sie das Wort „vollkommen“ ? Seine Wurzel (teleioV) meint „das Ziel errei­chen“. Im Kontext der Bergpredigt bedeutet dies, so meine ich, dass deine Liebe für an­dere den ganzen Weg zum Ziel gehen muss, genauso wie die Liebe deines himmlischen Vaters den ganzen Weg für dich geht. Jesus erweitert noch die Lehre: „Behandele ande­re wie du von ihnen behandelt werden willst“. Er lehrt: „Behandele andere, wie Gott dich behandelt!“
  4. Ich denke, die beste Zusammenfassung steht bei Johannes 1,17: „die Thora wurde durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit aber sind durch Jesus Christus gekommen.“
  5. Jesu Lehre in Johannes 3,18-21 ist, dass das Gericht davon abhängt, wie sich die Men­schen gegenüber dem Licht verhalten, das in die Welt gekommen ist. Diejenigen, die das Falsche tun wollen, meiden es, aber diejenigen, die gemäß der Wahrheit leben, heissen es willkommen.
  6. Ja, aber seien Sie damit nicht zu streng! Es bedeutet nicht, dass, wenn wir 85% derer vergeben, die uns etwas zuleide tun, dass uns Gott dann nur 85% unserer Sünden ver­geben wird. Es geht vielmehr um die Einstellung des Herzens, um die Güte, die aus dem Wissen erwächst, dass dir schon in einer nicht messbaren Weise vergeben wurde.
  7. Umkehr ist ein Wechsel des Denkens, der Herzenseinstellung, des Lebensstils, der Priori­täten und der Lebensrichtung. Es ist die bewusstseinsmässige Abkehr davon, mein Le­ben nach MEINEN Vorgaben zu leben und die Hinkehr dazu, es nach GOTTES Vorgaben zu leben. An das Evangelium zu glauben bedeutet, meine ganze Person der Bewahrhei­tung des Evangeliums zu widmen.
  8. Das Vaterunser ist sicherlich zentral, genauso aber auch seine Zusammenfassung der Thora als Liebe zu Gott und zu deinem Nächsten.
  9. Eine Menge Leute wären mit Ihren „drei Dingen“ einverstanden, die aber nicht darauf stolz wären, von Ihnen Christen genannt zu werden, einschließlich Millionen von Juden und Moslems.
  10. Warum gerade mal drei Teile des Neuen Testaments herauspicken? Der gemeinsame Mittelpunkt ist Jesus Christus selbst. Die Vollendung oder Erfüllung der Thora ist nur ein Teil davon, vor allem bei Paulus.


Christian Günther an John Bradley:

Ich bin einverstanden mit Ihrer Absicht, „eine positive Botschaft davon, was Christen glauben und warum“ abzugeben. Aber im Gespräch mit vielen Leuten habe ich ein krudes Sammelsurium von theologischen Halbwahrheiten und Halbwissen zu hören bekommen. So formulierte ich auf der Suche nach einem Felsen, auf dem man ein Haus bauen könnte, die „10 Elementals“ als eine Art Gerüst.
  1. Nicht nur die Auferstehung Christi, sondern auch sein Tod bewiesen seine göttliche Vollmacht. Je­sus wurde zum Tod verurteilt, weil er seine Vollmacht, Sohn Gottes / Messias zu sein, nicht wider­rief. Das Problem war nicht nur der Titel. Wir müssen fragen, in welcher Weise dieser sein An­spruch für den Hohen Rat anstößig war. Zusätzlich zu seinem Verhalten in Jerusalem war seine Lehre bezüglich der Thora häretisch: Er gab der Thora eine Zweckbestimmung (Mt 5,48) und da­von ausgehend verschärfte (=erfüllte, =veränderte) er deren Gebote (durch seine „kleinsten Gebo­te“ Mt 5,17-47). Ich denke, das Evangelium meint dies, wenn es sagt, dass Jesus mit Vollmacht lehr­te und nicht wie die Schriftgelehrten.
  2. Es war ein jüdischer Rabbi, der mir eingeimpft hat: „Es gibt ein Axiom in der jüdischen Religion: Keiner kann die Sünden anderer Menschen auf sich nehmen.“ Jesus war ein Jude. Seine Gleichnis­se und Dialog-Worte betonen die persönliche Verantwortung der Menschen. Sie sind noch härter formuliert als vergleichbare jüdische Stellungnahmen. Seine Einstellung bezüglich der Opfer ist prophetisch geprägt und entspricht der Position des rabbinischen Judentums (Mt 9,13 et al.). Jesaja 53 muss nicht als ein Versöhnungsopfer interpretiert werden. Ich stelle mir vor, wie Herr Karadzic in seine orthodoxe Kirche geht, ehrlich seine Sünden bekennt (die für das Wohl des serbischen Vol­kes nötig waren), eine Hostie empfängt, und danach ist er wahrhaftig rein. Glauben Sie, Seine Gnade ist so billig? Ich halte diese Philosophie (des Versöhnungsopfers) für ein Konzept der frühen Kirche, das nicht auf den originalen Jesus übertragen werden sollte. Wenn man Jesus folgt - so denke ich - muss das Bemühen zu vergeben an die Stelle des Glaubens an den Sühnetod Jesu treten.
  3. Und 4.: Das Wort „vollkommen“ (Mt 5,48) wird durch die vorher formulierten Gebote mit Beispie­len erklärt (Mt 5,17-47). Es ist nötig, die Thora in ihrer vollen Bedeutung, ihrer „vollendeten“ Be­deutung zu realisieren, nicht nur gemäß dem Schriftbuchstaben oder ihrer rabbinischen Auslegung. Jeder muss leben wie Gott in Menschengestalt.

