CARPE DIEM
Nummer 1 (1995)

General-
mobilmachung

 

Schweren Gemüts und sorgenvoll, aber doch entschlossen zieht er die feldgrüne Uniform seines Vaterlandes an und holt sein Sturmgewehr aus dem Schrank. Er, der stets treu seinem Vaterland diente, wird auch jetzt nur seinem Vaterland dienen. Aber diesmal gilt es ernst. Jetzt wird nicht mehr auf flache Scheiben geschossen, es wird nicht mehr auf symbolische Panzerattrappen gezielt und Sprengladungen werden nach der Montage nicht wieder eingepackt. Vor allem weiss er nicht mehr, wann er zurückkehren wird, ja ob er überhaupt zurückkehren wird?

 

Aber er weiss, dass es sein muss. Er hat wie alle Männer die Unabhängigkeit seines Landes vor dem Feind zu verteidigen. Auch seine geliebte Familie will er beschützen. Gerade deshalb muss er jetzt von ihr Abschied nehmen. Es fällt ihm schwer. Seine Frau kann seine Abreise wenigstens verstehen, auch wenn sie den Schutz ihres Mannes viel lieber bei sich zu Hause hätte. Was ihm aber besonders Mühe bereitet, ist die Trennung von seinem 6jährigen Sohn, der für all das noch kein Verständnis hat.

 

Wohin er denn gehen müsse, will der Kleine wissen. «Ich muss in den Krieg ziehen», antwortet der Vater kurz. «Was ist Krieg?», fragt sein Sohn verständnislos zurück. «Der Krieg ist etwas ganz Schreckliches. Es gibt ihn, weil alle mehr wollen, als sie schon besitzen und weil sich alle für besser halten als die Andern. Und nun wollen die Menschen, die ausserhalb unseres Landes wohnen, über die Grenze kommen - in unser Land hinein.» - «Wieso dürfen die denn nicht kommen, wir haben doch bei denen so schöne Ferien gemacht?», will der Sechsjährige weiter erklärt haben. Der Vater überlegt, dann meint er: «Die Ferien sind halt nun vorbei und die Menschen sind jetzt böse!» - «Was haben sie dir denn gemacht?» - «Mir haben sie nichts angetan. Aber die Regierungen haben sich gegenseitig den Krieg erklärt, weil die andern sich nicht mit unserer Regierung einigten. «Warum kämpfen dann nicht die miteinander?» - «Aber mein Kleiner, die Regierungen können doch nicht gegeneinander kämpfen. Schliesslich vertreten sie uns Bürger und setzen sich für unser Bestes ein. Deshalb müssen sie sich in Sicherheit bringen, damit unser Land weiterhin regiert werden kann.»

 

Der Sohn fängt an zu weinen. «Vati, ich habe Angst, wenn diese bösen Menschen kommen und mir und meiner Mami wehtun. Bleib bei uns, bitte!» Der Vater gesteht: «Ich würde ja auch viel lieber bei euch bleiben, aber es ist meine Pflicht bis zum letzten Blutstropfen für euch zu kämpfen.» Der Vater versucht seine Tränen zu verbergen: «Ich komme bald wieder zurück. Ich verspreche es dir, mein Sohn. Wenn du einmal gross bist, wirst du alles verstehen.»

 

Heute hat der Sohn seine eigene Familie. Er machte eine schwere Jugend durch. Diese Zeit wird er nie wieder vergessen.

Seit diesem Abschied hatte er seinen Vater nie mehr gesehen, und den Krieg konnte er, je älter er wurde, auch immer weniger verstehen.

 

Iwan Reinhard

 


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Last update: 17.02.97

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