Zu: Günter Scholdt: Grenze und Region. Literatur und Literaturgeschichte im Grenzraum Saarland - Lothringen - Luxemburg - Elsa0 seit 1871. Blieskastel 1996 (Gollenstein-Verlag)
"Solange die Elsässer in ihrem Freßbunker hocken, ist ihre Welt in Ordnung. Draußen sehen sie dann eine Allee von Fragezeichen." Tomi Ungerer hat so in einem Fernsehinterview seine Landsleute beschrieben, und nicht nur seine. Grenze ist ein universales Phänomen und ein regionales zugleich, ein mentales und ein geographisch- politisches. Der Saarbrücker Germanist Günter Scholdt hat nun einen Versuch unternommen, sich dem Thema zu nähern, mit einer Essay- und Feuilleton-Sammlung. Deutschland ist "weltweit der Staat mit den meisten Grenzen", weiß er . Was wird er damit machen?
Das liebe Saarland
Anfangen tut das ganz launig. Der Autor bedankt sich bei seinem Verleger,
daß der ihm das Buch "abverlangt" habe (Brechts Tao-Te-King-Legende)
- Selbstironie muß man sich aber leisten können. Der Autor bedankt
sich bei einer Feuilleton-Redakteurin, dafür, daß sie ihm das
Schreiben beigebracht hat. Dann begründet der Autor die
Rechtmäßigkeit seines Forschungsgegenstandes und vor allem das
eigene akademische Projekt, ein "Regional- und Grenzliteraturarchiv" zur
saarländischen, lothringischen, luxemburger und elsässischen Literatur,
das seit etwa 10 Jahren besteht. Momentan scheint es einige
Schriftstellernachlässe zu enthalten (Norbert Jacques, Anton
Betzner, Kopien aus Gustav
Reglers Nachlaß)
und eine kommentierte Bibliographie. Eine Anthologie zum Thema wird
angekündigt. [Für dieser Anthologie / Bibliographie
habe ich selber bis Ende 1990 mit gesammel., Daß die heute, nach 8
Jahren, immer noch nicht vorliegt, spricht für sich - Ladenhüter,
der keinen Laden findet, von Interessenten ganz zu schweigen. Und das
Arbeitstempo der Leute entspricht offenbar dem des spiritus rector des Ganzen,
Onkel Bräsig, der auch schon seit 8 Jahren an einer Leseausgabe von
Reglers "Ohr des Malchus "arbeitet" - eine kommentierte Ausgabe wäre
auch zu viel für ihn - und den Gegenstand. ] Dann werden
einige "vergessene Autoren" des Saarlandes und eine "Kleine Saarland-Anthologie
der Gegenwartslyrik" präsentiert, beides mehr für die breitere
Öffentlichkeit gedacht, und mit wenig Bezug zum Thema Grenze. Es folgen
zwei motivgeschichtlichen Essays über Liebe und Krieg im Grenzland,
das eigentliche Zentrum des Bandes. Abschließend ein Kapitel zu den
Themen Regionalliteratur sowie Heimatliteratur und NS - zwei germanistische
Ladenhüter. Der Buchtitel verspricht "Grenze und Region", aber diese
Aufzählung zeigt schon, wo der Autor die Akzente setzt. Es sind Fragmente
einer saarländischen Literaturgeschichte, und das ist ein fragwürdiges
Projekt. Das Saarland ist sowenig wie Rheinland-Pfalz eine spezifische
Literaturlandschaft, es ist einfach eine Verwaltungseinheit wie
Nordrhein-Westfalen usw. Man kann einer derartigen Region auch mit einer
Literaturgeschichte keine Identität zuschreiben (was Scholdt gerne
möchte), die kann bloß von selber wachsen. Sinnvoll sind bairische,
fränkische, westfälische, badische oder pfälzische ((:-))
Literaturgeschichten. - Der erste Eindruck ist: Hier wird mit der Wurst nach
der Speckseite geschmissen, das Buch dient dem akademischen fund raising,
es schielt zum Kultusministerium mehr als zur Literatur.