  1. Mir scheint, eine der besten Stellen in der Bergpredigt ist Mt 7,11 (“ihr, die ihr doch böse seid...“): Wenn wir von Gott gerichtet werden, sind wir verloren. Wir müssen einen Weg gehen, der an dem Gericht vorbeiführt (Joh 3,18; Mt 7,1): Den Weg der Wahrheit (einverstanden), i.e. den Weg des Nicht-Berechnens und Vergebens.
  2. Ich stimme zu.
  3. Bezüglich der Umkehr: Einverstanden. Bezüglich des Glaubens: Was meinen Sie mit „Evangeli­um“? Mit These 7 versuchte ich eine doppelte Bewegung zu beschreiben: Umkehr als meine Bewe­gung von einem berechnenden Richter meiner selbst und anderer zu einem Kind Gottes. Das Evangelium erzählt von Gott, der sich von einem Richter über mich wegbewegt hin zu einem güti­gen Vater. Darauf habe ich zu vertrauen, wenn meine Umkehr erfolgreich sein soll.
  4. Einverstanden. Als einer, der mit einfachen Leuten sprach, und das oft nur für kurze Zeit, muss Je­sus seine Lehre klar, kurz und einfach gehalten haben. Dementsprechend gab er seinen Anhängern ein kurzes Gebet (verglichen mit dem Achzehnbittengebet). Ich denke, dass das Vaterunser auch ei­ne Art Verstehenshilfe war, die die wesentlichen Dinge der Lehre Jesu enthielt.
  5. „Eine Menge Leute wären mit Ihren „drei Dingen“ einverstanden, die aber nicht darauf stolz wä­ren, von Ihnen Christen genannt zu werden, einschließlich Millionen von Juden und Moslems.“ Das soll mein Problem nicht sein. Wenn man allerdings die Folgerungen, die sich aus der Goldenen Regel ergeben, eingehender betrachtet, wird sich deren Zahl verringern.

Diese drei Teile des Neuen Testaments geben uns sehr unterschiedliche Beschreibungen von Jesus. Als ich über das Verhältnis Jesu zur Thora nachdachte, war ich überrascht über deren gemeinsame Position in dieser Angelegenheit.

John Bradley an Christian Günther:

Danke für Ihre Antwort, Christian. Ich bin mir immer noch nicht klar darüber, was Sie sa­gen. Wenn Sie sagen, dass eine durch ein Opfer vollzogene Versöhnung nur eine Art ist, den Tod Christi zu deuten; eine Art, die Sie als nicht hilfreich ansehen, kann ich das verste­hen, obwohl ich mich dem nicht völlig anschließen kann. Ich neige zu einem Verständnis der Versöhnung, das auf dem Konzept von teleioV / Vollkommenheit basiert in dem Sinn, dass das Ziel (teloV) erreicht ist. In diesem Sinn ist die Grundaussage der Bergpredigt: „Deine Liebe für Gott und die anderen Menschen muss den gesamten Weg bis zum Ziel gehen, genauso wie die Liebe deines himmlischen Vaters für dich den gesamten Weg zum Ziel geht.“ (Mt 5,48) Mit anderen Worten, die Ethik der Bergpredigt lautet nicht in erster Linie „Behandele andere Menschen genauso, wie du von ihnen behandelt werden willst“, sondern „behandele ande­re, wie Gott dich behandelt“. Im gleichen Sinn sollte das letzte Wort Jesu am Kreuz gedeu­tet werden: „telestei“ - „das Ziel ist erreicht!“ (Joh 19,30). Sein Erreichen des Ziels völli­gen Vertrauens und Gehorsams gegenüber Gott im Angesicht größten Leidens und schwer­ster Versuchung bahnt uns den Weg, genau wie die Erstbesteiger eines Berges anderen er­möglichen, das gleiche zu tun.

Ich stimme vollständig mit Ihnen überein in dem, was Sie über billige Gnade sagen. Es ist tatsächlich so, daß wir uns einsetzen müssen für eine kostspielige Gnade und gegen billige Gnade.

