Der Ring des Greifen

"Roban! Roban, laß uns umkehren!" ertönte eine helle Knabenstimme. Der Angesprochene reagierte nicht. Er schritt weiter auf dem Uferstreifen, der wie ein schmales Band zwischen dem Ozean und der Steilküste des Windhaggebirges lag, voran. Die Kieselsteine, die das Meer in Jahrtausenden rund geschliffen und hier aufgeschichtet hatte, knirschten unter seinen Füßen. "Roban, hörst du. Wir haben Vater versprochen, noch vor Praiosuntergang wieder daheim zu sein!" "Ja doch," antwortete Roban mürrisch und warf einen flehenden Blick gen Alveran. Warum, ihr Zwölf, gabt ihr mir einen solchen Quälgeist zum Bruder, dachte er. Doch die Götter schwiegen, und alles, was Roban sah, war ein grauer Himmel. Schwere Wolken, getrieben vom sanften Beleman, zogen landeinwärts und verhüllten Praios' Antlitz. Die dritte Stunde nach Mittag mochte angebrochen sein; sie hatten also noch einige Stunden bis zur Dämmerung. "Wir gehen noch bis zu dem herabgestürzten Felsblock dort," entschied er. "Roban! Was willst du denn dort? Phex ist nicht mit uns, sieh' es doch ein! Wir finden heut' kein Treibgut." "Dann warte doch hier, du Zimperalrik." "Ich bin kein Zimperalrik," protestierte der kleine Blondschopf und lief hinter Roban her.

Sie hatten den Felsen fast erreicht, als der Wind ein helles klirrendes Geräusch an ihre Ohren trug. "Hörst du das auch, Roban?" "Die gute Frau Tsa hat auch mir zwei Ohren geschenkt. Und auch zwei Augen. Sieh' dort drüben, Alrik!" Nahe am Ufer tanzte eine Flasche im Wasser, dem Spiel der Wellen ausgeliefert. Immerwieder wurde sie an Land gespüllt, schlug klirrend auf die Steine, bevor die nächste Welle sie wieder zurück in den Ozean riß. "Die ist ja aus Glas!" rief Alrik erstaunt, und rannte, um die Flasche zu holen. "Dafür gibt uns der alte Zendrik sicherlich ein paar Heller!" sagte er, als er sie stolz in den Händen hielt. "Da ist etwas in der Flasche. Sieht aus wie ein Blatt Papyrus," bemerkte Roban. Angestrengt versuchte Alrik den Korken dem langen Hals zu ziehen. Doch mit seinen kleinen Fingern hatte er keinen Erfolg. "Laß' mich einmal probieren", mit dieses Worten zog Roban ein Messer aus dem Gürtel. Geschickt setzte er die Klinge an, und bald fiel der Korken zu Boden. Vorsichtig zog er das Blatt aus der Flasche. Es war zu einer Rolle gedreht, auf die zum Erstaunen der Brüder ein zierlicher goldener Ring geschoben war. Dort, wo für gewöhnlich ein wertvoller Stein saß, war bei diesem Ring die goldene Miniatur eines Greifen zu sehen. Auf seinen prachtvollen gestalteten Schwingen glaubten die beiden jede einzelne Feder erkennen zu können.