Grenze als Prinzip
Dabei könnte man dort womöglich mehr Eindruck machen, ginge man
über den reinen Regionalismus hinaus und würde das Saarlands zum
Prinzip, zur Muster-Grenzregion erhöhen - mit einer Art ethnologischer
Komparatistik, und mit Blick auf die Grenzen auch zu anderen romanischen
und zu den slawischen Nachbarn. Ohne solches Stechlin-See-Prinzip interessiert
eine Region für sich allein wenig. Was tun? Das Elsaß ist eine
richtige Literaturlandschaft, Lothringen ist dabei, sich selbst neu zu entdecken,
die Pfalz kann in einer saarländischen Literaturgeschichte nicht vorkommen
(trotz Separatismus, "Ballade am Strom" usw.), und die literarische Produktion
des Saarlands ist, wie Scholdt selbst zitiert, "prope nihil". Saarland als
(Grenz-)Prinzip wäre also der fruchtbarere Ansatz. Der Autor entscheidet
sich aber für den regionalen, macht aber die Selbstzweifel an seinem
Projekt sehr spürbar. Er wettert immer wieder gegen all die "Kultursnobs",
die mindere Literatur sich partout nicht aufzuschwätzen ilassen wollen,
hat aber dem bloß ein Namensgeröll von Vergessenen entgegenzusetzen,
die er versucht, dem Leser anzupreisen. Dazu ein paar aktuelle Autoren, die
sich ihre Verewigung im KLG "erschrieben" hätten. Ansonsten bleibt nur
der "regionalhistorische Quellenwert" (solange es das Saarland noch gibt).
Und das ist es eben. Der Verfasser ist in erster Linie Historiker, Literatur
ist ihm zuerst historische "Quelle". Trotz der Lyrik-Feuilletons hat er wenig
Nase für die spezifische Wahrnehmungsweise von Literatur. Selbst ein
Lyriker wie Johannes Kühn wird mit einem schwächeren Stück
ziemlich germanistisch-mechanisch auf die alte romantische
Künstler-Philister-Schiene abgeschoben. Saarländische Literatur
ist eben doch das von Scholdt aus Peter Wust zitierte "prope nihil", von
Ausnahmen abgesehen. - Kaum bemerkenswerte Autoren, aber immer noch ein
bemerkenswertes Thema: Grenze, wirksam auch in Zeiten der Globalisierung,
wie am Umgang mit Zuwanderern aller Art zu sehen ist. Da wären also
eine Herde und einen Kamm, jetzt müßte man nur noch scheren
können. Und wenn eine "saarländische Literaturgeschichte" ein Unding
ist, müßte eben der prinzipielle Ansatz her. Bienek, Janosch,
Scholtis (von Grass nicht zu reden) wenigsten fallen einem zur
deutsch-slawischen Grenzregion ein, Franz Tumler zur
deutsch-italienischen, Schickele zur deutsch- französischen. Die
Verräter der einen Seite sind die Nationalhelden der anderen; man versucht,
die eigene Randlage zu kompensieren indem man sich zum Märtyrer stilisiert;
wie gehen die jeweiligen Zentralen mit ihren Grenzländern um, - Grenze
ist u. a. die Region der Ambivalenz, der Osmose, des Opportunismus, der Flucht,
des Schmuggels, des Verrats - aber auch der Komik, des Galgenhumors (Jean
Egen, "Die Linden von Lautenbach"). Man wird von der Zentrale zu
propagandistischen Zwecken benutzt, sitzt zwischen allen Stühlen. Jede
Menge Stoff, auch wenn man zunächst das ganze auf die
deutsch-französische Seite reduziert.
Liebe und Krieg an der Grenze
Gerade mal ein Fünftel des Buches, die beiden genannten Aufsätze
über die Liebe und den Krieg in der Grenzregion, nähern sich
überhaupt dem Thema. Und wie? Und wie! Im ersten Essay untersucht Scholdt
eine Reihe von propagandistischen Besatzungsromanen, in denen literarische
Fälle von nationaler Exogamie, von Heirat über die Grenzen hinweg,
beschrieben werden. Und er kommt zu der erschütternden Diagnose eines
"traumatischen Empfindungsschematismus der grenzüberschreitenden
Geschlechtsbeziehungen" - sie können zusammen nicht kommen, weil die
Unterlegenen den Siegern ihre Frauen verweigern (möchten). Erklärt
wird dieser gescheiterte Raub der Sabinerinnen biologistisch mit "genetischen
Konkurrenzkämpfen". Inwieweit sich diese Propaganda-Tragödien von
vergleichbaren Geschichten sozialer Exogamie unterscheiden, wird nicht
untersucht, hätte aber nahegelegen. - Scholdt untersucht fast nur
Propagandaromane, als gäbe es keine anderen. Die es aber eben doch gibt,
André Weckmann und Jean Egen etwa für das Elsaß,
werden etwas als laue Versöhnler dargestellt, was sie nicht sind. Es
gibt eine Tendenz in diesen Regionen, nach gemachten Erfahrungen einen Buckel
nach beiden Seiten hin zu machen, dafür stehen nicht erst die beiden
genannten Autoren. Der Verfasser hat ein Faible für "argumentative
Hauptkampflinien" und "Schlachtenorte", nicht nur der Liebe. Im
zweiten Grenz-Kapitel über Verdun als symbolischen Ort werden seitenlang
seine Kenntnisse von Autoren des "soldatischen Nationalismus" ausgebreitet,
von Schauwecker bis Ettighofer, und auf einer vollen Druckseite wird eine
explodierende Granate präsentiert, sehr interessant für Theweleit.