John


Christian Günther an John Bradley

„Wenn Sie sagen, dass eine durch ein Opfer vollzogene Versöhnung nur eine Art ist, den Tod Christi zu deuten; eine Art, die Sie als nicht hilfreich ansehen, kann ich das verstehen, obwohl ich sie nicht völlig teile.“
Ich denke nicht, dass mein Verständnis vom Tod Christi und seine ethischen Konsequenzen das ein­zig wahre oder mögliche ist. Weder bin ich Gott noch der Papst. Ich schätze, unsere Intentionen sind fast dieselben, aber wir haben verschiedene Konzepte, obwohl unsere ethischen Schlußfolgerungen sich wiederum gleichen.
Jedoch kann ich Joh 19,30 nicht mit Mt 7,48 in Beziehung setzen, wohl aber mit Joh 2,4. Ich denke Mt 7,48 bezieht sich auf die ganze Thora, es ist der inhaltliche Ausdruck der Vollmacht Jesu, der Thora ei­ne Zweckbestimmung zu geben.

Ich versuche einmal eine Übersicht über die verschiedenen Konzepte der Interpretationen des Todes Christi im Neuen Testament aufzuzeigen.
Ich unterscheide dabei 4 Konzeptionen:

Alle anderen Konzepte scheinen das Problem, wie der Messias von seinem eigenen Volk umgebracht werden konnte, zu reflektieren. Sie beziehen dieses historische Ereignis auf Jesaja 53.

Daher möchte ich nun zuerst über die Gottesknechtslieder schreiben:
Im zweiten „Lied“ Jes 49,1-6 erhält der Knecht einen Namen (49,3): „Du bist mein Knecht, Israel, in dem ich verherrlichen werde.“
Im Kontext der Zionstheologie Tritojesajas (z.B. Jes 60,1, etc.) könnte Jesaja 53 als eine Parabel für die Leiden des jüdischen Volkes gedeutet werden, die z.B. im Buch Esther dokumentiert sind, und die bis heute andauern.
Es ist bedeutsam, daß Gott in Jes 53,10 nicht das Subjekt ist, welches das Sündopfer einfordert, daß aber das Schicksal des Gottesknechtes von ihm als Sündopfer angerechnet wird. Ich persönlich übersetze Jes 53,10: „So war es des HErrn Wille: Der vom HErrn Zerschlagene, dem er mit Krank­heit zusetzte - wenn Er (nur) sein Leben als Sündopfer anrechnete - wird er seine Nachkommen sehen, wird er seine Tage verlängern.“ [Ich denke nicht, dass ein Mensch einfach sagen kann: „Ich bringe mein Leben Ihm dar, als ein Opfer“. Es hat keine Gültigkeit, denn Gott muss es als Opfer akzeptieren. Darum bin ich der Ansicht, dass Gott das Subjekt von „anrechnen“ ist]: Nach dem Er­leiden der Bestrafung, beginnend mit der babylonischen Gefangenschaft, wird Gott seine (Israels) Pein als Sündopfer anrechnen und sie zu einer Nation von Priestern machen.
Bei dem Versuch, nach der Kreuzigung dem Tod des Messias einen Sinn abzugewinnen, wurde das Motiv des Gottesknechtes auf Christus bezogen. Jes 53 konnte eine Erklärung geben für das, was geschehen war.

Die Bergpredigt kann folgendermassen strukturiert werden:
  1. Mt 5,1-12: Seligpreisungen, die den Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Leiden und zukünftiger Freude verdeutlichen.
  2. Mt 5,17-47: Beispiele, die die wirkliche Bedeutung der Gebote des Gesetzes aufzeigen
  3. 6,1-7,11: Die Alternative: Beispiele, die zeigen, dass, wenn man nicht berechnend lebt und mit anderen nicht rechtet, sondern gütig ist und vergibt, dass man dann ebenfalls nicht gerichtet wird und nichts aufge­rechnet bekommt.
  4. 7,13-29: Abschliessende Worte: Hinweise und Warnungen.

Tatsächlich meint diese „Erfüllung“ der Thora nur das, was Paulus sagt: Die Thora ist nicht ein Weg um ein guter Mensch zu werden, sondern ein Zuchtmeister, der unsere Schlechtigkeit aufzeigt. Im Endeffekt bietet die Bergpredigt einen Bypass an, der das göttliche Gericht umgeht.
Jesus zu opfern ist nicht nötig, denn „Gott behandelt dich, so wie du andere behandelst“, und ich den­ke, ähnlich wie Sie: „Behandele andere genauso, wie du von ihnen behandelt werden willst“, schliesst Gott ein.
Ich kann den Tod Christi als Kiddusch Haschem, „geheiligt werde dein Name“ annehmen. Das Pro­blem, was ich bei Ihrem Konzept habe, ist, dass ich es nicht für möglich halte, dass wir - als Glauben­de - etwas wirklich Gutes tun können (i.e. Jesus in Situationen des Leidens und der Versuchung nach­folgen), was wir nicht konnten, als wir noch Heiden waren. Ich glaube, dass Umkehr und Glaube eine Veränderung in meinem Denken und meiner Einstellung bewirken, nicht aber eine neue Fähigkeit.
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