Für eine Weile schwiegen die Brüder. Selbst dem sonst so quirligen Alrik fehlten die Worte in Anbetracht dieses unbezahlbaren Schmuckstückes. Ihm war, als könnten die stechenden Augen des Greifen direkt in sein Herz sehen. Roban schob den Ring von der Rolle und vertraute ihn den zitternden Händen seines Bruders an. Dann entrollte er das Papier. Viele Zeichen dicht an dicht füllten das Blatt. Doch mehr als ein Gewirr aus Strichen, Kreisen und Schleifen konnte er nicht erkennen - Roban konnte nicht lesen. Ihm war unklar, wie man ein solches Gekrackel verstehen konnte. "Du mußt es so herum halten", sagte Alrik, der jetzt wieder ganz der alte war. "Ich kann nicht lesen, das weißt du." "Aber ich kann." Alrik war stolz. Endlich gab es einmal etwas, was er besser konnte als sein Bruder. "Siehst du, es hat doch etwas gutes, daß seine Gnaden Peraidian vom Traviatempel mich in die Kunst des Schreibens einweiht." Alrik nahm seinem Bruder das Papier aus der Hand, dann fügte er trozig hinzu: "Auch wenn du und Vater dagegen sind." "Ja, ja doch, nun lies schon vor", Roban war jetzt doch neugierig, was da geschrieben stand. Alrik räusperte sich und laß dann etwas stockend doch verständlich vor:

An den Glücklichen, der dies gefunden, Den Zwölven sei Dank. Meine Gebete wurden erhört und dieses Schreiben erreicht Euch, einen von meinesgleichen. Praios sei bei Euch, Fremder. Mögen ER und seine zwölfgöttlichen Geschwister stets schützend über Euch und den Euren stehen, und Euch vor allem Unheil bewahren. Jetzt, da Ihr diese Zeilen lest, werde ich nicht mehr auf Dere weilen. Möge Boron meiner Seele gnädig sein, und auch denen der anderen. Doch ich will Euch nun von unseren Schicksal berichten. Auf ganz Dere muß man erfahren, welches Grauen uns widerfahren ist! Mein Name ist Burgol Babek. Ich arbeitete als Schreiber bei der "Nostrischen Kriegsposaune". Das Ziel meiner Reise war Drôl. Von dort wollte ich weiter auf die Zyklopeninseln, um einen Komplott Andergast's gegen unser geliebtes Nostria aufzudecken. Denn, wie uns berichtet wurde, läßt das angeblich neutrale Königreich Zyklopenwaffen für das feige andergastische Söldnerpack schmieden. Doch ist jetzt nicht mehr wichtig, denn der launische Efferd war uns nicht wohl gesonnen.

Am 5. Tag unserer Reise geriet die "Prinzessin von Nostria" in einen schweren Sturm. Die Seeleute arbeiteten hart, um die Kogge vor dem Kentern zu bewahren. Dennoch forderte Efferd seinen Tribut ein - vier der Matrosen wurden über Bord gespüllt. Mögen sie in seinem Reiche Ruhe finden.

Zwei Praiosläufe dauerte der ungleiche Kampf. Endlich beim Einbruch der zweiten Nacht ließ der Sturm nach. Kapitän Torbeson rief uns in seine Kajüte. Wir, daß waren die junge Goldschmiedstochter Armella Güldenblatt und ihre Amme Firona, die eine befreundeten Familie in Drôl besuchen wollten, der Rondrageweihte Ragomil von Havenna, in dessen Haaren sich die ersten grauen Strähnen zeigten, die Offiziere des Schiffes und meine Wenigkeit. Vier gute Männer waren nicht mehr unter uns, zwei weitere schwer verletzt. Die Segeltücher waren zerfetzt und eine Rahe gebrochen. Zu allem Unglück hatte sie den Kompaß zerstört, so daß wir darauf warten mußten, bis die Wolkendecke den Blick auf die Sterne freigab. Bis dahin waren wir orientierungslos. Unsere Situation war bedrückend.

Das Grauen jedoch stand uns noch bevor! Im Fackelschein waren die Seeleute, dabei die "Prinzessin" wieder seetüchtig zu machen. Während wir uns die Ausführungen des Kapitänes anhörten, drang ein unmenschlicher Schrei an unsere Ohren. Im selben Augenblick stürmte ein Matrose durch die Tür. Nie werde ich diese angstgeweiteten Augen vergessen! Noch bevor er etwas sagen konnte, brach er röcheln zusammen. Eine knorrige grünhäutige Hand ragte aus seinem blutigen Brustkorb und zog sich zurück, als der Mann tot zu Boden sank. Die Damen schrieen. Ein Wesen aus den Niederhöllen stand dort in der Tür. Gelbe Schlitzaugen sahen uns aus einer Dämonenfratze an. Die warzenbedeckte grüne Haut häutete sich an einigen Stellen, so daß das dunkle, pulsierende Muskelfleisch sichtbar war. Spitze, fingerlange Reißzähne ragten aus dem Maul.