Der Bezug zum Thema Grenze bleibt unklar. Und am Ende wieder eine
Versöhnung, diesmal von Ludwig Harig, dem Luftkutscher.
Besseres vorbehalten
Scholdt hat ein fragwürdiges Propagandabuch im doppelten Sinn geliefert:
Propaganda für den eigenen akademischen Nestbau, und eine holzschnittartige
Untersuchung nationalistischer Propagandaliteratur in Grenzregionen. Für
ihn scheint es nur Konfrontation oder (unglaubwürdige) Versöhnung
zu geben, es fehlt ihm jedes Ohr für die Zwischentöne, die für
derartige Regionen gerade charakteristisch sind. Und die haben wirklich etwas
mehr zu bieten als Propagandageschrei, nicht nur Weckmann und
Egen. Otto Flake, René Schickele und der wirklich
zu Unrecht vergessene Hermann Wendel haben ein differenzierteres Bild
der Region hinterlassen als Propagandaromane vermuten lassen. Hermann
Wendel war ein preußischer Beamtensohn, der zur Zeit des
Kaiserreichs in Metz aufwuchs, dort ein Faible für französische
Lebensart entwickelte, zeitweise zum Kreis des jungen René Schickele
gehörte, SPD-Reichstagsabgeordneter mit frankophilen Neigungen wurde,
nach 1918 eine Reihe von Reisebüchern über Jugoslawien (aktuell,
aber leider nicht benutzt) schrieb und Mitte der dreißiger Jahre im
Exil starb. - Aber man sollte auch die Propagandaromane nicht
unterschätzen, man muß sie nur lesen können auf ihre Unter-,
Bei- und Nebentöne hin, ihre Ambivalenzen. Scholdt zitiert selbst ein
gutes Beispiel aus dem ersten Roman der Polly Maria Höfler, aus
dem er allerdings nicht genug macht, auf das einzugehen sich aber lohnt.
Der Name Höfler wird einigen noch aus dem Bücherschrank
der Mutter oder Großmutter ("André und Ursula") bekannt sein,
sie ist ein Musterbeispiel für die genannten Ambivalenzen. Scholdt
präsentiert aus dem ersten Roman der Dame eine Szene, in der die Heldin
sich zwischen ihrem Faible für den bunten Rock französischer Offiziere
und ihrem Deutschtum so ganz eindeutig nicht entscheiden kann, wie Scholdt
das gerne gelesen haben möchte. Die junge Dame heißt Jeanne, ist
vor 1914 in Metz geboren und ist ein bißchen eine deutsche
Möchtegern-Jeanne-d'Arc, versucht sich als deutsche Version der
französischen Nationalheiligen (auch aus Lothringen)- ein typisches
Grenz-Phänomen. - Eine Grenzüberschreitung eigener Art ist allerdings
die des Herrn Scholdt, nämlich eine von der Wissenschaft zur Propaganda
hin. Der erste Roman der Höfler, "Der Weg in die Heimat", aus dem er
zitiert, ist nicht bloß ein "Exodus-Roman" vertriebener Deutsch-Lothringer
nach 1918, er ist zu zwei Dritteln ein NS-Propaganda-Roman mit deutlich
antisemitischen Zügen, 1935 im Münchner Eher-Verlag erschienen.