Plötzlich durchschnitt ein Zweihänder die Luft und vergrub sich tief in der Schulter des Wesens. Quickend wich es zurück. Da stand der Geweihte, die blutigen Waffe in den Händen. Sein Gesicht war zu einer ausdrucklosen Maske erstarrt, und sein Atem ging flach. Bei Rondra, nie zuvor sah ich jemanden, der schneller mit dem Stahl gewesen war! Langsam löste er seinen Waffengurt und warf ihn mir zu. Ein großes, prachtvolles Schwert steckte in der Scheide. Ich war mir sicher, daß ich es nie würde handhaben können. "Der Schreiber bleibt bei den Frauen, die anderen folgen mir," befahl der er. Keiner der Anwesenden wagte einen Widerspruch. "Laßt uns diese Wesen der Nacht zurück in die Niederhöllen schicken," hörte ich seine kraftvolle Stimme sagen und bedächtig fügte er hinzu: "Bei Rondra, wir werden nicht kampflos sterben." "Zu den Waffen, Seeleute," rief der Kapitän und zog sein Entermesser aus dem Gürtel. Dann verliesen sie den Raum ...

Endlose Stunden vergingen. Grauenhafte Laute drangen von draußen herein, Stimmen, die vertraut waren und doch so fremd klangen, daß ich sie kaum zuerkennen vermochte. Mein Blick wanderte zwischen angsterfüllten Damen und der Tür hin und her. Jeden Augenblick konnte sie sich öffnen. Dann mußte ich bereit sein. Meine schweißnassen Hände konnten das Schwert kaum noch halten, immer schwerer schien es zu werden. Wir konnten nichts tun, als warten.

Mit einem Male wurde es ruhig, zu ruhig, wie mir schien. Ich umfaßte das Schwert fest mit beiden Händen. Da wurde die Tür aufgestoßen. Gerade wollte ich nach vorn stürmen, als ich des Geweihten gewahr wurde. Auf Knien schleppte er sich in die Kajüte. Unbeschreibliche Qualen waren in seinem schmerzverzerrten Gesicht erkennbar. Im defusen Licht der Laterne schien es gleich einem Geiste. Zahlreiche blutende Wunden klaften an seinem zerschundenen Körper. Sein Haar und sein Gewand waren blutverkrustet und der Rondrakamm zerbrochen. "Ihr Zwölfe, steht uns bei", hörte ich jemanden sagen.

Die Ammme war zu erst bei ihm. So gut sie vermochte, säuberte sie seine Wunden. Doch selbst jemand, der nichts vom Heilerhandwerk verstand, erkannte, daß die streitbare Rondra ihren Diener in Alveran erwartete. Der Krieger stöhnte bei jeder Berührung. Unsagbare Schmerzen lid er, und wir standen hilflos neben ihm. Seine müden Augen erkannten mich und mit kaum merklichen Geste winkte er mich näher. "Einer ... ist noch draußen," flüsterte er, "der Ring ... !" Seine verkrampften Finger zogen ein Lederband mit einem zierlichen Ring hervor, das um seinen Hals gebunden war. "Er wird euch schützen," hauchte er, dann verlor er das Bewußtsein. Vorsichtig nahm ich ihm das Band ab. Der goldene Ring wurde von einer filigran gearbeiteten Greifenfigur geschmückt. Eine seltsame Aura ging von ihr aus. Sie schien so lebendig, daß ich erwartete, sie könne sich jeden Moment bewegen. Doch weiter kam ich nicht mit meinen Gedanken. Plötzlich schrie die Goldschmiedstochter auf. Und dann sah ich den Grund. - Es stand in der Tür. Langsam faltete es die ledernen Schwingen zusammen, und es kam näher ... ! Schreiend wichen die Frauen in die hinterste Ecke zurück. Ich stand da, das Schwert in den zitternden Händen, unfähig mich zu bewegen. Es kam auf mich zu. Nur kurz hielt es inne, um einen flüchtigen Blick auf den Krieger zu werfen. Wie von Geisterhand verlosch in diesem Augenblick die Laterne, die neben dem Bewußtlosen gestanden hatte. Jetzt war es auch hier drinnen so dunkel, daß ich nur wage die Silhouette des Wesens vor dem geöffneten Fenster zu erkennen vermochte. Der nächtliche Himmel war ein einziges dunkles Grau, an dem sich nicht ein Stern zeigte. Wahrlich kein schöner Ort zum Sterben, ging mir durch den Kopf. Ein grunzendes Geräusch kam von meinem Gegenüber. Nur wenige Schritte trennten uns von einander. Hastig hielt ich ihm den Ring des Geweihten entgegen. Es schien zu zögern. Doch dann traf mich ein so mächtiger Schlag, daß ich quer durch den Raum geworfen wurde. Ich hörte meine Rippen knirschen, als ich an der Wand zu Boden sank. Ein riesiger schwarzer Schatten stand über mir. Ich bemerkte noch den Lichtschimmer, der plötzlich hinter ihm war und den ganzen Raum erfüllte. Auch vernahm ich noch das ängstliches Quicken des Wesens ... .Dann verlor ich das Bewußtsein.

Ein Ruck ging durch das Schiff, als ich endlich erwachte. Ich hörte das Splittern von Holz, und die "Prinzessin" bekam merklich Schlagseite. Wir waren auf Grund gelaufen! Hastig lief ich an Deck. Praios stand hoch am Himmel und blendete mich mit seinem hellen Licht. Nur nach und nach erkannte ich das ganze Ausmaß der nächtlichen Zerstörung. Bis zur Unkenntlichkeit zuerstückelte Leiber lagen auf dem blutroten Deck. Einige waren nackt. Anderen hatte man die Haut vom Leib gezogen. Der Leser möge mir verzeihen, daß ich hier alle Einzelheiten schildere, aber Ihr müßt erfahren, was diese Dämonen uns antaten!

Die kleine Rettungschaluppe fehlte genau so, wie die Goldschmiedstochter und ihre Amme. Sie waren fort. Ohne mich. Ich war allein, ganz allein auf einem gestandeten Geisterschiff ...

Vergebt mir meine schlechte Schrift, werter Leser, aber der Wein (ein wahrhaft edler Tropfen aus dem Bestand des Kapitän) tut seine Wirkung. Verurteilt mich nicht, weil ich nicht klaren Geistes in Alveran einziehe. Mögen die Zwölf mir gnädig sein. Eine letzte Bitte an Euch. Ich vertraue Euch den Ring des Geweihten an. Er muß zum Tempel des Götterfürsten. Erfüllt mir diesen letzten Wunsch. Gehabt Euch wohl, Fremder. Mögen die Zwölf stets über Euch wachen.

Alrik schluckte, als er geendet hatte. Er sah, wie sein Bruder, in Gedanken versunken, den Ring betrachtete. "Ich tue es," sagte Roban unvermittelt. "Was ," fragte Alrik. "Ich bringe den Ring nach Havena, gleich morgen." "Roban, Vater sagt, wir sollen nicht ... ." Er stockte, als er den Blick seines Bruders bemerkte. "Na gut. Aber ich darf mit kommen, ja?" "Na schön, aber laß uns jetzt heimgehen. Vater erwartet uns sicher schon." Dann wandte er sich zum Gehen. "Du, Roban, wie weit ist es bis Havena?"