Das unterschlägt der Wissenschaftler. Und das Kuriose ist, daß
Höfler zwei Jahre später "André und Ursula"
veröffentlicht, ein von falschen Gefühlen triefendes, sehr
unaufrichtiges "Versöhnungs"-Buch, aber immer noch mit einem Faible
für französische Offiziere. Scholdt hütet sich, den Grund
für das Scheitern dieser Exogamie genauer zu untzersuchen. Wenn man
sowas unterschlägt, ist wohl eher von Fälschung als von Propaganda
zu reden. Entweder wollte Scholdt sein Projekt nicht zu sehr belasten, oder
er hat nichs gemerkt, oder beides. - Daß er einen bedeutenden Autor
des Fin de Siècle wie Maurice Barrès, einen frankophonen
Lothringer und zeitweiligen Abgeordneten der französischen
Nationalversammlung (muß noch nichts heißen), bloß als
Autor zweier Propagandaromane prä sentiert und den ehemaligen Goethe-
und Richard- Wagner-Verehrer unterschlägt, ist demgegenüber bloß
Nachlässigkeit. - Neuer Lesestoff wird hier nicht ent deckt, das Thema
eignet sich für eine Art Theweleit-mäßiger pathologischen
Studie von 30 Seiten, was man aber können muß. Scholdts Versuche,die
Leute zum Lesen zu überreden, sind bis auf wenige notwendige
Wiederentdeckungen (Hermann Wendel, René Schickele,
Jean Egen) zum Scheitern verurteilt. Das von Scholdt propagierte "Archiv"
ist inzwischen 10 Jahre alt. Sein Buch ist trotzdem konzeptionslos,
lückenhaft, sachlich fragwürdig und allzu schlicht in Sprache und
Perspektive. Es ist offenbar fixiert auf Grenzregionen als Orte nationalistischer
Konfrontation und außerstande, an die immer noch vorhandenen Wunden
auf irgend eine erträgliche Art zu rühren. Ein
Verdrängungsphänomen, das nun doch wieder zum Thema paßt.
- (Offenbar hat der Autor aus seinen Erfahrungen mit seiner Habilitation
Schlüsse gezogen: Mit seiner Behandlung des Themas "Hitler in der deutschen
Literatur" konnte er die nur über politische Umwege durchsetzen, also:
Vorsicht). - Der Gesamteindruck ist: Sandschippen ohne Sieb und Schippe,
Tote, die ihre Toten begraben, und ein billiger Jakob, der von der eigenen
Ware nicht so ganz überzeugt ist - weil er sie nicht kennt. (Ich
erinnere mich, daß der Autor schon mal den knarzenden Familienroman
"Der Zauberer Muzot" des Lothringers Mungenast einer DFG-Kommission als
"säkularen epischen Anlauf" andrehen wollte). Um an das Thema
heranzukommen, bräuchte es eine Mischung aus komparatistischer Philologie,
ethnologischem Blick und psychologischem Gespür. Bloße
Regionalhistoriker sind da überfordert.
So also sieht Schmenkels
Hinterlassenschaft aus. Aus Nichts wird Nichts, sagt der Lateiner. In der
Pfalz (lateinische Landschaft, wie schon der Name beweist) heißt das:
"Wie der Herr so 's Gescherr". Nach zehn Jahren immer noch keine Idee, bloß
das schlichte "historische" Sandschippen. Immerhin kann diese Hinterlassenschaft
einen dazu bringen, das Tao-Te-King zu lesen (kein Schaden), und einige
Brechtsche taoistische Gedichte dazu (auch kein Schaden) - Da muß der
Leser sich also doch noch beim Verleger bedanken.
Das war mal ein ziemlich konservativer, aber auch ziemlich angesehener Lehrstuhl (August Langen) - Schmidt-Henkel hat den "ohne jede Anstrengung" heruntergebracht, man besehe die (s. o.) Hinterlassenschaft.
Von wegen "Anstrengung": Es gibt bis heute kein erklärendes Vorwort des Herausgebers zur 15-bändigen Gustav-Regler-Werkausgabe (3 fett-magere Bände bisher), wer der war oder gar ist, warum die sein muß usw. Soll da etwa eine Klassiker-Ausgabe parodiert werden, die muß man nämlich nicht mehr rechtfertigen? - In der Form muß die wirklich nicht sein (die Regler-Ausgabe), ein Schwindler will sich hier mit einem Schwindler-Denkmal ein Schwindel-Denkmal setzen. Hoffentlich hilft das wenigstens dem Verlag, die Geldgeber hat es schon jetzt blamiert. Immerhin erfährt man aus den Anmerkungen zu Reglers "Son of Nomansland" (Hrsg.: s. o.) was man sonst nirgendwo erfährt, die Lebensdaten von Händel und Mozart. Es werden da aber nicht nur Zeilen geschunden.
© Hartmut Dietz 1998